Urteil des SozG Fulda vom 15.05.2008

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Sozialgericht Fulda
Urteil vom 15.05.2008 (rechtskräftig)
Sozialgericht Fulda S 4 KR 572/06
Der Bescheid vom 05.05.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 04.07.2006 wird aufgehoben. Die
Beklagte wird verurteilt, der Klägerin einen Daisy Player zur Verfügung zu stellen.
Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Die Berufung wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten sich um die Frage, ob die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin einen Daisy-Player zur
Verfügung zu stellen.
Bei DAISY "Digital Accessible Information System" handelt es sich um einen relativ neuen technischen Standard für
digitale Medien. Hörbücher für Blinde werden inzwischen international nicht mehr über Audiokassette, sondern als
DAISY-CD vertrieben. Bis Ende 2009 sollen die Daisy-CDs die Audiokassetten vollständig abgelöst haben. Neben
Hörbüchern mit Belletristik und klassischer Literatur u.a. sind auch Sachbücher, Lexika, Zeitschriften und
Informationen der unterschiedlichen Verbände in diesem Format verfügbar. Das System bietet den u.a. Vorteil, dass
mehrere Stunden gesprochener Text auf ein einziges Medium, eine CD, gespeichert werden kann. Der Hörer kann im
Text von Überschrift zu Überschrift springen, sowie Seiten-, absatz- und satzweise navigieren. Um diese Vorzüge
nutzen zu können, braucht man den Daisy-Player. Das reine Hören ist auch mit DVD- und CD-MP3-Playern möglich.
Navigationsmöglichkeiten bieten derartige Geräte jedoch nicht, darüber hinaus ist das Abspielen fehleranfälliger. Das
Format kann auch über den PC mit einem Windows Betriebssystem und einer speziellen Daisy-Player-Software oder
mit Standardsoftware für MP3-Dateien abgespielt werden, je nach Software und Eigenschaften entstehen hierfür ggf.
keine Kosten.
Im April 2006 beantragte die Klägerin bei der Beklagten einen Daisy-Player. Sie ist hochgradig sehbehindert und hat
eine Fernsehbrille, eine Leuchtlupe, ein Fernrohr und ein Bildschirmlesegerät (Videomatic MD). Beim
Bildschirmlesegerät wird eine Textvorlage mittels einer Videokamera auf einen Bildschirm projiziert. Dabei kann man
sehr viel stärker vergrößern als mit optischen Hilfsmitteln und außerdem Farben und Kontraste besser verändern.
Bildschirmlesegeräte eignen sich vorzugsweise für das Lesen kürzerer Texte, da der überschaubare
Bildschirmausschnitt bei starker Vergrößerung klein ist.
In ihrem Antrag gab die Klägerin an, seit vielen Jahren Mitglied der Blindenhörbücherei zu sein. Der Daisy-Player sei
ein speziell für Blinde und Sehbehinderte entwickeltes Gerät. Er biete spezielle Suchfunktionen, die es bei den
bisherigen Hörbüchern nicht gegeben habe. Sie werde das Gerät täglich mindestens eine Stunde nutzen. Das
Fernsehlesegerät biete nicht die Möglichkeit Bücher zu lesen, da die Anstrengung zu groß sei. Sie nutze das Gerät
für Kurzberichte, Briefe, Gebrauchsanweisungen, Packungsbeilagen etc. Um weiterhin Hörbücher und Zeitschriften zu
hören benötige sie den Player. Dem Antrag waren ein ärztlicher Bericht und eine Beschreibung des Daisy Players
beigefügt. Außerdem reichte die Klägerin einen Kostenvoranschlag über 375,00 EUR über einen Daisy-Player Victor
Reader Classic ein.
Mit Bescheid vom 05.05.2006 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Sie führte aus, dass es sich bei dem Daisy-Player
um einen allgemeinen Gebrauchsgegenstand handele, da er allgemein Verwendung finde und von einer großen Zahl
von Personen benutzt werden könne. Die Eigenschaft als Verbrauchsgegenstand gehe auch nicht dadurch verloren,
dass dieser durch gewisse Veränderungen oder Eigenschaften behindertengerecht ausgestattet sei. Der Daisy-Player
sei mit einem MP3-Player vergleichbar. Außerdem sei er kein zugelassenes Hilfsmittel.
Mit Schreiben vom 22.05.2006 legte der Prozessbevollmächtigte Widerspruch ein. Er führte u.a. aus, dass das
Hilfsmittelverzeichnis nicht abschließend sei. Der Player sei speziell für die Bedürfnisse blinder Menschen konzipiert.
Er werde zur Deckung des Grundbedürfnisses der Information und Kommunikation benötigt. Ohne den Player könne
sich ein Betroffener aktuelle Zeitschriften und neue Literatur nicht mehr zugänglich machen. MP3-Player würden nicht
über eine Sprachführung bei der Bedienung verfügen und ermöglichten auch keine Navigation bei mit mehreren
Gliederungsebenen strukturierten Texten. Der Player ermögliche es akustisch wie in einem Buch oder einer Zeitschrift
zu blättern oder Markierungen einzubringen.
