Urteil des SozG Hamburg vom 24.08.2006

SozG Hamburg: ablauf der frist, aufenthalt im ausland, freiwillige versicherung, verordnung, anerkennung, rentenanspruch, sicherheit, versicherungsträger, bundesarchiv, ausnahme

Sozialgericht Hamburg
Urteil vom 24.08.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 15 RJ 572/00
Landessozialgericht Hamburg L 6 RJ 119/04
LSG Hamburg L 6 RJ 119/04 S 15 RJ 572/00
Tatbestand:
Im Streit steht die Frage, ab welchem Zeitpunkt die Klägerin zur Entrichtung freiwilliger Beiträge berechtigt ist.
Die Klägerin ist Witwe und Rechtsnachfolgerin des am XX.XXXXXXX 2001 verstorbenen Versicherten M. S ... Dieser
wurde am XX.XXXXXX 1922 in H., Kreis H1 in Rumänien geboren, war dort versicherungspflichtig beschäftigt,
leistete Kriegsdienst in der Waffen-SS, geriet in britische Kriegsgefangenschaft und lebte nachfolgend auf Dauer als
britischer Staatsangehöriger in Großbritannien, wo er britische Versicherungszeiten zurücklegte.
Der Versicherte beantragte am 20. April 1987 beim britischen Rentenversicherungsträger Altersrente aus der dortigen
Rentenversicherung, die ihm antragsgemäß gewährt wurde. Ein ausdrücklicher Antrag auf Anrechnung deutscher
Versicherungszeiten wurde nicht gestellt; ob deutsche Versicherungszeiten angegeben wurden, ist nicht zu ermitteln.
Im Juli 1991 richtete er eine Anfrage an das ´Bundesarchiv` bzw. die ´Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung
der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht`.
Am 19. Juni 1998 beantragte der Versicherte bei der Beklagten Kontenklärung und Rentengewährung, am 1.
Dezember 1998 zudem die ´Zulassung` zur freiwilligen Versicherung zum frühestmöglichen Zeitpunkt, nachfolgend auf
die Zeit ab 1. Januar 1987 konkretisiert.
Am 17. März 1999 wurde ihm von der Bezirksregierung Köln eine Bescheinigung über die Anerkennung als
Heimatvertriebener (Aussiedler) im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 2 des Bundesvertriebenengesetzes
ausgestellt. Mit Bescheid vom 4. Juni 1999 gewährte die Beklagte dem Versicherten daraufhin Regelaltersrente ab
dem 1. Juni 1998.
Mit weiterem Bescheid vom 28. Juni 1999 bestätigte sie seine Berechtigung zur Zahlung freiwilliger Beiträge ab 1.
Januar 1998; der zu einem früheren Zeitpunkt in Großbritannien gestellte Rentenantrag könne nicht als Antrag auf
freiwillige Versicherung angesehen werden, da nach der EWG-VO nur Leistungsanträge gleichgestellt seien. Auch der
mit dem Bundesarchiv geführte Schriftwechsel löse kein Rentenverfahren aus, weil es kein Leistungsträger im Sinne
des Sozialgesetzbuches Erstes Buch – Allgemeiner Teil – sei. Den hiergegen vom Versicherten unter Hinweis auf
einen Vergleichsfall und mit der Begründung erhobenen Widerspruch, er sei aufgrund des britischen Rentenantrags
bereits ab dem 1. Januar 1987 zur freiwilligen Beitragszahlung zuzulassen, wies sie mit Widerspruchsbescheid vom
25. April 2000 zurück. Bei dem Vergleichsfall habe es sich lediglich um eine Einzelfallentscheidung gehandelt.
Im nachfolgenden Klageverfahren hat das Sozialgericht der Klage durch Urteil vom 20. Juli 2004 stattgegeben. Dem in
Großbritannien gestellten Rentenantrag komme dieselbe Rechtswirkung zu wie ein in Deutschland gestellter Antrag,
so dass er die Frist zur Entrichtung freiwilliger Beiträge unterbrochen habe. Dabei sei es nach der Rechtsprechung
des Bundessozialgerichts (BSG) ohne Belang, ob der Versicherte deutsche Versicherungszeiten angegeben habe.
