Urteil des SozG Hamburg vom 30.09.2005

SozG Hamburg: stationäre behandlung, medikamentöse behandlung, medizinische indikation, dokumentation, therapie, persönlichkeitsstörung, aufenthalt, wiederaufnahme, form, kontrolle

Sozialgericht Hamburg
Urteil vom 30.09.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 34 KR 1072/03
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 4126,40 EUR nebst 2 % Zinsen über den Basiszinssatz zu zahlen. 2.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. 3. Der Streitwert wird auf 4126,40 EUR festgesetzt.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Vergütung einer teilstationären Krankenhausbehandlung des Versicherten R. M ...
Der 1962 geborene Versicherte R. M. leidet an einer schweren Angst- und Persönlichkeitsstörung, einer Depression,
Spielsucht und Anpassungsstörung. Darüber hinaus besteht u.a. ein Zustand nach zwei Herzklappenoperationen im
Rahmen einer schweren psychosozialen Belastungssituation.
Der Versicherte befand sich in der Zeit vom 28.06.2002 bis 29.11.2002 in tagesklinischer Behandlung des Klinikums
N. O., deren Träger der Kläger ist. Dabei wurden umfassende therapeutische Maßnahmen in Form von
Einzelgesprächen und der Teilnahme an zahlreichen Therapiegruppen durchgeführt.
Am 22.08.2002 kam es vor einer Bahnfahrt zu einem Gerichtstermin zum psychischen Zusammenbruch des
Versicherten. Daraufhin erfolgte eine stationäre Aufnahme als Maßnahme der Krisenintervention. Am 09.09.2002 zog
sich Herr M. in der Sporttherapie eine Beinverletzung zu, die eine länger andauernde schmerzhafte
Bewegungseinschränkung zur Folge hatte. Eine Fortsetzung der Therapie in der Tagesklinik war deshalb zunächst
nicht möglich und der Versicherte befand sich in der Zeit vom 20.09.2002 bis 30.9.2002 zu Hause. In der
Stellungnahme vom 23.08 2002 über die stationäre Behandlung wird ausgeführt, dass die Wiederaufnahme in der
Tagesklinik fest geplant sei und die weitere Dauer der Behandlung von den noch abzuarbeitenden Therapiezielen
abhänge. Eine ambulante Weiterbehandlung sei nicht möglich.
Am 30.9.2002 wurde der Versicherte wieder in die Tagesklinik aufgenommen und bis zum 29.11 2002 behandelt.
Nach negativen Stellungnahmen des medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) (vom 11.11.2002, 18.12.2002
und 10.2.2003) auf Grund einer Verlängerungsanzeige der Klinik vom 21.10.2002 verweigerte die Beklagte die
Kostenübernahme für die Behandlung in der Tagesklinik für die Zeit vom 22.10.2002 bis 29.11.2002. Nach Auffassung
des MDK und der Beklagten sei schon der Grund für die stationäre Wiederaufnahme nicht ersichtlich. Die Behandlung
hätte auch ambulant durchgeführt werden können und aus den Krankenakten ergäben sich die für die Zeit ab
30.9.2002 lediglich zwei nicht aussagekräftige Eintragungen.
Mit Rechnung vom 04.06. 2003 machte der Kläger für die Behandlung in der Zeit vom 22.10.2002 bis 29.11.2002
einen Gesamtbetrag von 4126,40 EUR geltend.
Der Kläger hat am 25.07.2003 Klage erhoben. Der Versicherte hätte bis zum Abschluss der Behandlung der
Tagesklinik nicht ambulant behandelt werden können. Es sei keine ausreichende Stabilität vorhanden gewesen.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 4126,40 EUR nebst 2% Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem
19.6.2003 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist auf die Stellungnahmen des MDK.
Das Gericht hat die Verwaltungsakte und die Krankenakten des Klinikums N. beigezogen und Beweis erhoben durch
Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens nach Aktenlage. Der Neurologe und Psychiater Dr. B. ist in
seinem Gutachten vom 06.04.2004 zu dem Ergebnis gekommen, dass in Anbetracht der Vielzahl von psychischen
Erkrankungen und deren Schwere die teilstationäre Behandlung für den gesamten Zeitraum notwendig gewesen sei.
Es wird Bezug genommen auf das Sachverständigengutachten vom 06.04.2004, Blatt 22 bis 28 der Prozessakte.
