Urteil des SozG Frankfurt am Main vom 19.06.2006

SozG Frankfurt: braille, versorgung, kommunikation, verordnung, gebrauchsgegenstand, krankenversicherung, behinderung, informationsfreiheit, rehabilitation, unterhaltung

Sozialgericht Frankfurt
Urteil vom 19.06.2006 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 30 KR 2748/04
Der Bescheid vom 20.04.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.06.2004 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger dem Grunde nach mit einer Braille-Zeile zu versorgen.
Die Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen
außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ist der Anspruch auf Versorgung mit einer Braille-Zeile.
Der 1938 geborene Kläger ist Blind. Am 03.03.2004 legte er ein Angebot der P. Reha-Technik über eine BRAILLEX EL
40s vor.
Mit Bescheid vom 20.04.2004 lehnte die Beklagte die Versorgung mit einer Ausgabe BRAILLEX EL 40s ab: Am
13.12.2002 sei die Versorgung mit dem Universal Reader Compakt bewilligt worden. Die Textvorlesesysteme der
neuen Generation seien in der Lage alle Informationen auszulesen. Eine Braille zusätzlich zu diesem System stelle
eine Doppelversorgung dar, die keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung sei.
Hiergegen legte der Kläger am 13.05.2004 Widerspruch ein. Im Wesentlichen stützte er sich auf ein Urteil des BSG
vom 16.04.1998 – B 3 KR 6/97 R -.
Mit Widerspruchsbescheid vom 24.06.2004 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Auf den
Inhalt der Entscheidung wird Bezug genommen.
Dagegen richtet sich die Klage vom 26.07.2004. Der Kläger hat die Klage mit Schriftsatz vom 28.01.2005 ausführlich
begründet. Im Wesentlichen trägt er vor, die Texterkennung mit Braille-Zeile sei derjenigen mit Sprachausgabe weit
überlegen. Ein blinder Mensch, der die Punktschrift beherrsche, werde es immer vorziehen, einen Text selbst zu
lesen und ihn sich nicht vorlesen zu lassen. Ergänzend stützt sich der Kläger auf einen Befundbericht der Dr. M. vom
18.01.2005 sowie eine Bescheinigung der Dr. S. vom 17.12.2002.
Der Kläger beantragt, den Bescheid vom 20.04.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.06.2004
aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihn mit einer Braille-Zeile dem Grunde nach zu versorgen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig.
Das Gericht hat die Verwaltungsakte der Beklagten beigezogen. Wegen des weiteren Sachvortrags der Beteiligten und
des Sachverhalts im Einzelnen wird auf den Inhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig (§§ 87, 90, 92 SGG). Sie ist auch begründet.
Der Bescheid vom 20.04.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.06.2004 erweist sich als
rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 54 Abs. 2 SGG. Der Kläger hat einen Anspruch auf
Versorgung mit einer Braille-Zeile. Dieser Anspruch ergibt sich aus § 33 Abs. 1 SGB V.
Bei der Braille-Zeile handelt es sich um ein Hilfsmittel im Sinne des § 33 SGB V und nicht um einen
Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Ein Gegenstand, der in erster Linie für den Gebrauch durch Kranke oder
Behinderte konzipiert ist, wird erst dann zum Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, wenn er auch von
Nichtbehinderten in nennenswerter Zahl genutzt wird (vgl. BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 27 mwN). Dass es sich bei der
Braille-Zeile um einen Gegenstand handelt, der in erster Linie für sehbehinderte Menschen und von diesen am Markt
angenommen wird, bedarf keiner weiteren Ausführungen. Es handelt sich damit um ein Hilfsmittel und nicht um einen
Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens.
Die Braille-Zeile ist erforderlich zum Ausgleich einer bei dem Kläger bestehenden Behinderung, nämlich seiner
Blindheit. Welche Hilfsmittel im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V zum Behinderungsausgleich in der gesetzlichen
Krankenversicherung erforderlich sind, ist in § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX näher bestimmt. Danach dienen Hilfsmittel zur
medizinischen Rehabilitation nur der Befriedigung von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens. Soll ein Hilfsmittel
demgegenüber nur die Folgen einer Behinderung auf beruflichem, gesellschaftlichem oder sozialem Gebiet
ausgleichen, so handelt es sich entweder um eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 33 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 6,
Abs. 8 Satz 1 Nr. 4 SGB IX) oder eine Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (§ 55 Abs. 1, Abs. 2 Nr.
1 SGB IX). Hierfür sind die Krankenversicherungsträger nicht zuständig. Da die Begriffsbildung des Gesetzgebers des
SGB IX ersichtlich auf die bisherige Rechtsprechung zur medizinischen Rehabilitation im Hilfsmittelbereich abhebt,
kann auf die hierzu entwickelten Abgrenzungskriterien auch unter Geltung des SGB IX weiter zurückgegriffen werden.
Danach gehört zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens auch das Bedürfnis nach Kommunikation.