Diese Angabe sei ihm seinerzeit nicht möglich gewesen, da seine rumänischen Beitragszeiten erst mit seiner
Anerkennung als Heimatvertriebener anrechenbar geworden seien.
Hiergegen hat die Beklagte fristgerecht Berufung eingelegt.
Zur Begründung führt sie aus, durch den in Großbritannien gestellten Antrag sei keine Unterbrechungswirkung
eingetreten, da sich Art. 36 Abs. 4 der ´Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die
Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf
Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern`
(EWG-VO 574/72) eindeutig auf Leistungsansprüche beziehe; andernfalls wäre nicht nachzuvollziehen, warum die
dortige Formulierung ´Leistungen, deren Voraussetzungen der Antragsteller erfüllt`, gewählt worden sei. Dem
Versicherten hätten seinerzeit keine Ansprüche zugestanden, da seine rumänischen Beitragszeiten erst nach seiner
Anerkennung als Heimatvertriebener, also fast 12 Jahre danach, anrechenbar geworden seien. Art. 36 Abs. 4 EWG-
VO 574/72 enthalte Bestimmungen verfahrensrechtlicher Art, die zum Zwecke der Verwaltungsvereinfachung erlassen
worden seien, um die Wanderarbeitnehmer, die in verschiedenen Mitgliedsstaaten Ansprüche geltend machen
könnten, von der Verpflichtung zu befreien, beim Träger jedes dieser Staaten einen Antrag zu stellen. Diese Vorschrift
sei auf den Versicherten insbesondere deshalb nicht anwendbar, weil er 1987 noch keine Ansprüche gegen den
deutschen Rentenversicherungsträger habe geltend machen können, da er nur über rumänische und britische
Beitragszeiten verfügt habe. Somit sei es für ihn damals gar nicht in Betracht gekommen, in verschiedenen
Mitgliedstaaten Rentenansprüche geltend zu machen. Die Antragsfiktion solle zudem nach dem Wortlaut der
Vorschrift nur für Rentenansprüche im engeren Sinne gelten, und damit nicht für das Recht, rückwirkend freiwillige
Beiträge zu entrichten. Insbesondere habe mit der Antragstellung im Jahre 1987 die Frist zur Zahlung freiwilliger
Beiträge nicht unterbrochen werden können, da der Versicherte zu diesem Zeitpunkt noch nicht das Recht gehabt
habe, freiwillige Beiträge zu leisten; denn die Verjährung eines Anspruches, der noch nicht entstanden sei, könne
schon denklogisch nicht unterbrochen werden.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 20. Juli 2004 aufzuheben und die Klage gegen
den Bescheid der Beklagten vom 28. Juni 1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25. April 2000
abzuweisen.
Die Klägerin beantragt nach dem Inhalt der Akten und ihrem bisherigen Vorbringen, die Berufung der Beklagten
zurückzuweisen.
Sie hat sich nicht geäußert.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozessakte sowie der Verwaltungsakten der Beklagten
verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin konnte den Rechtsstreit nach dem Tod des Versicherten als dessen Ehefrau fortsetzen. Die statthafte,
form- und fristgerecht eingelegte und auch sonst zulässige (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG) Berufung der
Beklagten ist unbegründet. Das SG hat zu Recht den Bescheid der Beklagten vom 28. Juni 1999 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 25. April 2000 abgeändert und die Beklagte verurteilt, die Klägerin ab Januar 1987 zur
Nachentrichtung freiwilliger Beiträge für den Versicherten zuzulassen.
Nach dem bis zum 31.12.1991 maßgeblichen § 1233 Abs. 1 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO), dem der
seither geltende § 7 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI)
inhaltlich entspricht, kann ein nicht Versicherungspflichtiger für Zeiten nach Vollendung des 16. Lebensjahres
freiwillige Beiträge entrichten. Dieses Recht steht nicht nur Personen mit Wohnsitz im Bundesgebiet sowie Deutschen
mit gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland (vgl. § 1233 Abs. 1 Satz 2 RVO, § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB VI), sondern
aufgrund der Gleichbehandlungsvorschrift des Art. 3 Abs. 1 der ´Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.
Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren
Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern` (EWG-VO 1408/71) auch den in anderen
Mitlgiedsstaaten wohnenden Personen zu.
