Urteil des SozG Hamburg vom 05.11.2009

SozG Hamburg: gleichbehandlung im unrecht, ärztliche behandlung, krankenkasse, adhs, behinderung, liquidation, leistungsbegehren, dienstleistung, ausnahmefall, sachleistung

Sozialgericht Hamburg
Gerichtsbescheid vom 05.11.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 21 KR 1271/08
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Berufung wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin ist pflichtversichertes Mitglied der beklagten Krankenkasse. Sie begehrt die Erstattung der Kosten, die
ihr durch die Behandlung ihres Sohnes R. für eine ADHS-Testung i.H.v. 273,27 EUR entstanden sind.
Für den 1997 geborenen R. stellte die Kinderärztin Dr. B. mit Attest vom 21. März 2008 die Diagnose "ADHS mit
Störung des Sozialverhaltens". Die Ärztin stellte mit Liquidation vom 1. März 2008 einen Betrag i.H.v. 273,27 EUR für
Behandlungen am 30. November 2007 (Projektive Testverfahren analog, Entwicklungs- und Intelligenztest,
Orientierende Testverfahren) und 20. Februar 2008 (Biographische Anamneseerhebung, Psychiatrische Beratung
Bezugspersonen eines Kindes) privatärztlich in Rechnung.
Mit Schreiben vom 31. März 2008 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Kostenübernahme für die Testung
ihres Sohnes auf ADHS i.H.v. 273, 27 EUR. Mit Bescheid vom 7. Juni 2008 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Eine
Kostenerstattung für eine privatärztliche Behandlung sei grundsätzlich nicht möglich, da es sich hierbei um
Leistungen handele, die nicht Bestandteil der vertragsärztlichen Versorgung seien. Hiergegen legte die Klägerin am
15. Juli 2008 Widerspruch ein. Die kostenpflichtige Testung sei gleichzusetzen mit einer festgestellten Behinderung.
Niemand dürfe wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Im Übrigen sei bei einem anderen Patienten die
Liquidation von Dr. B. von der AOK S. übernommen worden. Mit Widerspruchsbescheid vom 8. Oktober 2008 wies die
Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Voraussetzungen für eine Kostenerstattung nach § 13
Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) seien nicht erfüllt.
Hiergegen hat die Klägerin am 10. November 2008 Klage erhoben. Sie, die ein behindertes Kind habe, und als
Empfängerin von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch nicht die Mittel habe, ihrem Kind zu helfen,
werde benachteiligt. Die Testung sei als ärztliche Behandlung nach § 28 SGB V zu sehen und von der Beklagten in
anderen Fällen auch übernommen worden.
Die Klägerin beantragt nach ihrem Vorbringen sinngemäß, den Bescheid vom 7. Juni 2008 in Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 8. Oktober 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten für die ADHS-
Testung ihres Sohnes R. i.H.v. 273,27 EUR zuzüglich Zinsen von 5% über dem Basiszinssatz sowie Mahngebühren
i.H.v. 2 EUR zu erstatten.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie nimmt Bezug auf den Widerspruchsbescheid.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und
die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten, die bei der Ent¬scheidungsfindung vorgelegen hat, Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Über die Klage konnte im Wege des Gerichtsbescheides entschieden werden, da die Sache keine besonderen
Schwierigkeiten aufwies und die Beteiligten zuvor zu dieser Verfahrensweise gehört worden sind, § 105
Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Klage ist unzulässig, da die Klägerin Leistungsansprüche ihres Sohnes aus dessen Familienversicherung im
eigenen Namen geltend macht. Die Ausgestaltung der Familienversicherung als eigene Versicherung des
Familienangehörigen in § 10 SGB V hat zur Folge, dass daraus resultierende Leistungsansprüche nicht mehr, wie
früher unter der Geltung der Reichsversicherungsordnung (vgl. § 179 Abs. 1 Nr. 6, § 205 RVO), dem
Stammversicherten, sondern dem Familienangehörigen selbst zustehen. Nur dieser ist deshalb in der Regel
berechtigt, die betreffenden Ansprüche zu verfolgen und gegebenenfalls gerichtlich durchzusetzen. Zwar hat das
Bundessozialgericht (BSG) dem Stammversicherten in ständiger Rechtsprechung eigene Rechte und damit eine
Klagebefugnis insoweit zugebilligt, als das Bestehen oder Nichtbestehen der Familienversicherung als solches
betroffen ist (Urteile des 12. Senats vom 29. Juni 1993 - BSGE 72, 292, 294 = SozR 3-2500 § 10 Nr. 2 S. 4 und vom
30. August 1994 - SozR 3-2500 § 10 Nr. 6 S. 29). Es hat dies aus der Akzessorietät der Familienversicherung
gefolgert, die bewirke, dass es bei der Entscheidung über die Mitversicherung von Familienangehörigen zugleich um
die Ausgestaltung und den Umfang der Stammversicherung gehe. Ein Recht des Mitglieds, auch einzelne
Leistungsansprüche für seine nach § 10 SGB V versicherten Familienangehörigen geltend zu machen, lässt sich mit
dieser Überlegung indes nicht rechtfertigen. Dem Ziel einer eigenen, das Selbstbestimmungsrecht stärkenden
Sicherung der Familienmitglieder würde es widersprechen, wenn neben dem betroffenen Angehörigen auch der
Stammversicherte über dessen Leistungsansprüche verfügen und etwa im Konfliktfall Leistungen blockieren oder
verzögern könnte (BSG, Urteil vom 16. Juni 1999 – B 1 KR 6/99 R – SozR 3-2500 § 10 Nr. 16). Der streitige
Kostenerstattungsanspruch kann danach nur von dem Sohn der Klägerin selbst bzw. in seinem Namen von der
Klägerin als gesetzliche Vertreterin geltend gemacht werden. Die Klägerin selbst ist nicht klagebefugt. Zwar könnte
der Sohn der Klägerin den Rechtsstreit anstelle seiner Mutter übernehmen, dies ist jedoch – trotz ausdrücklicher
Nachfrage des Gerichts – nicht erfolgt. Auf die Anfrage des Gerichts vom 30. April 2009, ob die Klage als von der
Klägerin als gesetzliche Vertreterin im Namen ihres Sohnes erhoben gelten soll, hat die Klägerin keine entsprechende
Erklärung abgegeben. Die Klage muss damit als unzulässig abgewiesen werden.
