Urteil des SozG Hamburg vom 18.02.2011

SozG Hamburg: krankheit, krankengeld, arbeitsunfähigkeit, depression, versicherter, leistungsdauer, anfang, anschluss, anspruchsdauer, krankenversicherung

Sozialgericht Hamburg
Urteil vom 18.02.2011 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 48 KR 835/10
1. Der Bescheid der Beklagten vom 13.01.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.02.2010 wird
aufgehoben. 2. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Krankengeld über den 14.02.2009 hinaus bis zum 21.03.2010
unter Berücksichtigung des Ruhens während des Übergangsgeldbezuges vom 24.02.2009 bis 24.03.2009 zu zahlen.
3. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Krankengeld für die Zeit vom 14.2.2009 bis 21.3.2010.
Der 1964 geborene Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert. Er bezog Krankengeld in der Zeit vom 11.10.2006
bis 3.11.2006 aufgrund einer mittelgradigen depressiven Episode sowie in der Zeit vom 5.12.2006 bis 2.9.2007
aufgrund eines Bandscheibenschadens. Im Anschluss daran war der Kläger bis 30.9.2007 arbeitslos, ab 1.10.2007
stand er dann wieder in einer Beschäftigung.
Ab dem 10.6.2008 war der Kläger aufgrund einer leichten Depression erneut arbeitsunfähig und erhielt – nach
Beendigung seines Beschäftigungsverhältnisses durch den Arbeitgeber zum 30.6.2008 - ab 1.7.2008 erneut
Krankengeld von der Beklagten. Am 8. Dezember 2008 wurde bei dem Kläger zusätzlich zu der weiterbestehenden
Depression ein Bandscheibenschaden diagnostiziert.
Mit Bescheid vom 13.1.2009 teilte die Beklagte dem Kläger mit, es seien hinsichtlich seines Krankengeldanspruches
Vorerkrankungszeiten vom 11.10.2006 bis 3.11.2006 und vom 5.12.2006 bis 2.9.2007 zu berücksichtigen;
Krankengeld könne daher längstens bis 14.2.2009 gezahlt werden. Mit Ablauf dieses Tages stellte die Beklagte die
Krankengeldzahlung ein.
Der Widerspruch des Klägers vom 10.2.2009, mit welchem dieser geltend machte, die nun aufgetretene Depression
habe mit den Rückenschmerzen nichts zu tun, sondern habe eine neue Blockfrist ausgelöst, blieb erfolglos
(Widerspruchsbescheid vom 15.2.2010). Der Kläger war wegen der Depression bis einschließlich 21.3.2010
arbeitsunfähig; danach erhielt er Übergangsgeld vom Träger der Rentenversicherung.
Mit seiner am 5.3.2010 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren einer Krankengeldzahlung durch die
Beklagte bis 21.3.2010 weiter. Er wiederholt im Wesentlichen seine Begründung aus dem Widerspruchsverfahren und
ist der Auffassung, die Urteile des Bundessozialgerichts (BSG), auf welche die Beklagte sich beruft, seien auf die
vorliegenden Fallgestaltung nicht anwendbar. Der Kläger beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 13.01.2009 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.02.2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger
Krankengeld über den 14.02.2009 hinaus bis zum 21.03.2010 unter Berücksichtigung des Ruhens während des
Übergangsgeldbezuges vom 24.02.2009 bis 24.03.2009 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie ist der Auffassung, in Anwendung des Urteils des BSG vom 8.11.2005 (B 1 KR 27/04) seien die beiden
Erkrankungen, an denen der Kläger zeitgleich gelitten habe, im Rechtssinne als eine einheitlich zu beurteilende
Krankheit anzusehen. Auf diese seien sowohl die Vorerkrankungszeiten wegen der Depression als auch diejenigen
wegen des Rückenleidens anzurechnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozessakte und der
Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 13.1.2009 ist rechtswidrig und verletzt den
Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf die Zahlung von Krankengeld über den 14.2.2009 hinaus bis
zum 21.3.2010.