Nach § 1418 Abs. 1 2. Alt. RVO waren freiwillige Beiträge unwirksam, wenn sie nach Ablauf des Kalenderjahres, für
das sie gelten sollten, entrichtet wurden; nach neuem Recht sind freiwillige Beiträge wirksam, wenn sie bis zum 31.
März des Jahres, das dem Jahr folgt, für das sie gelten sollen, gezahlt werden (§ 197 Abs. 2 SGB VI). Danach käme
eine Nachentrichtung für die Zeit vor dem 1. Januar 1998 grundsätzlich nicht mehr in Betracht.
Jedoch wird der Ablauf der Frist, innerhalb derer Beiträge nachzuentrichten sind, durch die Stellung eines
Rentenantrags unterbrochen. Nach § 1420 Abs. 2 RVO wurden Zeiträume, in denen ein Verfahren über einen
Rentenanspruch schwebte, in die Nachentrichtungsfristen des § 1418 RVO nicht eingerechnet; dem entspricht § 198
Satz 1 SGB VI, der bestimmt, dass die Frist des § 197 Abs. 2 SGB VI durch ein Verfahren über einen
Rentenanspruch unterbrochen wird und dass die Frist erneut nach Abschluss des Verfahrens beginnt.
Diese Unterbrechungswirkung ist zugunsten des Versicherten durch die am 20. April 1987 erfolgte Stellung eines
Rentenantrages beim britischen Rentenversicherungsträger eingetreten. Denn nach Art. 36 Abs. 4 EWG-VO 574/72
hat ein bei einem Träger eines Mitgliedsstaates gestellter Leistungsantrag zur Folge, dass die Leistungen gleichzeitig
nach den Rechtsvorschriften aller beteiligten Mitgliedsstaaten, deren Voraussetzungen der Antragsteller erfüllt,
festgestellt werden; dies gilt jedoch nicht, wenn der Antragsteller gemäß Art. 44 Abs. 2 der Verordnung wünscht, dass
die Feststellung der nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedsstaaten erworbenen
Leistungsansprüche bei Alter aufgeschoben wird.
Damit kommen bei Vorliegen deutscher Rentenversicherungszeiten auch einem in einem anderen Mitgliedstaat
gestellten rechtswirksamen Rentenantrag sämtliche verfahrens- und ggf. materiellrechtlichen Wirkungen eines nach
deutschem Rentenversicherungsrecht gestellten Rentenantrag zu, selbst wenn zur Zeit der Antragstellung noch nicht
alle materiellen Voraussetzungen für die Leistungsgewährung nach den Rechtsvorschriften dieses anderen Staates
erfüllt waren (Schuler in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl. 2005, Art. 44 EWG-VO 1408/71, RdNr. 6 m.w.N.).
Dies gilt auch dann, wenn der Antragsteller in seinem Antrag keine fremdmitgliedstaatlichen Beschäftigungs- bzw.
Versicherungszeiten geltend gemacht bzw. angegeben hat (Schuler a.a.O.), da der Wortlaut der EWG-Verordnung
diese Wirkung nicht an weitere Voraussetzungen knüpft (vgl. hierzu auch BSG vom 12.2.2004, B 13 RJ 58/03 R –
BSGE 92, S. 159 ff., Rn. 6 – und vom 8.12.2005, B 13 RJ 35/05 R – SozR 4-6580 Art. 19 Nr. 2, Rn. 10 – zum
Deutsch-Kanadischen Sozialversicherungsabkommen ( DKSVA)).
Eine Ausnahme besteht nach Art. 36 Abs. 4 EWG-VO 574/72 i.V.m. Art. 44 Abs. 2 Satz 2 EWG-VO 1408/71 nur für
den Fall, dass der Antragsteller ausdrücklich beantragt, die Feststellung fremdmitgliedstaatlicher Leistungsansprüche
aufzuschieben. Dafür, dass der Versicherte seinen Antrag ausdrücklich auf Leistungen aus der britischen
Rentenversicherung beschränkt hat, gibt es jedoch keine Anhaltspunkte.
