Urteil des SozG Gießen vom 20.08.2009

SozG Gießen: erwerbsfähigkeit, diabetes mellitus, arbeitsmarkt, minderung, gefährdung, leistungsfähigkeit, firma, beruf, rehabilitation, monteur

Sozialgericht Gießen
Gerichtsbescheid vom 20.08.2009 (rechtskräftig)
Sozialgericht Gießen S 2 R 1026/07
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Bewilligung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben.
Am 03.05.2007 beantragte der 1957 geborene Kläger bei der Agentur für Arbeit GC. die Gewährung von Leistungen
zur Teilhabe am Arbeitsleben. Nach eigenen Angaben hat er eine Lehre als Gerüstbau-Obermonteur abgeschlossen
und war bis ca. 2001 als Gerüstbau-Montageleiter tätig. Seit 14.12.2006 sei er arbeitslos gemeldet. Er führte aus, er
habe zurzeit keinen Führerschein und könne somit seine Tätigkeit als Montageleiter nicht mehr ausüben. Als Monteur
könne er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr tätig sein. Mit einem Führerschein könne er seinen Beruf als
Montageleiter noch etliche Jahre ausüben. Seinem Antrag beigefügt war eine ärztliche Stellungnahme des Dr. R. vom
19.03.2007, wonach der Kläger an rezidivierenden Beschwerden im LWS- und Thorakalbereich mit häufigen
Funktionsstörungen leidet. Schwere körperliche Belastungen als Gerüstbauer sollten vermieden werden, um
dauerhafte Schäden auszuschließen. Leichte bis mittelschwere Tätigkeiten vollschichtig seien weiterhin ausführbar.
Nach einem Gutachten der Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit GC. nach Aktenlage vom 12.03.2007 besteht
beim Kläger ein Zustand nach Tuberkulose, Diabetes mellitus, Alkoholkrankheit mit Abstinenz seit 4 Jahren und eine
Leberzirrhose. Der Kläger könne noch vollschichtig leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten ohne körperliche
Extrembelastungen und ohne Alkoholzugang ausüben. Der Antrag wurde an die Deutsche Rentenversicherung Hessen
weitergeleitet.
Nach Ermittlungen der Beklagten war der Kläger bis 1992 als Gerüstbau-Monteur tätig. Seitdem ist er arbeitslos,
unterbrochen lediglich von einer kurzzeitigen Beschäftigung bei einer Firma für Gerüstbau im Jahr 1997.
Zwischenzeitlich nahm er im Jahr 2000 nach eigenen Angaben an einer Qualifizierung zum Montageleiter im
Gerüstbau teil.
Durch Bescheid vom 4.06.2007 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Gewährung von Leistungen zur
Teilhabe am Arbeitsleben ab. Seine Erwerbsfähigkeit sei nicht erheblich gefährdet oder gemindert, weil er in der Lage
sei, eine zumutbare Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt weiterhin auszuüben.
Der Widerspruch des Klägers gegen diesen Bescheid wurde durch Widerspruchsbescheid vom 6.12.2007
zurückgewiesen. Die Voraussetzungen von § 10 SGB VI lägen nicht vor. § 10 SGB VI setzte eine erhebliche
Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit des Versicherten voraus. Eine erhebliche Gefährdung der
Erwerbsfähigkeit liege vor, wenn durch die gesundheitlichen Beeinträchtigungen und die damit verbundenen
Funktionseinschränkungen innerhalb von drei Jahren mit einer Minderung der Leistungsfähigkeit zu rechnen sei. Eine
Minderung der Erwerbsfähigkeit sei eine infolge gesundheitlicher Beeinträchtigungen eingetretene erhebliche und
länger andauernde Einschränkung der Leistungsfähigkeit, wodurch der Versicherte seine bisherige oder zuletzt
ausgeübte Tätigkeit nicht mehr oder nicht mehr ohne wesentliche Einschränkungen ausüben könne. Nach einem Urteil
des Bundessozialgerichts vom 31.01.1980 (11 RA 8/79) sei mit der bei der Beurteilung von Leistungen zur Teilhabe
am Arbeitsleben zu berücksichtigenden bisherigen Tätigkeit nicht nur die letzte Tätigkeit gemeint, sondern die
beruflichen Tätigkeiten in den letzten Jahren, wenn auch nicht aus allzu lang zurückliegender Zeit. Im Hinblick darauf,
dass der Kläger zuletzt im Jahr 1992 regelmäßig einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen sei und
seitdem überwiegend arbeitslos gewesen sei, könne als bisherige Tätigkeit kein konkreter Beruf genannt werden. Die
erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit könne deshalb nicht anhand eines konkreten Berufsbildes, sondern nur
anhand der Kriterien des allgemeinen Arbeitsmarktes geprüft werden. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gebe es eine
Vielzahl von ungelernten und angelernten Arbeiten, die mit nur leichten körperlichen Anforderungen verbunden seien
und auch von Versicherten, deren Leistungsfähigkeit beeinträchtigt sei, verrichtet werden könnten.
