Urteil des SozG Freiburg vom 17.04.2015

körperlicher zustand, lebensmittel, gerichtsakte, auflage

SG Freiburg Urteil vom 17.4.2015, S 15 AS 3600/13 ZVW
Arbeitslosengeld II - Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung - Laktoseintoleranz -
Heranziehung der Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge -
keine Mehrkosten - Zumutbarkeit von Einsparungen bei anderen Lebensmitteln
Leitsätze
1. Eine kostenaufwändige Ernährung, die nach § 21 Abs. 5 SGB II einen Mehrbedarf auslöst, ist bei
einer Laktoseintoleranz in der Regel nicht erforderlich.
2. Bei der Feststellung, ob eine Laktoseintoleranz zu einem Mehrbedarf auslösenden Kostenaufwand
führt, können die Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der
Sozialhilfe in der vierten Auflage vom 10.12.2014 grundsätzlich als antizipiertes
Sachverständigengutachten herangezogen werden.
3. Zur Zumutbarkeit von Einsparmöglichkeiten durch Umschichtung innerhalb der in der Regelleistung
enthaltenen Beträge.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
1 Die Klägerin begehrt vom Beklagten die Anerkennung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger
Ernährung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Leistungszeitraum
01.10.2010 bis 31.03.2011.
2 Die 1998 geborene Klägerin lebt mit ihrer alleinerziehenden Mutter in einer Bedarfsgemeinschaft. Im
streitgegenständlichen Zeitraum bezog die Bedarfsgemeinschaft vom Beklagten laufende
Leistungen nach dem SGB II. Die Klägerin leidet an Laktoseintoleranz.
3 Am 27.12.2010 beantragte die Klägerin unter Vorlage eines ärztlichen Attests beim Beklagten die
Gewährung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung.
4 Mit Bescheid vom 07.01.2011 bewilligte der Beklagte der Bedarfsgemeinschaft vorläufig Leistungen
zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum 01.10.2010 bis 31.03.2011,
ohne jedoch den begehrten Mehrbedarf zu berücksichtigen. Gegen den Bewilligungsbescheid
erhoben die Klägerin und ihre Mutter am 10.01.2011 Widerspruch mit dem Begehren, einen
Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung anzuerkennen. Sie dürfe aufgrund ihrer
Erkrankung Milch und Milchprodukte nicht bzw. nur in sehr kleinen Mengen zu sich nehmen und sei
daher auf laktosefreie Nahrung angewiesen, die teurer sei als normale Milchprodukte.
5 Mit Widerspruchsbescheid vom 02.03.2011 wies der Beklagte den Widerspruch vom 10.01.2011 als
unbegründet zurück. Die angegebene Krankheit stelle keinen nach § 21 Abs. 5 SGB II
unabweisbaren Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts dar und sei nicht im Katalog der
Mehrbedarfe für eine kostenaufwändige Ernährung enthalten. Bei einer Laktoseintoleranz seien
laktosehaltige Nahrungsmittel zu meiden oder zu reduzieren, wodurch keine gravierend höheren
Kosten entstünden.
6 Mit Änderungsbescheiden vom 25.03.2011, 24.05.2011, 28.02.2012, 16.05.2012 sowie 16.04.2013
erfolgte jeweils eine Neuberechnung des Leistungsanspruchs der Bedarfsgemeinschaft der Höhe
nach. Ein Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung wurde nach wie vor nicht berücksichtigt.
7 Mit Schriftsatz vom 25.03.2011, eingegangen beim Gericht am selben Tag, hat die Klägerin
zusammen mit ihrer Mutter Klage zum Sozialgericht Freiburg erhoben.
8 Mit Urteil vom 13.01.2012 hat das Sozialgericht Freiburg die Klage abgewiesen (S 20 AS 1559/11).
Die Krankheit, an der die Klägerin leide, sei nicht mit höheren Kosten für Ernährung verbunden. Der
Milchzuckerunverträglichkeit könne durch die Vermeidung von laktosehaltiger Kost begegnet
werden. Alle anderen Grundnahrungsmittel könnten konsumiert werden. Die Krankheit sei nicht mit
denen vergleichbar, für die nach den aktuellen Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche
und private Fürsorge eine Krankenkostzulage vorgesehen sei. Vielmehr handele es sich um eine in
der Bevölkerung weit verbreitete Lebensmittelunverträglichkeit. Deswegen gebe es inzwischen ein
breites Angebot preisgünstiger laktosefreier Milchprodukte. Vor diesem Hintergrund seien weitere
Ermittlungen entbehrlich.