Die Beklagte hat daraufhin vorgetragen, dass ihrer Ansicht nach die Dokumentation nicht ausreichend sei und damit
der Beweis von der Klägerseite nicht geführt werden können.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die Klägerin hat Anspruch auf Vergütung in Höhe von 4126,40 EUR für Behandlungskosten im Rahmen eines
teilstationären Krankenhausaufenthalts des Versicherten. Der mit der Behandlungspflicht korrespondierende
Vergütungsanspruch ergibt sich aus der Pflegesatzvereinbarung für das Jahr 2002, die zwischen den Beteiligten auf
der Grundlage von §§ 17 und 18 Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) i. V. m. der Bundespflegesatzverordnung
vereinbart wurde.
Der Anspruch setzt die medizinische Notwendigkeit einer stationären Behandlung gem. § 39 Abs. 1
Sozialgesetzbuch- fünftes Buch (SGB V) voraus. Diese Notwendigkeit bestand nach Auffassung der Kammer für den
gesamten Behandlungszeitraum, also auch für die Zeit vom 22.10.2002 bis 29.11.2002. Das Gericht schließt sich den
nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Dr. B. an.
Die Darstellungen des Sachverständigen sind plausibel und in sich stimmig. Er hat auf die Vielzahl von schweren
psychischen Erkrankungen, unter denen der Versicherte litt, wie Depression, Angststörungen, Spielsucht und eine
Persönlichkeitsstörung verwiesen. Es handele sich um einen schwer gestörten, mehrfach erkrankten Patienten, der
auch somatisch schwer krank gewesen sei und bei dem zwei belastende Herzklappenoperationen durchgeführt
werden mussten. Im Behandlungszeitraum habe es zusätzlich zahlreiche belastende Umstände wie
Unterhaltszahlungen, Wohnungsprobleme und Gerichtsverhandlungen gegeben. Die Argumentation und das
Behandlungskonzept des behandelnden Arztes seien durchaus schlüssig. Obwohl die Unterlagen des Krankenhauses
im streitgegenständlichen Zeitraum keine wesentlichen Eintragungen enthielten, sei die teilstationäre Behandlung
auch in der Zeit vom 22.10. 2002 bis 29.11.2002 auf Grund der Erkrankungen erforderlich gewesen. Der
Sachverständige hat weiter ausgeführt, dass es sich nicht um eine Wiederaufnahme einer zunächst abgeschlossenen
Behandlung gehandelt habe, sondern um die Fortsetzung der im Juni begonnen teilstationären Behandlung.
Die Einschätzung des Sachverständigen steht im Einklang mit den ärztlichen Berichten über die durchgeführte
Behandlung und den stationären Aufenthalt.
In dem Entlassungsbericht vom 29.11.2002 wird die weitere teilstationäre Behandlung ausdrücklich mit der
Notwendigkeit ständiger ärztlicher Präsenz begründet, die für die Bewältigung der Schwierigkeiten auf der äußeren
Ebene (Gericht und Ämter) des Patienten notwendig gewesen sei. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen,
dass ein solches äußeres Ereignis, nämlich die bevorstehende Gerichtsverhandlung in einem Unterhaltsverfahren am
22.08.2002 trotz schon begonnener teilstationärer Behandlung zu einem psychischen Zusammenbruch und damit zu
einer (voll)stationären Aufnahme des Patienten geführt hat. Die Einschätzung, dass für die Bewältigung derartiger
Ereignisse eine teilstationäre Behandlung mit der Präsenz von medizinischem Fachpersonal erforderlich ist, um nur
wenige Wochen nach diesem Zusammenbruch einen Rückfall und einen erneuten stationären Aufenthalt zu
verhindern, ist plausibel.
Vor diesem Hintergrund ist die Eintragung, dass am 05.11.2002 eine Gerichtsverhandlung im Zusammenhang mit der
Unterhaltsstreitigkeit stattfand von Bedeutung. Gerade wegen eines solchen Verhandlungstermines kam es im August
zum psychischen Zusammenbruch des Patienten. Es bestand also noch im November 2002 die begründete Gefahr,
dass es ohne besondere Betreuung in Form von engmaschiger Kontrolle und einem multiplen Therapieansatz im
Hinblick auf den Gerichtstermin zu einem Rückfall kommen kann. Es ist nachvollziehbar, dass durch die in der Klinik
durchgeführten Therapiemaßnahmen und dem dadurch vorgegebenen Tagesrhythmus eine stabilisierende Wirkung
erzielt werden konnte, die durch eine ambulante Therapie nicht ohne weiteres sichergestellt gewesen wäre. Es
bestand jedenfalls die Gefahr, dass der Patient im Zusammenhang mit einem nachweislich schwer belastenden
Ereignis ohne Kontrolle durch einen engmaschigen und aufeinander abgestimmten Therapieansatz wieder in alte
Strukturen verfällt. Hinzu kommt, dass den Verlaufsberichten des Behandlungsteams nach Einschätzung des
Sachverständigen entnommen werden kann, dass Herr M. immer wieder " Stress " mit äußeren Problemen wie
Rohrbruch in seiner Wohnung, Gerichtsterminen und Unterhaltszahlungen für die Kinder gehabt hätte. Auch hier wird
deutlich, dass derartige äußere Ereignisse den Versicherten leicht negativ beeinflussen konnten.
