Urteil des SozG Gelsenkirchen vom 10.06.2008

SozG Gelsenkirchen: verfassungskonforme auslegung, hauptsache, beschränkung, trennung, notlage, wahrscheinlichkeit, besuch, entstehungsgeschichte, wochenende, bedürfnis

Sozialgericht Gelsenkirchen, S 8 SO 57/08 ER
Datum:
10.06.2008
Gericht:
Sozialgericht Gelsenkirchen
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
S 8 SO 57/08 ER
Sachgebiet:
Sozialhilfe
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung
aufgegeben, der Antragstellerin 138,00 EUR vorläufig zu zahlen, fällig
sofort und auszuzahlen an die Mutter der Antragstellerin Die
Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.
Gründe:
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Der sinngemäß am 21.05.2008 gestellte Antrag der Antragstellerin,
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die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr zur
Wahrnahme von Umgangswochenenden mit ihrer leiblichen Mutter, wohnhaft in A, die
Fahrkosten in Höhe von 14-tägig 69,00 EUR zu zahlen,
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hat im tenorierten Umfange Erfolg.
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Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der
Hauptsache eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in
Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn die Regelung zur Abwehr
wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies ist nur dann der Fall, wenn dem
Antragsteller gegen den Antragsgegner ein Anspruch (sogenannter
Anordnungsanspruch) zusteht, dessen vorläufige Durchsetzung dringlich ist
(sogenannter Anordnungsgrund). Die vorläufige Befriedigung des Anspruchs
anzuordnen, kommt dabei aber nur in Betracht, wenn dem Antragsteller sonst
unzumutbare Nachteile entstünden (Ausnahme vom Verbot der Vorwegnahme der
Hauptsache). Dies ist im Rahmen einer summarischen Prüfung zu ermitteln (LSG NRW,
Beschluss vom 21.04.2005, Aktenzeichen L 9 B 6/05 SO ER). Anordnungsanspruch und
-grund sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920
Abs. 2 ZPO). Die Glaubhaftmachung bezieht sich auf die eingeschränkte gerichtliche
Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde
Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des
Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren (LSG NRW, Beschluss vom 01.08.2005, Aktenzeichen L 12 B
14/05 AS ER). Erforderlich ist der Nachweis der überwiegenden Wahrscheinlichkeit;
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trotz der Möglichkeit des Gegenteils dürfen Zweifel nicht überwiegen
(Krasney/Udsching, Handbuch des Sozialgerichtlichen Verfahrens, 3. Auflage, III.
Kapitel, Randnummer 157).
Diese Voraussetzungen liegen im tenorierten Umfange vor.
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Bezüglich Zeiträumen vor Eilantragstellung bei Gericht am 21.05.2008 fehlt es an einem
Anordnungsgrund. Ein Anordnungsgrund ist insoweit schon aus grundsätzlichen
Erwägungen abzulehnen. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung dient einzig der
Beseitigung einer gegenwärtigen Notlage, insbesondere, wenn irreparable Nachteile
drohen. Gegenwärtig ist grundsätzlich nur die Zeit ab Antragstellung bei Gericht.
Insofern soll es nicht zu Lasten von Antragstellern gehen, wenn nicht unverzüglich eine
Entscheidung durch das Gericht herbeigeführt wird. Dies ist Ausfluss der Garantie
effektiven Rechtsschutzes, Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz. Die Zeit vor der
Antragstellung bei Gericht aber ist im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts nicht
mehr gegenwärtig, die damalige Notlage - unter welchen Einschränkungen auch immer
- überwunden.
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Für die Zeit ab Eilantragstellung besteht im tenorierten Umfange hingegen ein
Anordnungsgrund. Bei summarischer Prüfung droht die Ausübung eines 14-tägig
geplanten Umgangsrechts ohne vorläufig zusprechende Entscheidung des Gerichts zu
scheitern. Es ist nachvollziehbar, dass die Mutter der Antragstellerin den
zugesprochenen Betrag nicht wird monatlich aus ihrer Regelleistung zuschießen
können. Ebenso ist bei summarischer Prüfung glaubhaft, dass private Darlehensgeber
die Wahrnehmung des Umgangsrechts weder dauerhaft noch vollumfänglich
vorfinanzieren werden. Hierfür spricht, dass die Mutter der Antragstellerin ihr
Umgangsrecht seit ihrem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung im November 2007
nur viermal wahrgenommen hat. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass es ihr finanziell
häufiger möglich gewesen wäre, sie aber keine häufigere Wahrnehmung wünschte, sind
nicht ersichtlich.