9 Auf die vom Sozialgericht zugelassene Sprungrevision hat das Bundessozialgericht die Sache mit
Urteil vom 14.02.2013 an das Sozialgericht zurückverwiesen (B 14 AS 48/12 R). Zur Begründung hat
das Bundessozialgericht ausgeführt, das Sozialgericht Freiburg habe die Maßstäbe des § 21 Abs. 5
SGB II verkannt, indem es die zur Klärung des Vorliegens eines krankheitsbedingten
Ernährungsmehrbedarfs erforderlichen Prüfungsschritte vermengt habe. Der Mehrbedarf sei
entsprechend der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts im Einzelfall aufzuklären.
10 Die Klägerin ist der Auffassung, es bestehe ein Anspruch auf höhere Leistungen zur
Grundsicherung des Lebensunterhalts, weil aufgrund ihrer Erkrankung ein Mehrbedarfszuschlag
wegen kostenaufwändiger Ernährung in den Bedarf einzustellen sei.
11 Die Klägerin beantragt,
12 den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 07.01.2011 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 02.03.2011 sowie des Änderungsbescheides vom 16.04.2013 zu
verurteilen, ihr für den Zeitraum Oktober 2010 bis März 2011 Leistungen nach dem SGB II unter
Berücksichtigung eines angemessenen Mehrbedarfszuschlags wegen Laktoseintoleranz zu
bewilligen.
13 Der Beklagte beantragt,
14 die Klage abzuweisen.
15 Zur Begründung verweist er auf den Inhalt des angegriffenen Widerspruchsbescheides. Ein
Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung sei nicht nachgewiesen. Für den
streitgegenständlichen Zeitraum sei nicht geklärt, ob und in welchem Umfang Mehrkosten
notwendigerweise durch eine laktosefreie Ernährung entstanden sind.
16 Das Gericht hat wie folgt Beweis erhoben:
17 1. Einholung einer schriftlichen Auskunft der behandelnden Ärztin der Klägerin, Dr. med. R., vom
10.01.2014. Diesbezüglich wird auf Bl. 40 f. der Gerichtsakte verwiesen.
18 2. Einholung eines internistischen Sachverständigengutachtens bei Dr. med. H..
19 Dr. H. stellt in seinem Gutachten vom 23.08.2014 die eindeutige Diagnose einer Laktoseintoleranz
und führt aus, wegen der durch die Erkrankung hervorgerufenen Symptome sei der Verzehr von
laktosehaltigen Nahrungsmitteln zu vermeiden bzw. auf eine Quantität zu reduzieren, die eine
hinreichende Beschwerdefreiheit erziele. Während auf andere laktosehaltige Nahrungsmittel ohne
hinreichende Beschwerdefreiheit erziele. Während auf andere laktosehaltige Nahrungsmittel ohne
Nachteil verzichtet werden könne, seien Milch und Milchprodukte wegen ihres Kalziumgehalts
unentbehrlich. Laktosefreie Produkte seien nach einer österreichischen Studie durchschnittlich 30 %
teurer als die vergleichbaren, laktosehaltigen Lebensmittel. Diese Erhebung decke sich mit den von
ihm selbst durchgeführten Recherchen bei verschiedenen Discountern. Unter Zugrundelegung der
durchschnittlichen wöchentlichen Ernährung der Klägerin sei von monatlichen Mehrkosten in Höhe
von 30 Euro auszugehen. Hinsichtlich des vollständigen Inhalts des Gutachtens wird auf Bl. 56 ff.
der Gerichtsakte Bezug genommen.
20 3. Desweiteren hat das Gericht nach § 202 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. §§ 415 ff.
Zivilprozessordnung (ZPO) ein ernährungswissenschaftliches Gutachten der Ernährungsberaterin
Eva M., das diese im - zwischen dem Prozessbevollmächtigten der Klägerinnen und dem Beklagten
geführten - Verfahren S 17 AS 1451/13 erstattet hat, in anonymisierter Form als Urkundenbeweis in
das Verfahren eingeführt.