Der Sachverständige hat den vom behandelnden Arzt gewählten Therapieansatz einschließlich der Behandlungsdauer
für insgesamt schlüssig gehalten. In diesem Zusammenhang ist auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
(BSG) zu verweisen, wonach bei einer schweren psychischen Erkrankung ein komplexer Behandlungsansatz auch
über einen längeren Zeitraum in Form von einem stationären Aufenthalt gerechtfertigt sein kann (BSG vom
16.02.2005- B 1 KR 18/03 R, SozR 4- 2500 § 39 Nr. 4). Wenn nur durch das Zusammenwirken eines
multiprofessionellen Teams aus Diplompsychologen, Sozialpädagogen, Ergotherapeuten und Bewegungstherapeuten
sowie psychiatrischem Krankenpflegepersonal unter fachärztlicher Leitung ein notwendiger komplexer
Behandlungsansatz Erfolg versprechend verwirklicht werden kann, sei eine stationären Behandlung als notwendig
anzusehen (BSG vom 16.02.2005- B 1 KR 18/03 R, SozR 4- 2500 § 39 Nr. 4).
Vorliegend wurden zahlreiche Therapiemaßnahmen im Sinne eines solchen komplexen Behandlungsansatzes
durchgeführt. Laut Entlassungsbericht vom 29.11.2002 fanden folgende therapeutische Maßnahmen statt:
Einzelgespräche, Therapiegruppe, Bezugsgruppe, psychoedukative Gruppe: " Persönlichkeitsstörung ", Tanz-
Bewegungs- Ergo- Kunsttherapie, Männergruppe, Entspannungsübungen, Rhythmus und Stimme, Trommelgruppe,
Sporttherapie, Kochgruppe, sozialtherapeutische Aktivitäten, medikamentöse Behandlung, Visiten und die Teilnahme
an einer ambulanten Therapiegruppe für Spielsüchtige. Bei derartig zahlreichen Therapiemaßnahmen stellt sich die
berechtigte Frage, ob das verfolgte Therapiekonzept durch ambulante Maßnahmen überhaupt hätte ersetzt werden
können und ob eine solche ambulante Therapie überhaupt möglich gewesen wäre. Eine pauschale Verweisung darauf,
dass die Therapie auch jeweils ambulant hätte durchgeführt werden können ist aber nach der Rechtsprechung des
BSG nicht möglich (BSG vom 16.02.2005- B 1 KR 18/03 R, SozR 4- 2500 § 39 Nr. 4).
Es ist unerheblich, dass die Krankenakte nur zwei Eintragungen enthält. Der Sachverständige hat diesen Umstand
berücksichtigt und ist dennoch nachvollziehbar zu dem Ergebnis gelangt, dass die teilstationäre Behandlung auch für
den streitgegenständlichen Zeitraum (22.10.2002 bis 29.11.2002) gerechtfertigt gewesen sei. Der Sachverständige hat
dargelegt, dass die Behandlung auf Grund der Art und Schwere der Erkrankung und insbesondere äußeren Umstände,
mit denen der Patient während des Behandlungszeitraums konfrontiert war, notwendig gewesen ist. Damit konnte der
klagende Krankenhausträger den ihm obliegenden Beweis der Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung führen. Eine
Entscheidung nach der Beweislast ist nicht statthaft.
Erst wenn ein Sachverständiger zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Behandlung möglicherweise medizinisch
begründet wäre, jedoch auf Grund der nicht vorliegenden oder unzureichenden Dokumentation des Krankenhauses
eine konkrete Beurteilung nicht möglich sei, wäre eine Entscheidung nach der Beweislast statthaft. Allerdings erst,
wenn andere verfügbare Beweismittel wie z. B. die Einvernahme des behandelnden Arztes (oder des Versicherten) als
Zeuge oder die Beiziehung weiterer Unterlagen nicht zu der erforderlichen Überzeugungsbildung führen, kann der
Beweis nicht erbracht werden und es ist nach der Beweislast zu entscheiden. Die Prognose, dass ein Beweismittel
möglicherweise nicht den gewünschten Beweis erbringen kann, rechtfertigt dabei nicht, dass die Beweisaufnahme
unterbleibt.