Am 19.12.2007 hat der Kläger Klage erhoben und vorgetragen, er wolle die Kosten für einen Führerschein finanziert
bekommen, um eine Tätigkeit als Kurierfahrer oder LKW-Fahrer aufnehmen zu können.
Der Kläger hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt, den Bescheid vom 4.06.2007 in Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 6.12.2007 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Kosten für den Erwerb eines
Führerschein als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben zu übernehmen.
Die Beklagte hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Beklagte meint, das Urteil des BSG vom 31.01.1980 (11 RA 8/79) sei so auszulegen, dass als "berufliche
Tätigkeiten in den letzten Jahren" die letzten zehn Jahre ab Antragstellung auf Leistungen zur Teilhabe am
Arbeitsleben anzusehen seien. In diesem Zeitraum habe der Kläger lediglich im Jahr 1997 eine
rentenversicherungspflichtige Tätigkeit bei einer Firma für Gerüstbau für die Dauer von ca. 2 ½ Monaten ausgeübt und
im Jahr 2000 nach eigenen Angaben an einer Qualifizierung zum Montageleiter im Gerüstbau teilgenommen. Die
Tätigkeit des Klägers im Gerüstbau könne daher nicht als "bisherige Tätigkeit" angesehen werden. Es sei vielmehr im
Falle des Klägers nicht möglich, eine konkrete "bisherige Tätigkeit" zu benennen, anhand der eine erhebliche
Gefährdung oder Minderung der Erwerbstätigkeit gemessen werden könnte. Abzustellen sei insofern auf den
allgemeinen Arbeitsmarkt.
Hinsichtlich des Sach- und Streitstand im Übrigen wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte, die auch Gegenstand
des Erörterungstermins am 13.10.2008 waren, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene Klage ist unbegründet. Der angegriffene Bescheid vom 4.06.2007 in
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6.12.2007 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch gegen die
Beklagte auf Übernahme der Kosten für einen Führerschein als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben.
Der Rentenversicherungsträger erbringt nach § 9 Abs. 2 SGB VI als Ermessensleistungen Leistungen zur Teilhabe
am Arbeitsleben nach §§ 9 Abs. 1, 16 SGB VI, §§ 33 ff. SGB IX, wenn die hierfür erforderlichen persönlichen und
versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nach §§ 10, 11 SGB VI erfüllt sind.
Im Falle des Klägers liegen die persönlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Leistungen zur Teilhabe am
Arbeitsleben nach § 10 SGB VI nicht vor.
Die persönlichen Voraussetzungen nach § 10 Abs. 1 SGB VI erfüllen Versicherte, 1. deren Erwerbsfähigkeit wegen
Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist und 2. bei
denen voraussichtlich a) bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit durch
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben abgewendet werden kann, b) bei
geminderter Erwerbsfähigkeit diese durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am
Arbeitsleben wesentlich gebessert oder wiederhergestellt oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung
abgewendet werden kann, c) bei teilweiser Erwerbsminderung ohne Aussicht auf eine wesentliche Besserung der
Erwerbsfähigkeit der Arbeitsplatz durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten werden kann.