21 Die Gutachterin teilt mit, alle Milchprodukte könnten grundsätzlich durch Milch ersetzt werden. Der
von der Verbraucherzentrale Hamburg durchgeführte „Marktcheck 2012“ habe ergeben, dass von
Laktoseintoleranz betroffene Menschen durchschnittlich 2,4mal so viel für Lebensmittel zahlen
müssen, die als laktosefrei deklariert sind. Hinsichtlich dieses Gutachtens wird auf Bl. 68 f. der
Gerichtsakte Bezug genommen.
22 Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte im hiesigen Verfahren
und auf die Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
23 Die zulässige Klage ist unbegründet.
24 Der Bescheid vom 07.01.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.03.2011 sowie
der Änderungsbescheid vom 16.04.2013 sind rechtlich nicht beanstanden. Der Beklagte hat im
streitgegenständlichen Leistungszeitraum zurecht keinen Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger
Ernährung bei der Klägerin anerkannt.
25 Nach § 21 Abs. 5 SGB II wird bei Leistungsberechtigten, die aus medizinischen Gründen einer
kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, ein Mehrbedarf in angemessener Höhe anerkannt. Ein
gesonderter Antrag nach § 37 Abs. 1 S. 1 SGB II ist dabei nicht erforderlich (BSG, Urt. v. 06.05.2010
- B 14 AS 3/09 R).
26 Die Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 5 SGB II setzt nach der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts (BSG, Urt. v. 14.02.2013 - B 14 AS 48/12 R; zu diesem Urteil u.a. Harich, in:
jurisPR-SozR 25/2013, Anm. 2; vgl. auch BSG, Urt. v. 10.05.2011 - B 4 AS 100/10 R) Folgendes
voraus:
27 - Der Leistungsberechtigte muss an einer Krankheit im Sinne der üblichen
krankenversicherungsrechtlichen Begriffsdefinition (vgl. nur BSG, Urt. v. 11.09.2012 - B 1 KR 9/12 R,
Rn. 10 bei juris) leiden. Die Rechtsprechung hält insoweit bereits eine „drohende Erkrankung“ für
ausreichend (BSG, Urt. v. 14.02.2013 - a.a.O., Rn. 12 bei juris; vgl. auch BSG, Urt. v. 22.04.2009 - B
3 KR 11/07 R sowie die Mehrbedarfsregelung in § 30 Abs. 5 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch - SGB
XII -) (hierzu unter 1.).
28 - Der Leistungsberechtigte muss sich im Sinne einer Krankenkost „besonders“ ernähren und diese
besondere Ernährung muss aufgrund der Krankheit medizinisch notwendig sein
(Ursächlichkeitszusammenhang) (hierzu unter 2.).
29 - Die im Einzelfall erforderliche Krankenkost muss gegenüber der in der Bevölkerung üblichen, im
Regelbedarf zum Ausdruck kommenden Ernährung, kostenaufwändiger sein (hierzu unter 3.). Dabei
ist zu berücksichtigen, dass es sich bei dem im § 21 Abs. 5 SGB II genannten Begriff der
ist zu berücksichtigen, dass es sich bei dem im § 21 Abs. 5 SGB II genannten Begriff der
„kostenaufwändigen Ernährung“ offenbar um einen redaktionellen Fehler im Gesetzestext handelt,
weil die Bedeutung des Komparativs nach Sinn und Zweck der Norm übersehen wurde. Es genügt
gerade nicht, dass die Ernährung lediglich „kostenaufwändig“ ist, denn dies ist jede Ernährung, die
Geld kostet. Die Ernährung muss tatsächlich „kostenaufwändiger“ sein als die eines Gesunden.
30 Im Gegensatz zu den Fallgruppen, die nach § 21 Abs. 1 bis 4 SGB II einen Mehrbedarf begründen
können (z.B. für Schwangere und Alleinerziehende), sieht die Mehrbedarfsregelung für
kostenaufwändige Ernährung keine pauschale Erhöhung des Regelbedarfs vor, sondern richtet sich
auch in dieser Hinsicht nach den Umständen des Einzelfalls. Das Bundessozialgericht verlangt
daher eine am konkreten Einzelfall orientierte tatsächliche und rechtliche Würdigung (BSG, Urt. v.