Dass die Beklagte von diesem Rentenantrag weder zeitnah noch überhaupt Kenntnis erlangte, ist nach der zum
DKSVA ergangenen Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 12.2.2004 a.a.O. – Rn. 8 – und vom 8.12.2005 a.a.O. –
Rn. 15 –), die nach Auffassung des Senats gleichermaßen für die nach EWG-Verordnungen zu beurteilenden
Verfahren Gültigkeit besitzt, ohne Bedeutung, da eine entsprechende Einschränkung den maßgeblichen EWG-
Verordnungen nicht zu entnehmen ist. Damit wird der Antragsteller der Mühe einer doppelten Antragstellung ebenso
entbunden, wie das Risiko einer Fristversäumnis durch verspäteten Eingang in einem anderen Vertragsstaat
ausgeschlossen wird (BSG vom 12.2.2004 a.a.O. – Rn. 8 – und vom 8.12.2005 a.a.O. – Rn. 15 –).
Ohne Bedeutumg ist ferner der Umstand, dass der Versicherte seinerzeit ggf. nicht einmal Kenntnis von einem ihm
gegen die Beklagte zustehenden Leistungsanspruch hatte (vgl. hierzu BSG vom 8.12.2005 a.a.O. – Rn. 12 –).
Die durch die Stellung des Rentenantrags beim britischen Rentenversicherungsträger bewirkte Unterbrechung des
Ablaufs der für die Entrichtung freiwilliger Beiträge zur deutschen Rentenversicherung maßgeblichen Fristen dauert bis
zum rechtskräftigen Abschluss des (deutschen) Rentenverfahrens an (vgl. BSG vom 12.2.2004 a.a.O. – Rn. 16).
Diese Unterbrechungswirkung endete auch nicht sogleich wieder dadurch, dass der Versicherte ggf. keine Angaben zu
rentenrelevanten deutschen Zeiten gemacht hat. Vielmehr durfte die Verwaltung nach dem in § 20 Sozialgesetzbuch –
Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – normierten Untersuchungsgrundsatz ungeachtet
fehlender Unterlagen nicht untätig bleiben (BSG vom 12.2.2004 a.a.O. – Rn. 15). Auch wenn diese Verpflichtung
faktisch nur den britischen Versicherungsträger treffen konnte, darf es dem Versicherten nicht zum Nachteil
gereichen, dass entsprechende Nachfragen unterblieben sind (BSG vom 12.2.2004 a.a.O. – Rn. 15 f. – u).
Die Grundsätze der Verwirkung finden keine Anwendung. Da vom Versicherten weder nach den EWG-Verordnungen
noch nach deutschen Rechtsvorschriften ein weiteres Zutun erwartet wird, kann sein Untätigbleiben bis zur
ausdrücklichen Beantragung der Rente sowie der Zulassung zur Beitragsentrichtung bei der Beklagten nicht als
treuwidrig angesehen werden (BSG vom 8.12.2005 a.a.O. – Rn. 18 –).
Die von der Beklagten erhobenen Einwände überzeugen nicht.
Dass sich Art. 36 Abs. 4 EWG-VO 574/72 nur auf Leistungsansprüche beziehe, die dem Antragsteller zum Zeitpunkt
der Antragstellung auch zugestanden hätten, ist unzutreffend. Die Regelung beinhaltet nicht nur eine Antragsfiktion,
sondern bewirkt, dass Leistungen festgestellt werden müssen. Folgerichtig ist dann, dass es zu einer solchen
Feststellung nur kommt, wenn deren Voraussetzungen erfüllt sind; der Zeitpunkt, zu dem dies der Fall ist, ist hierbei
jedoch ohne Bedeutung.
Ebensowenig ist von Bedeutung, dass der Kläger 1987 deutsche Versicherungszeiten noch gar nicht geltend machen
konnte. Dieser Umstand hätte den deutschen Versicherungsträger nicht davon abgehalten, im Rahmen seiner
Aufklärungs- und Amtsermittlungspflichten tätig zu werden und den Versicherten aufzufordern, sich zu etwaigen
deutschen Versicherungszeiten zu erklären sowie ggf. einen Antrag auf Anerkennung als Heimatvertriebener zu
stellen.
Nach alledem war daher die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.
Der Senat hat die Revision gegen das Urteil zugelassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160
Abs. 2 Nr. 1 SGG).