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Auch ein Anordnungsanspruch ist nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren
gebotenen Prüfung gegeben. Als Anspruchsgrundlage zieht das Gericht § 73 SGB XII in
verfassungskonformer Auslegung heran. Diese Vorschrift sieht vor, dass Leistungen
auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden können, wenn sie den Einsatz
öffentlicher Mittel rechtfertigen. Eine sonstige Lebenslage in Abgrenzung zu den übrigen
durch das SGB XII geregelten Lebenslagen - Auffangvorschrift - sieht das Gericht bei
summarischer Prüfung in dem Bedürfnis nach Wahrnehmung des Umgangsrechts
gegeben (Bundessozialgericht, Urteil vom 07.11.2006, Az.: B 7 B AS 14/06 R; LSG
NRW, Beschluss vom 10.05.2007, Az.: L 20 B 24/07 SO ER). Dies erfolgt allein in
verfassungskonformer Auslegung der Norm. Bei summarischer Prüfung spricht zwar
alles dafür, dass § 73 SGB XII nach seinem noch aus Zeiten der Geltung des BSHG
vorherrschenden Verständnis (§ 27 Abs. 2 Satz 1 BSHG als Hilfe in besonderen
Lebenslagen) bzw. der damaligen Zuordnung der Kosten des Umgangsrechts
(abweichender Regelsatz nach § 22 Abs. 1 Satz 2 BSHG bzw. auch heute noch für SGB
XII-Leistungsbezieher § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII) ursprünglich nicht für die
Finanzierung der Kosten des Umgangsrechts gedacht ist. Doch verkennt die Beklagte,
dass Artikel 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Grundgesetz eine verfassungskonforme Auslegung
entweder der Vorschriften des SGB XII in Bezug auch auf Leistungsbezieher des SGB II
oder aber direkt des SGB II erfordert, selbst wenn bei restriktiver Auslegung keine Norm
einschlägig ist. Letzteres - verfassungskonforme Auslegung innerhalb des SGB II - hat
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das Bundessozialgericht (a.a.O.) abgelehnt. Eine verfassungskonforme Auslegung
wegen Unzulänglichkeiten des SGB II kann auch zu Lasten des Sozialhilfeträgers
erfolgen. Denn eine isolierte Betrachtung der fehlenden Regelung im SGB II als
verfassungswidrig ist nicht möglich. Das insoweit einzig verwerfungsberechtigte
Bundesverfassungsgericht hätte das Gesamtleistungssystem aus SGB II und SGB XII
diesbezüglich zu prüfen. Eine Vorlage an selbiges könnte nur erfolgen, wenn im
Gesamtleistungssystem aus SGB II und SGB XII selbst mittels verfassungskonformer
Auslegung keine Möglichkeit der Übernahme der Kosten des Umgangsrechts von SGB
II-Beziehern mit ihren Kindern bestünde. Dies ist bei summarischer Prüfung nicht der
Fall. Der Wortlaut des § 73 SGB XII lässt noch eine verfassungskonforme Auslegung zu,
auch wenn Systematik (nach wie vor vorhandener, nur hier nach § 21 SGB XII
ausgeschlossener, § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII) und Entstehungsgeschichte (frühere
Trennung in Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe in besonderen Lebenslagen) dagegen
sprechen.
Insofern kann dahinstehen, ob bei Konstruktion einer anderen Anspruchsgrundlage (im
SGB II) die Antragsgegnerin nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB I zur vorläufigen
Leistungserbringung verpflichtet - insbesondere zuerst angegangener Leistungsträger
im Sinne der Norm - wäre.