Für die Frage, welche Ansprüche Versicherte konkret gegen die Leistungsträger mit Erfolg geltend machen können,
ist nicht zuletzt auch die über die einfach gesetzlich normierten Tatbestände einwirkenden Grundrechten auszugehen.
Hier ist in aller erster Linie die in Artikel 5 Abs. 1 Satz 1 GG an zweiter Stelle gewährleistete Informationsfreiheit von
Bedeutung. Die Informationsfreiheit, also das Recht sich selbst unmittelbar aus allgemein zugänglichen Quellen
ungehindert zu unterrichten steht in der grundgesetzlichen Ordnung gleichwertig neben den anderen Grundrechten
(vgl. hierzu BVerfGE 27, 71, 81). Damit gehört neben der mündlichen auch die schriftliche Kommunikation, zumindest
in Gestalt des aktiven Lesens mit zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens. Dies gilt nicht nur für die bereits
genannten Rehabilitationsbereiche, sondern umfasst sämtliche Bereiche. So können wesentliche Erklärungen auf
beruflichem oder gesellschaftlichem Gebiet nur schriftlich abgegeben werden (vgl. z. B. §§ 355 Abs. 1 Satz 2, 550,
623 BGB). In anderen Fällen dient die Schriftform jedenfalls der Verkörperung der Erklärung und damit der
Beweiserleichterung. Nicht anders verhält es sich im privaten Bereich. Während ein Teil der Kommunikation hier
sicherlich unmittelbar mündlich oder jedenfalls unter zur Hilfenahme des Telefons erfolgen kann, entspricht es
allgemeinen Gepflogenheiten, z. B. Glückwünsche zu wichtigen Anlässen oder Kondolationen schriftlich zu
formulieren. Das dabei jeweils eine gewisse Form, zumindest direkte Lesbarkeit zu wahren ist, bedarf ebenfalls keiner
näheren Ausführung.
Dass Kommunikation in dem geschilderten Umfang zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehört, wird nicht
zuletzt auch durch das Regelungssystem des SGB IX bestätigt. Wie bereits ausgeführt, gehören dabei die Leistungen
zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich der Beklagten. Dem
entsprechend lässt sich §§ 55 ff SGB IX entnehmen, was nach Vorstellung des Gesetzgebers zu den über die
Grundbedürfnisse des täglichen Lebens hinausgehenden Bedürfnissen gehört. So umfasst die Hilfe zur Teilhabe am
gemeinschaftlichen und kulturellen Leben nach §§ 55 Abs. 2 Nr. 7, 58 Nr. 1 und 2 SGB IX "Hilfen zur Förderung der
Begegnung und des Umgangs mit nicht behinderten Menschen und Hilfen zum Besuch von Veranstaltungen oder
Einrichtungen, die der Geselligkeit, der Unterhaltung oder kulturellen Zwecken dienen". Beide genannten
Kommunikationsbereiche gehen jedoch weit über das hinaus, was nach den obigen Ausführungen noch zu den
Grundbedürfnissen zählt.
Mit dieser Beurteilung sieht sich das Gericht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil
vom 16.04.1998, B 3 KR 6/97 R). In dieser Entscheidung ist ein Versicherungsträger ebenfalls verurteilt worden, den
Kläger mit einer Braille-Zeile zu versorgen.
Der Kläger benötigt die Braille-Zeile zur Wahrnehmung seines Grundbedürfnisses nach schriftlicher Kommunikation. In
wieweit Behinderte auf die Hilfe von Familienangehörigen verwiesen werden können, bedarf dabei keiner
Entscheidung. Da die Ehefrau des Klägers offensichtlich ebenfalls stark Sehbehindert ist, kann sie ihm insoweit nicht
beistehen. Eine wirtschaftlichere Versorgungsmöglichkeit als die Anschaffung der Braille-Zeile ist nicht ersichtlich.
Insbesondere sind auf Seitens der Beklagten hierzu keinerlei Vorschläge unterbreitet worden. Schließlich ist die
Versorgung mit der Braille-Zeile auch angemessen. Nach dem glaubhaften Vortrag des Klägers ist davon auszugehen,
dass er das Gerät regelmäßig benutzen wird. Damit stehen Nutzen und Anschaffungskosten nicht außer Verhältnis.
Die Braille-Zeile ist nicht aufgrund der von § 34 Abs. 4 SGB V ergangenen Verordnung über Hilfsmittel von geringem
therapeutischem Nutzen oder geringem Abgabepreis in der gesetzlichen Krankenversicherung aufgeführt und damit
auch nicht durch diese Verordnung von der Versorgung ausgeschlossen.
Das Fehlen einer vertragsärztlichen Verordnung hindert den Versorgungsanspruch ebenfalls nicht. Nach der
Rechtsprechung des BSG, der das Gericht folgt, bedarf es bei der Versorgung mit Hilfsmitteln keiner
vertragsärztlichen Verordnung, weil der Verordnungsvorbehalt des § 15 Abs. 1 Satz 2 SGB V sich nur auf
Hilfeleistungen anderer Personen, nicht aber auf andere Leistungen erstreckt (BSG, SozR 3-2500 § 33 Nr. 28 und 33).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.