Nur der Vollständigkeit halber weist das Gericht darauf hin, dass die Klage auch unbegründet wäre.
Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch kann nur § 13 SGB V sein, denn die ADHS-Testung wurde
bereits durchgeführt und die Klägerin macht nun die Erstattung von entstandenen Kosten geltend. Das klägerische
Begehren kann daher nunmehr allein auf Kostenerstattung gerichtet sein.
Ein Anspruch ergibt sich nicht aus § 13 Abs. 2 Satz 1 SGB V. Nach dieser Vorschrift können Versicherte anstelle der
Sach- oder Dienstleistung Kostenerstattung wählen. Hierüber haben sie ihre Krankenkasse vor Inanspruchnahme der
Leistung in Kenntnis zu setzen (§ 13 Abs. 2 S. 2 SGB V). Die Anwendung dieser Vorschrift scheitert bereits daran,
dass die Klägerin keine Kostenerstattung im Vorwege gegenüber der Beklagten gewählt hat.
Ein Anspruch ergibt sich auch nicht aus § 13 Abs. 3 SGB V. Nach dieser Vorschrift sind dem Versicherten die Kosten
einer selbstbeschafften Leistung in der entstandenen Höhe zu erstatten, wenn die Krankenkasse eine
unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat, soweit
die Leistung notwendig war. Eine unaufschiebbare Behandlung i.S. der 1. Alternative des § 13 SGB V lag nicht vor.
Voraussetzung ist nämlich neben der Unaufschiebbarkeit, dass die Krankenkasse die in Rede stehenden Leistungen
nicht rechtzeitig erbringen konnte. Davon kann im Regelfall nur ausgegangen werden, wenn sie mit dem
Leistungsbegehren konfrontiert war und sich dabei ihr Unvermögen herausgestellt hat. Im Falle der Klägerin waren
diese Voraussetzungen nicht erfüllt. Vor der Durchführung der Behandlung hätte der Beklagten die Prüfung ermöglicht
werden können, ob die Behandlung im Rahmen des vertragsärztlichen Versorgungssystems bereitgestellt werden
konnte und, sofern dies nicht möglich war, wie Abhilfe zu schaffen sei. Die Voraussetzungen der zweiten Alternative
des § 13 Abs. 3 SGB V liegen ersichtlich ebenfalls nicht vor. Die Klägerin hat sich erst nach Durchführung der ADHS-
Testung an die Beklagte gewandt. § 13 Abs. 3 SGB V gewährt einen Erstattungsanspruch für den Ausnahmefall, dass
eine von der Krankenkasse geschuldete notwendige Behandlung infolge eines Mangels im Leistungssystem der
Krankenversicherung als Dienst- oder Sachleistung nicht oder nicht in der gebotenen Zeit zur Verfügung gestellt
werden konnte. Nach Wortlaut und Zweck der Vorschrift muss zwischen dem die Haftung der Krankenkasse
begründenden Umstand (rechtswidrige Ablehnung) und dem Nachteil des Versicherten (Kostenlast) ein
Ursachenzusammenhang bestehen. Daran fehlt es, wenn die Kasse – wie vorliegend – vor Inanspruchnahme der
Behandlung mit dem Leistungsbegehren gar nicht befasst wurde, obwohl dies möglich gewesen wäre (BSG,
Beschluss vom 15. April 1997 – SozR 3-2500 § 13 Nr. 15 S. 74; Urteil vom 25. September 2000 – SozR 3-2500 § 13
Nr. 22 S 105 f.; Urteil vom 19. Februar 2003 – B 1 KR 18/01 R).
Ein Anspruch auf Kostenerstattung folgt auch nicht daraus, dass die AOK S. in einem anderen Fall die
Kostenerstattung für eine ADHS-Testung übernommen hat. Selbst unterstellt in diesem anderen Falle hätte es
ebenfalls an einer vorherigen Antragstellung bei der Krankenkasse gefehlt, kennt die Rechtsordnung keinen Anspruch
auf eine "Gleichbehandlung im Unrecht", d.h. keinen Anspruch auf Beibehaltung einer rechtswidrigen
Verwaltungspraxis mit der Folge, dass bei gleicher Sachlage künftig wieder in gleicher Weise falsch entschieden
werden müsste.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein gesetzlicher Grund, die Berufung zuzulassen, liegt nicht vor (§ 144 Abs. 2 SGG).