14.02.2013 - a.a.O., Rn. 15 bei juris; LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 12.03.2013 - L 6 AS 291/10, Rn. 56
bei juris; vgl. auch Knickrehm/Hahn, in: Eicher, SGB II, 3. Aufl. 2013, § 21 Rn. 57; Krauß, in:
Hauck/Noftz, SGB II K § 21 Rn. 58; Düring, in: Gagel, SGB II, 49. Erg.-Lief. 2013, § 21 Rn. 33;
Breitkreuz, in: BeckOK-SGB II, § 21 Rn. 15).
1.
31 Nach dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen leidet die Klägerin nachweislich an
Laktoseintoleranz. Dies stellt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts eine
gesundheitliche Beeinträchtigung dar, die grundsätzlich einen Mehrbedarf nach § 21 Abs. 5 SGB II
auslösen kann (BSG, Urt. v. 14.02.2013 - a.a.O., Rn. 13 bei juris). Es handelt sich um eine Krankheit
auch im Sinne der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10-GM E73).
32 Der Qualifizierung der Laktoseintoleranz als mehrbedarfsbegründende Krankheit im Sinne des § 21
Abs. 5 SGB II steht dabei nicht die weltweit hohe Verbreitung dieser Stoffwechselkrankheit - in
asiatischen Ländern und in weiten Teilen Afrikas liegt die Prävalenz zwischen 70 bis 100 Prozent
der Bevölkerung (vgl. Vogelreuter, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, S. 17) - entgegen. Denn die
Häufigkeit, mit der ein regelwidriger Körperzustand innerhalb der Bevölkerung auftritt, ist kein
Merkmal des sozialversicherungsrechtlichen Krankheitsbegriffs (vgl. BSG, Urt. v. 14.02.2013 -
a.a.O., Rn. 13 bei juris; Urt. v. 30.09.1999 - B 8 KN 9/98 KR; BVerwG, Urt. v. 16.08.2005 - 2 B 28/05).
Allein die weite Verbreitung einer Erkrankung (hier der Laktoseintoleranz) entbindet nicht von der
Feststellung eines besonderen, medizinisch begründeten Ernährungsbedürfnisses im Einzelfall.
Danach stellt die Laktoseintoleranz jedenfalls dann eine dem Grunde nach mehrbedarfsfähige
Krankheit im Sinne von § 21 Abs. 5 SGB II dar, wenn sie bei einem von dieser Stoffwechselstörung
betroffenen Menschen bei Verzehr laktosehaltiger Lebensmittel nicht nur geringfügige klinische
Symptome verursacht. Dies ist bei der Klägerin ausweislich des Ergebnisses der medizinischen
Sachverhaltsermittlungen - Dr. H. nennt als Symptome unter anderem Bauchschmerzen und
Durchfall - der Fall.
2.
33 Die Klägerin muss sich nach dem Ergebnis der Sachverhaltsermittlungen aufgrund dieser Krankheit
zur Überzeugung der Kammer auch besonders ernähren. Der Gutachter Dr. H. führt nachvollziehbar
aus, dass wegen der durch die Erkrankung hervorgerufenen Symptome der Verzehr von
laktosehaltigen Nahrungsmitteln zu vermeiden bzw. zu reduzieren ist.
34 Soweit der Beklagte vorträgt, die Klägerin habe überhaupt nicht nachgewiesen, ob und in welchem
Umfang im streitgegenständlichen Zeitraum Mehrkosten durch die laktosefreie Ernährung
entstanden sind, kommt es hierauf nicht an. Die tatsächliche Einhaltung einer kostenaufwändigen
Ernährung oder ggf. der Nachweis tatsächlicher Mehraufwendungen ist keine
Anspruchsvoraussetzung für die Anerkennung eines Mehrbedarfs (BSG, Urt. v. 20.02.2014 - B 14
AS 65/12; Behrend, in: jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 21 Rn. 60). Ein Erfordernis eines
zweckentsprechenden Einsatzes der Leistungen für den Mehrbedarf ist in § 21 Abs. 5 SGB II nicht
normiert.
35 Auch die Argumentation, ein Mehrbedarf sei generell zu verneinen, weil die Therapie vorrangig im
„Weglassen“ unverträglicher Lebensmittel liege, wodurch kein erhöhter Aufwand entstehe, kann
„Weglassen“ unverträglicher Lebensmittel liege, wodurch kein erhöhter Aufwand entstehe, kann
nicht zur Ablehnung des Anspruchs führen. Für einen ernährungsbedingten Mehrbedarf ist nach der
Rechtsprechung nicht entscheidend, ob ein bestimmtes Nahrungsmittel bei der Ernährung
weggelassen werden kann. Entscheidend ist vielmehr, ob und durch welche Nahrungsmittel es
ersetzt werden muss und ob hierdurch Mehrkosten entstehen (BSG, Urt. v. 09.06.2011 - B 8 SO
11/10 R).