Nach § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) erhalten Versicherte
Krankengeld ohne zeitliche Begrenzung, für den Fall der Arbeitsunfähigkeit "wegen derselben Krankheit" jedoch für
längstens 78 Wochen innerhalb von je drei Jahren, gerechnet vom Tage des Beginns der Arbeitsunfähigkeit an. Tritt
während der Arbeitsunfähigkeit eine weitere Krankheit hinzu, wird die Leistungsdauer nach Abs. 1 Satz 2 der
Regelung nicht verlängert. Für Versicherte, die im letzten Dreijahreszeitraum wegen derselben Krankheit für 78
Wochen Krankengeld bezogen haben, besteht gemäß § 48 Abs. 2 SGB V nach Beginn eines neuen
Dreijahreszeitraums ein neuer Anspruch auf Krankengeld "wegen derselben Krankheit" nur dann, wenn sie bei Eintritt
der erneuten Arbeitsunfähigkeit mit Anspruch auf Krankengeld versichert sind (Nr. 1) und in der Zwischenzeit
mindestens sechs Monate nicht wegen dieser Krankheit arbeitsunfähig waren und erwerbstätig waren oder der
Arbeitsvermittlung zur Verfügung standen (Nr. 2).
Vorliegend hat die Beklagte dem Kläger innerhalb der durch die depressive Erkrankung ausgelösten dreijährigen
Blockfrist (vom 11.10.2006 bis zum 10.10.2009) bereits Krankengeld "wegen derselben Krankheit" für die Zeit vom
11.10.2006 bis 3.11.2006 (24 Kalendertage) gezahlt. Nicht anzurechnen ist dagegen innerhalb dieses
Dreijahreszeitraumes die Arbeitsunfähigkeit vom 5.12.2006 bis zum 2.9.2007, die wegen eines
Bandscheibenschadens eintrat. Es handelt sich hierbei entgegen der Auffassung der Beklagten nicht um "dieselbe
Krankheit" im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB V.
Dieselbe Krankheit liegt vor, wenn es sich um ein im ursächlichen Sinne einheitliches Krankheitsgeschehen handelt.
Das ist der Fall, solange die Krankheit nicht ausgeheilt ist und immer wieder zu behandlungsbedürftigen und/oder
Arbeitsunfähigkeit bedingenden Krankheitserscheinungen bzw. Krankheitsbeschwerden führt. Es kommt dagegen
nicht darauf an, ob die Krankheitserscheinungen stets in gleicher Weise und ohne zeitliche Unterbrechung
fortbestehen. Dieselbe Krankheit kann auch dann noch fortbestehen, wenn Arbeitsunfähigkeit und/oder
Behandlungsbedürftigkeit (vorübergehend) entfallen sind, also der ursprüngliche Leistungsfall bereits abgeschlossen
ist. Für die Frage, ob die erneute Arbeitsunfähigkeit auf derselben Krankheit wie die vorangegangene
Arbeitsunfähigkeit beruht, kommt es daher allein auf das Krankheitsgeschehen selbst an (BSG, Urteil vom 12.10.1988
– 3/8 RK 28/87). Erforderlich ist allerdings, dass eine identische Krankheitsursache vorliegt. Dass die gleiche oder
eine gleichartige Krankheit nach ihrer Ausheilung später erneut auftritt (z.B. grippaler Infekt, Angina), reicht dagegen
nicht aus. Hier bestehen keine Zweifel daran, dass die depressive Erkrankung und das Bandscheibenleiden des
Klägers nicht eine identische Krankheitsursache haben. Die Beklagte macht dies auch nicht geltend. Sie ist vielmehr
der Auffassung nach der neueren Rechtsprechung des BSG liege "im Rechtssinne" auch dann dieselbe Krankheit vor,
wenn ein Versicherter zeitgleich an mehreren Krankheiten leide und jede dieser Krankheiten für sich unabhängig von
den anderen Arbeitsunfähigkeit bedinge.