Der Umstand, dass das Krankenhaus der Dokumentationspflicht eventuell nicht in ausreichendem Maße
nachgekommen ist, bedeutet nicht automatisch, dass der Beweis der Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung
nicht mehr erbracht werden kann. Das BSG verweist in der von der Beklagten zitierten Entscheidung ausdrücklich in
diesem Zusammenhang auf die Möglichkeit, ein Sachverständigengutachten einzuholen (BSG vom 17.05.2000- B 3
KR 33/99 R, SozR 3- 2500 § 112 Nr. 1). Der Fall betrifft auch eine andere Fallkonstellation. Das BSG hat ausgeführt,
dass bei unterbliebener oder unzureichender Dokumentation die Beweislast auch bei einer Kostenübernahmeerklärung
der beklagten Krankenkasse wieder auf das Krankenhaus übergeht und keine Beweislastumkehr eintritt. Ohne eine
solche Kostenübernahmeerklärung verbleibt es wie im vorliegenden Fall für den Zeitraum vom 22.10.2002 bis
29.11.2002 bei dem Grundsatz, dass die Beweislast bezüglich der Notwendigkeit der Behandlung dem
Krankenhausträger obliegt. Dass eine unzureichende Dokumentation ohne weiteres zu einem Verlust des Anspruchs
führt ergibt sich aus der Entscheidung gerade nicht und stünde im Übrigen im Widerspruch zu den allgemeinen Regeln
des Amtsermittlungsgrundsatzes. In dem vom BSG entschiedenen Fall erfolgte eine Zurückverweisung an das
Landessozialgericht zur weiteren Sachverhaltsaufklärung bezüglich der Frage, ob die Behandlung aus medizinischen
Gründen geboten gewesen sei. Das wiederum bedeutet, dass eine unzureichende Dokumentation nicht automatisch
zum Verlust des Anspruchs führen kann. Eine Zurückverweisung wäre ansonsten nicht statthaft gewesen.
Im Übrigen kann die Frage, ob die Dokumentation ausreichend ist im Regelfall nur durch Einholung eines
medizinischen Sachverständigengutachtens beurteilt werden. Ein medizinischer Laie vermag keine Aussage zu
treffen, was dokumentiert werden muss und welche Aussagekraft einer Dokumentation zukommt. Die Beklagte stellt
in diesem Zusammenhang auf die Anzahl der Eintragungen ab. Es stellt sich die Frage, wie viele Eintragungen denn
grundsätzlich und im Einzelfall erforderlich sind, um beurteilen zu können, ob ein Krankenhausaufenthalt bzw. die
Dauer eines Krankenhausaufenthaltes medizinisch begründet ist. Eine pauschale Betrachtungsweise ist nicht
möglich. Es ist vielmehr im Einzelfall zu prüfen, welche Aussagekraft die Dokumentation hat und ob zumindest im
Zusammenhang mit weiteren Erkenntnisquellen die medizinische Indikation beurteilt werden kann.
Der geltend gemachte Zinsanspruch ergibt sich aus § 5 Pflegesatzvereinbarung für das Jahr 2002. Versehentlich
wurde der Beginn der Verzinsung im Tenor nicht aufgeführt. Es handelt sich um eine Auslassung im Sinne von § 319
Zivilprozessordnung. Der Klage sollte in vollem Umfang stattgegeben werden und Zinsen wie in der Klageschrift und in
der mündlichen Verhandlung beantragt ab 19.06.2003 zugesprochen werden. Von einer Berichtigung sieht das Gericht
zunächst ab. Der Bevollmächtigte der Beklagten hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass die Beklagte notfalls
eine Entscheidung durch das BSG herbeiführen wolle. Die Sprungrevision wurde nicht zugelassen, so dass zunächst
ein Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht durchzuführen ist. Es handelt sich um eine weitere
Tatsacheninstanz und eine Korrektur kann ohne weiteres innerhalb dieses Verfahrens vorgenommen werden.
Ansonsten kann ein Berichtungsantrag beim erkennenden Gericht gestellt werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 197 SGG i.V.m. § 154 Verwaltungsgerichtsordnung. Der Streitwert ergibt sich aus
§ 52 GVG.