3.
36 Nach Auffassung der Kammer führt die notwendige besondere Ernährung im vorliegend zu
beurteilenden konkreten Einzelfall jedoch nicht zu einem höheren, einen Mehrbedarf auslösenden
Kostenaufwand.
37 Die Kammer stützt ihre Entscheidung dabei zunächst grundlegend auf die Empfehlungen des
Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe in der vierten, neu
erarbeiteten Auflage vom 10.12.2014 (abrufbar unter http://www.deutscher-verein.de/05-
empfehlungen/empfehlungen_archiv/2014/DV-28-14-Krankenkostzulagen; zuletzt abgerufen am
30.04.2015), die nach Ziffer III.2. nunmehr ausdrücklich auch für Kinder und Jugendliche wie die
Klägerin gelten. Die Empfehlungen lauten auszugsweise:
38 „III.3.2.1 Laktoseintoleranz
39 Die Verträglichkeit von Laktose unterliegt keinen eindeutigen systematischen Regeln, sondern ist
individuell unterschiedlich. In der Regel werden jedoch 12 g bis 15 g, teilweise bis zu 24 g Laktose
pro Tag toleriert, so dass eine Substitution mit speziellen Nahrungsmitteln nicht erforderlich ist.
Therapeutisch gibt es bei Laktoseintoleranz keine spezielle Diät. Es wird eine Vollkost mit einer auf
das Beschwerdebild angepassten Ernährung empfohlen. Die ernährungsmedizinische Behandlung
besteht im Meiden von Nahrungsmitteln, die nicht vertragen werden (z.B. Kuhmilch). Die Deckung
des Kalziumbedarfs ist insbesondere durch den Verzehr von Milchprodukten möglich, die von Natur
aus sehr geringe Mengen an Laktose enthalten (z.B. reifer Käse). Eine kostenaufwändigere
Ernährung ist damit in der Regel nicht erforderlich.“
40 Die in einer interdisziplinär zusammengesetzten Arbeitsgruppe, der Sozialrechtler, Ärzte,
Verwaltungsfachkräfte und Ernährungswissenschaftler angehörten (vgl. Fn. 1 auf S. 3 der
Empfehlungen), erstellten und somit im Rahmen wissenschaftlicher Erhebungen zustande
gekommenen Empfehlungen erweisen sich nach Auffassung der Kammer als überzeugend und
nachvollziehbar. Dabei wird nicht verkannt, dass die Rechtsprechung bislang ganz überwiegend
davon ausgeht, dass den Mehrbedarfsempfehlungen nach ihrer Konzeption und
Entstehungsgeschichte weder die Rolle antizipierter Sachverständigengutachten zukommt und sie
erst recht nicht normähnlich angewendet werden können (vgl. nur BSG, Urt. v. 22.11.2011 - B 4 AS
138/10 R). Insoweit ist jedoch zu berücksichtigen, dass den - zum Zeitpunkt der auf sie Bezug
nehmenden Entscheidungen teilweise mehrere Jahre alten - Empfehlungen die Einstufung als
antizipiertes Sachverständigengutachten unter anderem mit der Begründung abgesprochen wurde,
diese stellten nicht mehr den aktuellsten Stand der medizinischen Erkenntnisse dar (so auch die
Einschränkung des BSG, Urt. v. 27.02.2008 - B 14/7b AS 64/06 R, Rn. 29 bei juris: „… derzeit …
nicht als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen“). Im Falle der Laktoseintoleranz wurde
zudem bemängelt, dass diese Erkrankung in den Empfehlungen - bislang - nicht genannt war (so
ausdrücklich BSG, Urt. v. 14.02.2013 - a.a.O., Rn. 16 bei juris). Aufgrund der Aktualisierung von
2014 geben die Empfehlungen indes nunmehr den neuesten Stand der
ernährungswissenschaftlichen Erkenntnis wieder. Außerdem verhalten sie sich in der aktuellen
Auflage - anders als in den vorgehenden Auflagen, die der genannten Rechtsprechung zugrunde
lagen - ausführlich zur Frage einer kostenaufwändigen Ernährung bei Laktoseintoleranz.