Mit Bescheid vom 04.07.2006 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Sie führte u.a. aus, dass der Player nicht
als Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens anzusehen sei, jedoch einen entsprechenden Gebrauchsgegenstand
lediglich ersetze und damit nicht der Leistungspflicht unterfalle. Das Argument der Sprachführung greife nicht, da kein
Anspruch auf eine optimale, dem neuesten Stand der Technik entsprechende Hilfsmittel bestehe, die lediglich
Komfortbedürfnissen diene. Das Grundbedürfnis der Klägerin auf Information zur Teilnahme am gesellschaftlichen
Leben werde bereits durch das Bildschirmlesegerät, das Radiohören und die persönliche Kommunikation ausreichend
befriedigt.
Am 26.07.2006 hat der Prozessbevollmächtigte Klage erhoben. Er führt u.a. aus, dass der Daisy-Player und das
Bildschirmlesegerät im Anwendungsbereich differierten. Nur mit dem Player würden ihr aktuelle Zeitschriften und
Bücher zugänglich gemacht.
Der Prozessbevollmächtigte beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 05.05.2006 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 04.07.2006 zu verurteilen, der Klägerin einen Daisy-Player zur Verfügung zu stellen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie verweist auf den Widerspruchsbescheid und führt ergänzend aus, dass im Fall der Klägerin die Fallkonstellation
des Behinderungsausgleichs in Betracht komme. Es sei zu beachten, dass der Einsatz von Hilfsmitteln lediglich auf
den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet sei. Es erfolge nur ein Basisausgleich. Als elementares
Grundbedürfnis werde die Informationsbeschaffung angesehen. Hierfür habe die Klägerin das Bildschirmlesegerät.
Darüber hinaus könne das Format auch mit einem MP3-Player und mit entsprechender Software am PC abgespielt
werden. Hierbei handele es sich um Gebrauchsgegenstände, die den Player ersetzen könnten.
Die Kammer hat sich in der mündlichen Verhandlung die Funktionen eines Daisy-Players vorführen lassen.
Bezüglich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte und die Gerichtsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet. Die Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren
Rechten.
Der Anspruch der Kläger auf die Zurverfügungstellung eines Daisy-Players folgt aus § 33 Abs. 1 SGB V. Danach
haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der
Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen,
soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34
Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind.
Ein Ausschluss nach § 34 Abs. 4 SGB besteht nicht. Weiterhin spielt es keine Rolle, dass der Daisy-Player nicht als
Hilfsmittel im Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt ist, da es sich hierbei nicht um ein abschließendes Verzeichnis
handelt. Es stellt eine Meinungsäußerung der Spitzenverbände dar und dient als unverbindliche Auslegungshilfe (vgl.
Höfler in Kasseler Kommentar, § 33 SGB V, Rn. 31 m.w.N.).
Auch handelt es sich bei dem Daisy-Player nicht um einen Gebrauchgegenstand des täglichen Lebens. Zur
Bewertung, ob es sich bei einem Gegenstand um einen allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens
handelt, kommt es darauf an, ob das Mittel spezifisch der Bekämpfung einer Krankheit oder dem Ausgleich einer
Behinderung dient. Was daher regelmäßig auch von Gesunden benutzt wird, fällt nicht in die Leistungspflicht der
Krankenversicherung. Zur Ermittlung des Vorliegens der Eigenschaft eines Hilfsmittels der Krankenversicherung ist
allein auf die Zweckbestimmung des Gegenstands abzustellen, die einerseits aus der Sicht der Hersteller,
andererseits aus der Sicht der tatsächlichen Benutzer zu bestimmen ist. Geräte, die für die speziellen Bedürfnisse
kranker oder behinderter Menschen entwickelt sowie hergestellt worden sind und die ausschließlich oder ganz
überwiegend auch von diesem Personenkreis benutzt werden, sind nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des
täglichen Lebens anzusehen. Der Daisy-Player wurde von den Herstellern im Hinblick auf die Bedürfnisse blinder bzw.
sehbehinderter Menschen entwickelt, um diesen einen strukturierten Zugriff auf unterschiedliche schriftliche Medien
zu ermöglichen. Zwar ist heutzutage auch bei nicht blinden oder sehbehinderten Menschen die Nutzung von
Hörbüchern weit verbreitet. Diese nutzen hierfür jedoch regelmäßig MP-3 oder CD-Player, benötigen keine
gesonderten Funktionen und hören auch keine Zeitschriften oder Lexika etc., sondern ggf. Belletristik oder
Sachbücher.