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Bei summarischer Prüfung besteht ein Anordnungsanspruch in Höhe der Kosten für
eine Besuchsfahrt der Antragstellerin in A alle 2 Wochen (Hin- und Rückfahrt) zu 69,00
EUR (mitgeteilter Bahnfahrpreis). Ohne gegenteilige Äußerungen von Medizinern,
Jugendämtern oder dem Kindesvater sieht das Gericht keinen Anlasse anzunehmen,
die Mutter der Antragstellerin habe nicht im Blick, ob ihre Tochter körperlich der relativ
langen Zugfahrt gewachsen ist. Ebenso hat das Gericht keine konkreten Anhaltspunkte
dafür, dass der Mutter der Antragstellerin, entgegen ihrer Darstellung, in Gelsenkirchen
geeignete Räumlichkeiten zur Verfügung stehen, um Wochenenden mit ihren Kindern
zu verbringen. Es kann dahinstehen, ob dauerhaft und bei jedem Lebensalter eine 14-
tägige Finanzierung des Umgangsrechts aus Sozialhilfemitteln über eine Entfernung
von mehr als 400 km beansprucht werden kann. Ebenso kann dahinstehen, ob bei
bloßem Umgangsrecht in bestimmten Konstellationen nicht ggf. nur die Anreise des
Elternteiles und evtl. Anmietung eines Pensionszimmers für die Wahrnehmung des
Umgangsrechts tagsüber genügen kann. Denn vorliegend sind die Antragstellerin und
ihr mitreisender Bruder mit 8 bzw. 4 Jahren besonders jung und nach allgemeiner
Lebenserfahrung besonders auf ihre Mutter angewiesen. Die Trennung liegt
vergleichsweise kurz zurück, die Mutter ist gemeinsam sorge- und nicht bloß
umgangsberechtigt und es besteht noch Streit um das Aufenthaltsbestimmungsrecht,
d.h. den Verbleib der Antragstellerin und ihres Bruders.
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Bezüglich des Umfangs des Erlasses einer einstweiligen Anordnung ist dem Gericht
Ermessen eingeräumt.
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Das Gericht regelt nur den Zeitraum bis zum Ende des Monats der Entscheidung des
Gerichts, d.h. bis 30.06.2008. Allerdings geht das Gericht davon aus, dass die
Antragsgegnerin bis zum Abschluss eines Hauptsacheverfahrens und bei
unveränderten Verhältnissen monatlich 138,00 EUR vorläufig leisten wird.
Unveränderte Verhältnisse dürften vorliegen, solange weder neue Erkenntnisse zur
physischen Belastung der Antragstellerin durch Bahnfahrten vorliegen, noch das
Verfahren betreffend das Aufenthaltsbestimmungsrecht abgeschlossen ist. Es dürfte
jedoch zumutbar sein, wenn die Antragsgegnerin vor Zahlungen für den Juli 2008
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Nachweise fordert, dass im Juni 2008 tatsächlich die finanzierten Bahnfahrten erfolgten.
Eine Beschränkung auf den 30.06.08 war insbesondere auch deshalb geboten, da noch
keine Klage der Antragstellerin gegen den Bescheid vom 10.04.2008 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 16.05.2008 vorliegt. Spätestens mit Ablauf des
19.06.2008 dürfte Bestandskraft der Ablehnung drohen.
Hinsichtlich der Höhe der erlassenen einstweiligen Anordnung geht das Gericht davon
aus, dass jedenfalls für den Juni 2008 eine Beschränkung auf zwei
Besuchswochenenden hinnehmbar ist. Erfolgte der avisierte Besuch am "verlängerten"
Wochenende vom 22.05.08 bis 25.05.08, hat die Antragstellerin zum einen ihre Mutter
gerade vier Tage "am Stück" gesehen und zum anderen sind dann turnusmäßig im Juni
2008 nur die Wochenenden vom 06.06.08 bis 08.06.08 sowie vom 20.06.08 bis
22.06.08 Besuchswochenenden. Zudem erscheint, um eine faktische Vorwegnahme der
Hauptsache auf das Unerlässliche zu reduzieren, eine vorläufige Beschränkung auf
bloß zwei Besuchswochenenden pro Monat derzeit hinnehmbar zu sein (14-tägig
ergäbe durchschnittlich rund 2,2 Besuchswochenenden pro Monat). Es handelt sich um
keine echte Vorwegnahme der Hauptsache, da Geldflüsse theoretisch stets
rückabgewickelt werden können. Faktisch sind aufgrund der finanziellen Verhältnisse
der Antragstellerin und ihrer Mutter vorläufig ausgeschüttete Beträge jedoch schwerlich
zurückzuerlangen. Ein gesonderter vorläufiger Zuspruch für die Wahrnehmung des
Umgangsrechts vom 22.05.08 bis 25.05.08 konnte unterbleiben. Falls dieser Besuch
durchgeführt wurde, konnten die entsprechenden Mittel rein tatsächlich noch aus
anderen Quellen als der Regelleistung der Mutter der Antragstellerin für Juni 2008
vorfinanziert werden. Die weitere Wahrnehmung des Umgangsrechts ist nicht von einer
vorläufigen diesbezüglichen Kostenübernahme abhängig. Eine Verzögerung der
Entscheidung nur um die den Mai 2008 betreffenden Umstände aufzuklären, liegt
zudem nicht im Interesse der Antragstellerin.
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Die Kostenentscheidung beruht auf analoger Anwendung der §§ 183, 193 Abs. 1 SGG.
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