41 Auch der Gesetzgeber bezieht sich im Zusammenhang der Feststellung eines Mehrbedarfs wegen
kostenaufwändiger Ernährung auf die Mehrbedarfsempfehlungen und führt in der
Gesetzesbegründung ausdrücklich aus, dass bei der Bestimmung eines ernährungsbedingten
Mehrbedarfs „die […] vom Deutschen Verein […] entwickelten und an typisierbaren Fallgestaltungen
Mehrbedarfs „die […] vom Deutschen Verein […] entwickelten und an typisierbaren Fallgestaltungen
ausgerichteten Empfehlungen herangezogen werden“ können (BT-Drs. 15/1516, S. 57 zu § 21 Abs.
5 SGB II). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ein Abweichen von den
Empfehlungen sogar begründungsbedürftig (BVerfG, Beschl. v. 20.06.2006 - 1 BvR 2673/05, Rn. 19
bei juris). Im Einklang hiermit qualifiziert das Bundessozialgericht die Empfehlungen zumindest als
„eine Orientierungshilfe, die den Umfang der Ermittlungen im Einzelfall steuert“ (BSG, Urt. v.
14.02.2013 - a.a.O., Rn. 16 bei juris) und auch als Entscheidungsgrundlage herangezogen werden
kann (BSG, Urt. v. 27.02.2008 - B 14/7b AS 32/06 R, Rn. 39 bei juris). Nach Auffassung der Kammer
darf in diesem Zusammenhang die Aussage des Bundessozialgerichts, es seien im
Anwendungsbereich des § 21 Abs. 5 SGB II kaum Fälle denkbar, in denen sich für eine bestimmte
Erkrankung, die - wie die Laktoseintoleranz - Einfluss auf die Ernährung habe, ein besonderer
Kostenaufwand abschließend als generelle Tatsache (Rechtstatsache) mit Gültigkeit für jeden
Einzelfall verneinen lasse (BSG, Urt. v. 14.02.2013 - a.a.O., Rn. 17 bei juris), nicht im Sinne einer
Vorfestlegung auf die grundsätzliche Gewährung eines Mehrbedarfs bei Vorliegen einer
entsprechenden Erkrankung missverstanden werden. Vielmehr muss unter Heranziehung der
Mehrbedarfsempfehlungen und Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls geprüft
werden, ob die gesundheitlichen Einschränkungen einen tatsächlichen Mehrbedarf auslösen.
42 Die hiernach anzustellende Prüfung führt jedoch unter Berücksichtigung der im vorliegenden Fall
eingeholten Gutachten nicht zur Annahme eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändigerer
Ernährung.
43 Nach den überzeugenden und widerspruchsfreien Ausführungen des Gutachters Dr. H. kann ohne
Nachteil auf alle laktosehaltigen Nahrungsmittel außer Milch und Milchprodukte verzichtet werden.
Unter Hinzuziehung des Gutachtens der Ernährungsberaterin Frau M., die ausführt, dass sämtliche
Milchprodukte durch Milch ersetzt werden können, geht die Kammer davon aus, dass rein unter
gesundheitlichen Aspekten eine laktosefreie Ernährung durch ausschließlichen Verzehr laktosefreier
Milch möglich ist. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung e.V. (DGE) empfiehlt für 13- bis 18-
jährige Jugendliche aufgrund des starken Wachstums eine Kalziumzufuhr von etwa 1200 mg pro
Tag (im Gegensatz zu 1000 mg pro Tag für Erwachsene) sowie eine tägliche Zufuhr von 200-250
mg Milch/Milchprodukten und 50-60g fettarmer Käse (vgl. http://www.dge.de/rd/ca-ref; zuletzt
abgerufen am 30.04.2015). Der sich aus den nachvollziehbaren Ermittlungen des Gutachters Dr. H.
ergebende Durchschnittspreis für einen Liter normale (laktosehaltige) Vollmilch beträgt etwa 0,69
Euro, derjenige für einen Liter laktosefreie Vollmilch etwa 0,95 Euro. Dies ergibt eine Differenz von
0,26 Euro und deckt sich mit der Einschätzung von Dr. H., dass die Mehrkosten in etwa 30 Prozent
betragen. Dass der Gutachter dabei als Internist über keine besonderen Kenntnisse auf
ernährungswissenschaftlichem bzw. marktanalytischem Gebiet verfügt (vgl. hierzu BSG, Urt. v.