Die Voraussetzungen des § 33 Abs. 1 SGB V liegen vor. Die Klägerin leidet aufgrund ihrer starken Sehbehinderung
unter einer Behinderung für die der Daisy-Player einen geeigneten Ausgleich schafft. Zu beachten ist, das das
beanspruchte Hilfsmittel den von der Behinderung betroffene Körperteil (hier die Augen) nicht rekonstruieren oder die
von der Behinderung betroffene Körperfunktion nicht vollständig ersetzen muss, sondern dass es genügt, wenn es
einen Ausgleich für den entsprechenden Funktionsverlust bringt. Auch ein indirekter Funktionsausgleich, z.B. wie in
diesem Fall durch die akustische Zur-Verfügung-Stellung von Texten bei Blindheit oder starker Sehbehinderung des
Versicherten, ist ausreichend. Dabei wirkt sich die Versorgung im konkreten Fall auch bei der Sicherstellung eines
Grundbedürfnisses der Klägerin aus. Zu den elementaren Grundbedürfnissen des täglichen Lebens zählen u.a.
Kommunikation und Information (Schaffung eines geistigen Freiraums). Sowohl ausreichend als auch erforderlich ist,
dass ein konkreter Informationsbedarf im Rahmen einer normalen Lebensführung auftritt. Als Maßstab hierfür ist der
allgemein praktizierte Informationsbedarf heranzuziehen (BSG 23.08.1995, 3 RK 7/95). Eine Rechtfertigung für eine
Versorgung mit entsprechenden Geräten beschränkt sich nicht nur auf wenige Ausnahmefälle eines außerordentlich
hohen Lesebedarfs. Die Informationen müssen nicht unerlässlich sein. Mit den Daisy-CDs und dem Daisy-Player
werden der Klägerin Inhalte und Informationen jeglicher Art zur Verfügung gestellt (Kochbücher, Zeitschriften,
Sachbücher, Belletristik, Informationen der Verbände, Lehrbücher etc.), die den Informationsbedarf der Klägerin im
Rahmen ihrer Lebensführung befriedigen.
Darüber hinaus sieht die Kammer den Daisy-Player auch als notwendig und wirtschaftlich an. Durch diese Elemente
wird das Informationsbedürfnis im Rahmen einer Nutzen-Kosten-Betrachtung begrenzt. Eine Verweisung der Klägerin
auf Informationsquellen wie z.B. den Rundfunk oder Fernsehen mit Tonkanal kann nicht erfolgen. Diverse
Informationen und Publikationen wären der Klägerin auf diesem Weg nicht zugänglich. Darüber hinaus könnte die
Klägerin den Zeitpunkt der Information nicht selbst bestimmen, da diese nicht jederzeit (und damit ggf. zum Zeitpunkt
des Bedarfs) verfügbar ist. Auch kann sie nicht auf die Nutzung eines MP-3 Players verwiesen werden. Durch die
Nutzung eines MP-3 Players könnte sich die Klägerin die Informationen vieler Publikationen nicht in sinnvoller und
bedarfsdeckender Weise zugänglich machen, da sich MP-3 Player lediglich zum durchgängigen Abspielen der
Informationen eignen, ohne dass man damit im Text z.B. gezielt nach Informationen suchen, Abschnitte
überspringen, nach erneutem Einlegen einer CD wieder an der ursprünglichen Stelle ansetzen, die Geschwindigkeit
der Sprache zum besseren Verständnis (bei Lehrbüchern etc.) angepasst an die Komplexität der Informationen
einstellen könnte. Darüber hinaus fehlt es an einer Rückmeldung während der Bedienung und bei Bedienungsfehlern,
die es der Klägerin ermöglichten ggf. entsprechend zu reagieren. Auch haben die Geräte und die einzelnen
Bedienungselemente regelmäßig eine derart geringe Größe, dass die Handhabung für Blinde oder schwer
Sehbehinderte extrem schwierig sein dürfte. Die Klägerin könnte deshalb mit einem derartigen Gerät ggf. Belletristik
hören, sich einen Großteil der übrigen von ihr regelmäßig genutzten Informationen jedoch nicht zugänglich machen.
Das der Klägerin zur Verfügung stehende Bildschirmlesegerät deckt eine andere Art der Information ab und befriedigt
nur einen Teil des Informationsbedürfnisses. Es eignet sich lediglich zum Lesen kurzer Texte die als Hörbuch nicht
zur Verfügung stehen (wie z.B. Bedienungsanleitungen, Schreiben von Behörden, Inhaltsangaben,
Packungsaufschriften). Das Bildfeld ist aufgrund der von der Klägerin benötigten Vergrößerung dabei stark beschränkt
und der Klägerin ist die Nutzung des Geräts aufgrund der bestehenden Anstrengung und der auftretenden
Kopfschmerzen und des Schwindels nur eine begrenzte Zeit möglich, so dass längere Texte hierüber nicht
erschlossen werden können. Der Verweis auf die Nutzung eines PCs und der – kostenlosen – Software zum Hören
der Daisy-CDs wäre unwirtschaftlich. Die Klägerin selbst hat keinen PC. Der vom Ehemann genutzte PC müsste nach
Angabe des Sachverständigen damit die Klägerin ihn eigenständig nutzen könnte, (durch die Beklagte) mit einer
entsprechenden Software ausgestattet werden. Die Kosten wären hierbei weitaus höher als bei der
Zurverfügungstellung eines Daisy-Players.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Berufung gem. § 144 Abs. 2 SGG
bestehen nicht.