Die Erwerbsfähigkeit des Klägers ist nicht wegen Krankheit erheblich gefährdet oder gemindert nach § 10 Abs. 1 Nr. 1
SGB VI. Erwerbsfähigkeit ist die Fähigkeit zur möglichst dauernden Ausübung der bisherigen beruflichen Tätigkeit in
normalem Umfang. Bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit ist auf die bisherige Tätigkeit abzustellen. "Bisherige
Tätigkeit" ist grundsätzlich der zuletzt ausgeübte Beruf. Es sind aber auch berufliche Tätigkeiten der letzten Jahre,
wenn auch nicht aus allzu lange zurückliegender Zeit, einzubeziehen (BSG, Urteil vom 31.01.1980, 11 RA 8/79,
BSGE 49, 263 ff.; vgl. auch Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 60. Ergänzungslieferung 2009, § 10
SGB VI, Rz. 3). Die Kammer hält die Auffassung der Beklagten, dass die letzten zehn Jahre vor der Antragstellung
für Leistungen zur Teilhabe als "nicht allzu lang zurückliegend" anzusehen sind, für zutreffend. In den letzten 10
Jahren vor dem 3.05.2007 war der Kläger ganz überwiegend arbeitslos, unterbrochen lediglich von einer
zweieinhalbmonatigen versicherungspflichtigen Beschäftigung bei einer Firma für Gerüstbau im Jahr 1997. Bei einer
derart kurzen Phase der versicherungspflichtigen Beschäftigung und überwiegender Arbeitslosigkeit in den letzten 10
Jahren vor Antragstellung ist Bezugspunkt der Prüfung der Erwerbsfähigkeit nach Auffassung der Kammer der
allgemeine Arbeitsmarkt (vgl. Gemeinschaftskommentar zum SGB VI ("GK-SGB VI"), § 10 Rz. 26).
In Bezug auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ist die Erwerbsfähigkeit des Klägers jedoch nicht gefährdet oder
gemindert. Die Erwerbsfähigkeit ist erheblich gefährdet, wenn nach ärztlicher Feststellung durch die gesundheitlichen
Beeinträchtigungen des Klägers und die damit verbundenen Funktionseinschränkungen in absehbarer Zeit mit einer
Minderung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu rechnen ist. Mit einer
Minderung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben in diesem Sinne ist zu rechnen, wenn es überwiegend
wahrscheinlich ist, dass eine vollständige oder zumindest eine teilweise Einschränkung der beruflichen Tätigkeit
eintreten wird. Als absehbare Zeit gilt eine Zeit von drei Jahren (vgl. GK-SGB VI, § 10 Rz. 36-38). Gemindert ist die
Erwerbsfähigkeit, wenn die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben infolge gesundheitlicher Beeinträchtigungen nicht
unwesentlich und länger dauernd eingeschränkt ist (vgl. GK-SGB VI, § 10 Rz. 59).
Nach der ärztlichen Bescheinigung des Dr. R. vom 19.03.2007 leidet der Kläger an rezidivierenden Beschwerden im
LWS- und Thorakalbereich mit häufigen Funktionsstörungen. Leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten auf
dem allgemeinen Arbeitsmarkt sind ihm jedoch sowohl nach dieser ärztlichen Bescheinigung als auch nach dem
Gutachten der Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit GC. nach Aktenlage vom 12.03.2007 weiterhin
vollschichtig möglich. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt stehen dem Kläger bei diesem Leistungsbild eine Vielzahl
von ungelernten Tätigkeiten offen. Eine erhebliche Gefährdung seiner Erwerbsfähigkeit ist demnach abzulehnen (vgl.
auch Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 16.12.2003, L 2 RJ 600/03).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 105 Abs. 1 S. 3 i.V.m. § 193 SGG, die Zulässigkeit der Berufung auf § 105 Abs.
2 S. 1 SGG, §§ 143, 144 SGG.