24.02.2011 - B 14 AS 49/10 R), ist nach Auffassung der Kammer irrelevant, da die Ermittlung der
Durchschnittspreise - wie Dr. H. durch seine in allen Belangen nachvollziehbare Recherche
bewiesen hat - solche vertieften Kenntnisse überhaupt nicht erfordert. Das Ergebnis ist auch unter
Heranziehung der allgemeinen Lebenserfahrung durchaus plausibel. Ein Liter Milch reicht nach den
Empfehlungen der DGE für drei bis vier Tage. Im Monat werden somit rund siebeneinhalb bis zehn
Liter Milch benötigt. Dies ergibt monatliche Mehrkosten in Höhe von rund 2,00 bis 2,60 Euro, was
rund ein Prozent des im Leistungszeitraum relevanten Regelbedarfs der Klägerin entspricht.
44 Zwar gibt es nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts im Bereich der Grundsicherung für
Arbeitssuchende keine allgemein anerkannte Bagatellgrenze, da ansonsten dem Betroffenen
Leistungen vorenthalten würden, obwohl er einen Anspruch hat (BSG, Urt. v. 04.06.2014 - B 14 AS
30/13 R zu § 21 Abs. 6 SGB II). Jedoch halten sich die ermittelten Mehrkosten zur Überzeugung der
Kammer in einem Rahmen, der ohne Weiteres durch den Regelsatz gedeckt werden kann. Die
Mehrkosten, die die regelmäßige Kalziumzufuhr durch laktosefreie Produkte verursacht, lassen sich
beim Einkauf auch durch Einsparungen bei anderen Lebensmitteln ausgleichen (zur vom
Gesetzgeber als grundsätzlich zumutbar erachteten Einsparmöglichkeit durch „Umschichtung“ vgl.
auch BT-Drs. 17/1465, S. 6 und 8). Eine entsprechende preisbewusste Einkaufsweise erachtet die
Kammer insoweit als durchaus zumutbar. Der im Regelsatz berücksichtigte Ansatz für
Nahrungsmittel und Getränke, der einen pauschalen Anteil für eine ausreichende und ausgewogene
Nahrungsmittel und Getränke, der einen pauschalen Anteil für eine ausreichende und ausgewogene
Ernährung enthält, lässt insoweit Spielraum für individuelle Bedürfnisse wie sie bei Erkrankungen wie
bei der Klägerin bestehen. Ist ein bestimmter körperlicher Zustand bei einer großen Zahl von
Menschen anzutreffen, kann dies im Rahmen der Prüfung, ob dieser Körperzustand einen
Mehrbedarf erfordert, von Bedeutung sein, und zwar dann, wenn es deshalb eine Vielzahl von
laktosefreien Lebensmitteln zu Discounterpreisen gibt, die eine ausreichende, Mangelerscheinungen
ausschließende Ernährung zu Preisen ermöglichen, mit denen auch die Regelbedarfsernährung
beschafft werden kann. Nach Auffassung der Kammer hat sich auf dem Gebiet der laktosefreien
Nahrungsmittel bereits ein derart umfangreiches Angebot entwickelt, welches es der Klägerin
ermöglicht, mit den aus der Regelleistung für Ernährung zur Verfügung stehenden Mitteln, deren
Höhe keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet (vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 23.07.2014 - 1
BvL 10/12), eine ausgewogene Ernährung auch unter Berücksichtigung der gesundheitlichen
Einschränkungen sicherzustellen. So führt auch Dr. H. aus, dass der Markt laktosefreien Käse
anbiete, der keine Mehrkosten verursache. Auch Naturjoghurt werde trotz Laktosegehalts häufig
problemlos vertragen. Nach Auskunft von Frau M. kann Schnittkäse sogar ganz ohne
Einschränkungen verzehrt werden. Dr. H. regt vor diesem Hintergrund auch nachvollziehbar die
Inanspruchnahme einer qualifizierten Ernährungsberatung an.