Dieser Auffassung kann so nicht gefolgt werden. Für die Frage, ob ein Anspruch auf Krankengeld verlängert wird,
bedarf es dieser Ausdehnung des Begriffes derselben Krankheit ohnehin nicht, da § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB V
ausdrücklich bestimmt, dass eine hinzugetretene Erkrankung die Anspruchsdauer nicht verlängert. Die Auffassung
der Beklagten führt aber im Gegenteil de facto zu einer Verkürzung des Anspruchs auf Krankengeld durch eine
hinzugetretene Erkrankung, nämlich dann, wenn wie im vorliegenden Fall, aufgrund der nunmehr hinzugetretenen
Erkrankung bereits zuvor innerhalb der Blockfrist für die die Arbeitsunfähigkeit aktuell begründende Erkrankung
Krankengeld gezahlt worden ist. Eine derartige Auslegung verstößt sowohl gegen den eindeutigen Wortlaut als auch
gegen den Sinn und Zweck des Gesetzes. Denn der Gesetzesgrundsatz ist die Gewährung von Krankengeld ohne
zeitliche Begrenzung, vgl. § 48 Abs. 1 Satz 1. Halbsatz, der zweite Halbsatz, also die Beschränkung auf 78 Wochen
innerhalb von je drei Jahren, stellt gewissermaßen schon eine Ausnahme von diesem Grundsatz dar und dient
ausschließlich der finanziellen Entlastung der Krankenkassen bei Dauerleiden, die zutreffender dem Risikobereich der
Rentenversicherung zuzuordnen sind (Meyerhoff in: jurisPK SGB V, § 48 Rn. 9).
Folgte man der Auffassung der Beklagten, so wäre darüber hinaus die Vorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 2 obsolet, da
eine hinzutretende Erkrankung ausnahmslos in jedem Fall mit der bereits bestehenden "dieselbe Krankheit" bilden
würde und sich eine Begrenzung auf eine Leistungsdauer von 78 Wochen bereits aus § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB V
ergeben würde. Schließlich führte die Auffassung der Beklagten zu erheblichen Rechtsunsicherheiten, weil der
Berechtigte stets fürchten müsste, dass eine anderweitige frühere Erkrankung erneut auftritt und den Anspruch durch
die nunmehr vorgenommene Anrechnung früherer Krankengeldbezugszeiten kurzfristig beendet. Sogar eine
rückwirkende Beseitigung des Anspruchs wäre in diesem Fall denkbar.
Dies ist wie dargelegt weder mit dem Gesetzeswortlaut noch mit dem Sinn und Zweck der Regelung vereinbar und
wird nach Auffassung der Kammer auch vom BSG so nicht vertreten. Zwar führt das BSG in der Entscheidung vom
8.11.2005 – B 1 KR 27/04 R – (Juris Rn. 16) aus:
"Ein "Hinzutreten während der Arbeitsunfähigkeit" i.S. von § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB V liegt unter Berücksichtigung von
Wortlaut, Systematik sowie nach Sinn und Zweck der Regelung auch dann vor, wenn zeitgleich mit dem Vorliegen
oder Wiedervorliegen einer zur Arbeitsunfähigkeit führenden ersten Erkrankung unabhängig von dieser Krankheit
zugleich eine weitere Krankheit die Arbeitsunfähigkeit des Versicherten bedingt. Es reicht insoweit aus, dass die
Krankheiten zumindest an einem Tag zeitgleich nebeneinander bestanden haben (so im Ergebnis auch: LSG NRW,
Urteil vom 15. Mai 2001 - L 5 KR 77/00 = EzS 90/258; vgl. ferner z.B.: Schmidt in: H. Peters, Handbuch der
Krankenversicherung Bd. 2, § 48 SGB V Rdnr. 46; Schulz, WzS 1985, 36, 38; Berchtold, Krankengeld, 2004, S 173
Rdnr 622; offen lassend: Just in: Wannagat, SGB V, § 48 Rdnr 9). Das Eingreifen des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB V
erfordert es demgegenüber nicht, dass zwei Krankheiten bei dem Versicherten im Falle bestehender
Arbeitsunfähigkeit in der Weise aufeinander treffen, dass eine zweite Krankheit einer schon zuvor eingetretenen und
fortbestehenden ersten Krankheit zeitlich nachfolgt."
Diese Ausführungen beziehen sich jedoch auf die dem dortigen Urteil zugrunde liegende Fallkonstruktion, dass beide
Erkrankungen am selben Tag auftreten. Dies war hier unstreitig nicht der Fall. Soweit das BSG in derselben
Entscheidung weiter ausführt (Juris Rn. 21):
"Sinn und Zweck des § 48 Abs. 1 SGB V gebieten vor diesem Hintergrund die oben dargestellte Auslegung, wie auch
ein Vergleich seiner Regelungsalternativen zeigt. So kann es für den häufig anzutreffenden Fall, dass ein Versicherter
zeitgleich an mehreren Krankheiten leidet und jede Krankheit für sich unabhängig von den anderen, noch daneben
bestehenden Leiden Arbeitsunfähigkeit bedingt, keinem Zweifel unterliegen, dass die Gesamtheit dieser Leiden trotz
ihrer Verschiedenheit im Einzelnen gleichwohl im Rechtssinne als "eine" einheitlich zu beurteilende Krankheit
anzusehen ist; allein das zeitgleiche Bestehen mehrerer erstmals und dann erneut Arbeitsunfähigkeit bedingender
Krankheiten bewirkt nämlich nicht, dass es sich in einem solchen Fall bei einer Betrachtung im Zeitablauf nicht mehr
um "dieselbe(n)" Krankheit(en) i.S. von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB V handeln würde und stattdessen eine
Leistungserweiterung Platz griffe."
handelt es sich zum einen um ein obiter dictum, welches weder die Entscheidung trägt, noch eine Entscheidungshilfe
für konkrete andere Fallgestaltungen bietet. Zum anderen präzisiert das BSG unmittelbar im Anschluss an die von der
Beklagten für sich in Anspruch genommene Passage, um welche Fälle es sich nach Auffassung des Senats handelt
(Juris a.a.O.):
"Erleidet ein Versicherter etwa bei einem schweren, sich in einem Sekundenbruchteil realisierenden Unfallereignis
zusammenhanglos Gesundheitsschäden in mehreren Körperregionen, sind die Voraussetzungen für die
Leistungsdauer des Krankengeldes daher nicht gesondert anhand jedes einzelnen gesundheitlichen Defizits zu
ermitteln, sondern es kommt auf eine Gesamtwürdigung der Beeinträchtigungen an, sodass es auch hier insgesamt
bei der Anspruchshöchstdauer von 78 Wochen innerhalb einer Blockfrist von drei Jahren verbleibt. Gleiches gilt bei
Versicherten, bei denen wegen des Nebeneinanders verschiedener gravierender akuter oder chronischer Leiden von
Anfang an eine Multi- oder Polymorbidität bzw. Polypathie besteht (vgl. zu dieser Fall-Problematik besonders: Vogl,
Die Leistungen 1982, 289, 293 f.); denn in Bezug auf die Anspruchsdauer des Krankengeldes behandelt das Gesetz
den Versicherten, der von vornherein an mehreren Krankheiten leidet und der deshalb arbeitsunfähig ist, nicht anders
als denjenigen, bei dem "nur" ein einziges Leiden die Arbeitsunfähigkeit auslöst."
Hieraus erhellt, dass "eine Krankheit im Rechtssinne" dann vorliegen soll, wenn ein traumatisches (Unfall-)
Geschehen eine Vielzahl auch medizinisch kaum voneinander zu trennenden und Gesundheitsschäden verursacht
oder wenn derartige vielfältige Gesundheitsschäden ohne äußeres Ereignis akut oder chronisch im Sinne einer
Polymorbidität von Anfang an nebeneinander bestehen. Ein solcher Fall liegt hier unzweifelhaft nicht vor. Bei den
Erkrankungen des Klägers handelt es sich um zwei voneinander unabhängige Grunderkrankungen, die ohne weiteres
medizinisch und zeitlich gegeneinander abgrenzbar sind.
Der Kläger hat danach über den 14.2.2009 hinaus Anspruch auf Krankengeld; zunächst bis zum Ende der Blockfrist
am 10.10.2009. Da der Kläger im Dreijahreszeitraum vom 11.10.2006 bis 10.10.2009 keine 78 Wochen, sondern
lediglich 70 Wochen Krankengeld bezogen hatte (11.10.2006-3.11.2006 = 24 Tage; 10.6.2008-10.10.2009 = 466
Tage), vgl. § 48 Abs. 2 SGB V, steht ihm in der daran anschließenden Blockfrist (11.10.2009-10.10.2012) erneut
Krankengeld für 78 Wochen zu. Dieser Anspruch ist bis einschließlich 21.3.2010 zu erfüllen; seitdem ruht er wegen
des Bezuges von Übergangsgeld, § 49 Abs. 1 Nr. 3 SGB V.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.