45 Soweit Dr. H. in seinem Gutachten von monatlichen Mehrkosten in Höhe von 30 Euro ausgeht, ist zu
berücksichtigen, dass dieser Berechnung seiner Auskunft zufolge die Ernährungsangaben der
Klägerin (Bl. 58 und 59 der Gerichtsakte) zugrunde liegen. Nach Auffassung der Kammer ist unter
Heranziehung der Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung und der
Mehrbedarfsempfehlungen indes ein wöchentlicher Verzehr von fünf (!) Litern Milch, acht Stück
Joghurt/Fruchtquark und zwei Portionen Milchreis/Grießpudding - gerade beim Vorliegen einer
Laktoseunverträglichkeit - keineswegs erforderlich. Auch die von Frau M. unter Bezugnahme auf den
sog. „Marktcheck 2012“ der Verbraucherzentrale Hamburg
(http://www.vzhh.de/ernaehrung/257312/Laktosefreie%20Lebensmittel_Produkt%c3%bcbersicht.pdf;
zuletzt abgerufen am 30.04.2015) getroffene Feststellung, von Laktoseintoleranz betroffene
Menschen müssten durchschnittlich 2,4-mal so viel für Lebensmittel zahlen als Gesunde, führt im
vorliegenden Fall nicht zum Klageerfolg. Die erhebliche Abweichung basiert unter anderem auf der
Heranziehung von laktosefreien Nahrungsmitteln wie Schinken, Wurst, Schnittkäse oder
Mehrkornbrot. Mit dem Marktcheck soll offenkundig auf die „Marketingtricks“ der
Nahrungsmittelindustrie aufmerksam gemacht werden. Zur Ermittlung der Höhe eines
ernährungsbedingten Mehrbedarfs bei Laktoseintoleranz ist er nach Auffassung der Kammer indes
völlig untauglich.
46 Soweit sich die Klägerin dagegen verwehrt, hierdurch verursacht „ernährungswissenschaftlichen
Minimalismus“ betreiben zu müssen, führt dies nicht zu einer abweichenden Entscheidung. Ob die
Klägerin aus persönlichen Gründen auf bestimmte Produkte, wie im Gutachten von Dr. H. aufgezählt,
zurückgreifen möchte, insbesondere um in ihrer Ernährung mehr Abwechslung zu haben und
hierdurch eine besondere soziale Teilhabe verwirklichen zu können, ist im Rahmen des Mehrbedarfs
wegen kostenaufwändiger Ernährung nach § 21 Abs. 5 SGB II ohne Belang. Insofern ist es der
Klägerin - wie jedem anderen Hilfebedürftigen auch, der eine besondere Ernährung wünscht -
zuzumuten, sich durch Umschichtungen innerhalb der in der Regelleistung enthaltenen Beträge eine
den persönlichen Vorlieben genügende abwechslungsreichere, aber teurere Ernährung zu
verschaffen (so auch LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 12.03.2013 - L 6 AS 291/10, Rn. 57 bei juris).
47 Weitere Ermittlungen von Amts wegen waren im Hinblick auf die nachvollziehbaren
Mehrbedarfsempfehlungen und die eingeholten ausführlichen und überzeugenden Stellungnahmen
und Gutachten nicht erforderlich. Besondere Umstände, die ein Abweichen von den Empfehlungen
sowie die Durchführung weiterer Ermittlungen begründen könnten, sind weder substantiiert
vorgetragen noch für die Kammer erkennbar.
48 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
49 Vor dem Hintergrund einer kaum erkennbar einheitlichen Linie der Rechtsprechung in der
Beurteilung einer kostenaufwändigeren Ernährung bei Laktoseintoleranz (vgl. u.a. LSG Rheinland-
Beurteilung einer kostenaufwändigeren Ernährung bei Laktoseintoleranz (vgl. u.a. LSG Rheinland-
Pfalz, Urt. v. 12.03.2013 - L 6 AS 291/10; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 04.04.2011 - L 6 AS
2205/10 B ER sowie v. 10.03.2011 - L 6 AS 1659/10 B; LSG Thüringen, Urt. v. 22.02.2012 - L 4 AS
1685/10; SG Berlin, Urt. v. 05.04.2013 - S 37 AS 13126/12; SG Dresden, Urt. v. 18.09.2012 - S 38
AS 5649/09; SG Freiburg, Urt. v. 13.01.2012 - S 20 AS 1559/11; SG Karlsruhe, Urt. v. 31.03.2011 - S
4 AS 2626/09; SG Berlin, Urt. v. 09.10.2006 - S 101 AS 862/06) lässt die Kammer die Berufung
wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zu (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG).