Urteil des SozG Frankfurt am Main vom 24.01.2006

SozG Frankfurt: arbeitsunfall, angriff, bestätigung, beweislast, motiv, gemeinde, arbeitsweg, eifersucht, zufall, baustelle

Sozialgericht Frankfurt
Urteil vom 24.01.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 10 U 643/02
Hessisches Landessozialgericht L 3 U 82/06
1. Der Bescheid vom 9. April 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Januar 2002 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verurteilt, das Ereignis vom 5. Dezember 2000 als Arbeitsunfall anzuerkennen und in
gesetzlichem Umfang zu entschädigen.
3. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Strittig ist unter den Beteiligten, ob es sich bei dem tätlichen Angriff auf den Kläger um einen Arbeitsunfall handelt.
Der im Jahre 1964 geborene Kläger ist von Beruf Bauingenieur und war zum Zeitpunkt des Überfalls Oberbauleiter bei
der Fa. D. und W. AG, F ...
Am 05.12.2000 wurde der Kläger auf dem Weg zur Arbeit vor seiner Wohnung beim Einsteigen in seinen PKW von
einem unbekannten, maskierten Täter überfallen. Dieser hatte ihn angegriffen und ihm mit einem großen Gegenstand
wie einer Machete oder ähnlichem am Kopf, Gesicht, Auge, rechte Schulter, beide Hände, am linken Unterarm und an
beiden Beinen massive Hiebverletzungen zugefügt.
Mit Bescheid vom 05.12.2000 lehnte die Beklagte die Anerkennung dieses Ereignisses als Arbeitsunfall ab, da es
sich um einen gezielten Angriff gegen den Kläger gehandelt habe, der nicht im Zusammenhang mit der betrieblichen
Tätigkeit gestanden habe. Für einen gezielten Angriff aus persönlichen Motiven spreche, dass der Kläger von dem
Täter offensichtlich aufgelauert worden sei. Auch die Tatsache, dass der Angreifer eine Waffe mit einer großen Klinge
bei sich getragen habe, spreche für eine geplante Tat. Dagegen gäbe es keine Anhaltspunkte für ein
betriebsbezogenes Tatmotiv.
Mit dem dagegen am 05.05.2001 eingelegten Widerspruch machte der Kläger u.a. geltend, dass auch ein gezielter
Angriff als Arbeitsunfall anerkannt werden könne. Es gäbe keinerlei Hinweise dafür, dass der Überfall privater Ursache
gewesen sei. Angesichts seiner Stellung als Oberbauleiter könne es ebenso sein, dass ein verärgerter
Nachunternehmer hinter der Tat stecke. Im Übrigen habe die Beklagte zu beweisen, dass der Überfall privat motiviert
gewesen sei. Dies sei ihr nicht gelungen, so dass sie angesichts der ihr obliegenden Beweislast das Ereignis als
Arbeitsunfall anzuerkennen habe.
Die Beklagte zog sodann die Ermittlungsunterlagen der Staatsanwaltschaft D. bei. Die Behörde teilte unter dem
16.11.2001 mit, dass bislang nicht habe geklärt werden können, aus welcher Motivation heraus der Kläger Opfer des
Angriffs geworden sei. Eine Festlegung auf ein privates oder betriebsbezogenes Motiv könne derzeit nicht erfolgen.
Sodann wies die Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 24.01.2002 zurück. Nach nochmaliger
Würdigung aller ermittelten Tatsachen sprächen die Indizien für eine gezielte und geplante Gewalttat aufgrund von
privaten Motiven aus dem früheren bzw. jetzigen familiären Umfeld. Die Hinweise des Klägers auf berufliche
Tatmotive hätten in den Ermittlungsakten keine Bestätigung gefunden. Soweit ergäben sich nicht einmal
Verdachtsmomente. Es hätten zur Tatzeit auch keine besonderen Umstände wie Dunkelheit oder einsame Gegend
vorgelegen, die den tätlichen Angriff auf dem Arbeitsweg entscheidend begünstigt hätten. Zur Bestätigung ihrer
Rechtsauffassung verwies die Beklagte auf das Urteil des BSG vom 30.06.1998 (B 2 U 27/97 R), in dem es um einen
Überfall auf einen Angehörigen der Sikh-Gemeinde ging. Auch hier seien Täter und Tatmotiv nicht abschließend zu
ermitteln gewesen. Da alle möglichen Beweggründe aber ausschließlich im Zusammenhang mit dem privaten Umfeld,
nämlich mit der Mitgliedschaft zu den Sikhs zu suchen gewesen seien, habe das BSG einen inneren Zusammenhang
des Arbeitsweges mit der beruflichen Tätigkeit abgelehnt und damit den Überfall nicht als Arbeitsunfall anerkannt. So
liege der Fall auch hier.
Mit der dagegen am 25.02.2002 erhobenen Klage setzt der Kläger sein Begehren fort. Auch nach Jahren hätten die
Täter und das Tatmotiv nicht aufgeklärt werden können. Die Auffassung der Beklagten, dass die Tat jedenfalls privat
motiviert gewesen sei, finde keinerlei Bestätigung in den Ermittlungsakten. Sie beruhe allein auf Vermutungen. Da die
Beklagte nicht in der Lage sei zu beweisen, dass der Überfall privat motiviert gewesen sei, habe sie das Ereignis als
Arbeitsunfall anzuerkennen.
Der Kläger beantragt, den Bescheid vom 09.04.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.01.02
aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, das Ereignis vom 05.12.2000 als Arbeitsunfall anzuerkennen und in
gesetzlichem Umfang zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen
Sie ist der Auffassung, dass nicht sie die Beweislast zu tragen, sondern der Kläger nachzuweisen habe, dass der
Überfall betrieblich motiviert gewesen sei. Dies sei ihm trotz der umfangreichen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft
nicht gelungen.
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Das Gericht hat die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft D. beigezogen. Aus dem Anschreiben vom 29.09.2005
geht hervor, dass keine weiteren Ermittlungsergebnisse vorliegen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakten, auf die Verwaltungsakten der
Beklagten sowie auf die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Darmstadt, die Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die rechtzeitig erhobene Klage ist zulässig und in der Sache auch begründet. Die Beklagte hat das Ereignis vom
05.12.2000 als Arbeitsunfall anzuerkennen und zu entschädigen.
Nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) VII sind versicherte Tätigkeiten auch das Zurücklegen des mit der
versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges von und nach dem Ort der Arbeitsstätte
(Wegeunfall). Dieser Unfallversicherungsschutz entfällt auch nicht deshalb, weil ein Verletzter einem Überfall, also
einem vorsätzlichen Angriff zum Opfer gefallen ist. Bei der Frage, ob ein Überfall auf dem Weg nach oder von der
Arbeitstätte als Arbeitsunfall (Wegeunfall) anzusehen ist, kommt es nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. u.a.
Urteil vom 30.06.1998, Az Beklagte 2 U 27/97, JURIS) in der Regel entscheidend auf die Beweggründe des Angreifers
an. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es unbedingt eines betriebsbezogenen Tatmotivs bedarf, um den inneren
Zusammenhang zwischen dem Überfall als Unfallereignis und der versicherten Tätigkeit herzustellen. Dieser
Zusammenhang ist nämlich nach der Rechtsprechung des BSG von vornherein grundsätzlich gegeben, sofern der –
ohne erhebliche Umwege oder Unterbrechungen zurückgelegte – Weg nach oder von der Arbeitsstätte den
Versicherten an die Stelle geführt hat, wo im fraglichen Zeitpunkt eine zur Gewalttat entschlossene Person seiner
habhaft werden kann. Dieser Zusammenhang verliert indes an Bedeutung, wenn die Beweggründe dem privaten
Bereich des Verletzten zuzurechnen sind. Dann bedeutet die Zurücklegung des Weges nach oder von der
Arbeitsstätte oft nur eine von vielen Gelegenheiten für den Angreifer, die verfeindete Person zu überfallen, die ihm
genauso gut zu anderer Zeit an anderer Stelle erreichbar gewesen wäre. Die Erwägung, dass hier die betriebsfremden
Beziehungen zwischen Täter und Versichertem vorherrschen und den Zusammenhang des Überfalls mit dem
Zurücklegen des versicherten Weges als rechtlich unwesentlich zurückdrängen, rechtfertigt in solchen Fällen die
Versagung des Versicherungsschutzes. In Fällen dieser Art kann allerdings gleichwohl Unfallversicherungsschutz
gegeben sein, wenn besondere Verhältnisse bei der Zurücklegung des Weges (z. B. Dunkelheit, einsame Gegend) die
Verübung der Gewalttat entscheidend begünstigt haben.
Ausgehend von diesen Grundsätzen handelt es sich bei dem streitigen Überfall auf den Kläger um einen Arbeitsunfall.
Der Kläger befand sich zum Unfallzeitpunkt unstreitig auf dem Weg zur Arbeit, so dass er grundsätzlich im Zeitpunkt
des Überfalls unter dem Schutz der Unfallversicherung stand. Entgegen der Auffassung der Beklagten bedarf es für
die Annahme eines inneren Zusammenhangs zwischen einem Überfall auf dem Arbeitsweg und der betrieblichen
Tätigkeit nicht des Nachweises eines betriebsbezogenen Motivs. Entscheidend ist vielmehr der Nachweis, ob der
Kläger aufgrund eines überwiegend persönlichen Tatmotivs Opfer des Überfalls geworden ist und für das Vorliegen
dieses rechtsvernichtenden Tatmotivs trägt die Beklagte die objektive Beweislast (so Urteil des BSG: 2 RU 40/78,
JURIS).
Die Beklagte hat indes nicht zur Überzeugung der Kammer nachweisen können, dass die Tat überwiegend persönlich
motiviert war. Nach dem Gesamtergebnis der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen konnten bislang weder ein Täter
noch ein Tatmotiv festgestellt werden. Infolgedessen hat die zuständige Staatsanwaltschaft D. ausdrücklich
festgestellt, dass bislang ungeklärt sei, aus welcher Motivation heraus der Kläger Opfer des Angriffs geworden sei.
Eine Festlegung auf ein privates oder betriebsbezogenes Motiv könne bislang nicht erfolgen.
Die Versuche der Beklagten, aus den Gesamtumständen der Ermittlungsergebnisse und insbesondere aus den
Aussagen der vernommenen Personen ein persönliches Tatmotiv herzuleiten, überzeugen nach Auffassung der
Kammer nicht. So spricht der Umstand, dass es sich um eine gezielte und geplante Tat gehandelt hat, nicht zwingend
für ein persönliches Motiv. Auch eine betrieblich motivierte Tat kann vorbereitet und geplant sein. Das Verhalten des
Täters zeigt nur, dass er es nicht dem Zufall überlassen wollte, das Opfer zu treffen und erheblich zu verletzen. Die
weiter von der Beklagten vorgebrachten Argumente, etwa dass der Kläger angesichts seiner Frauenbekanntschaften
aus Eifersucht, Hass oder Wut Opfer des Überfalls wurde, stellen nach Auffassung der Kammer bloße Vermutungen
und vage Spekulationen dar. Angesichts seiner Stellung als Oberbauleiter einer großen Baustelle hält es die Kammer
für ebenso möglich, dass der Kläger von irgendeinem seiner zahlreichen, ihm naturgemäß nicht bekannten Mitarbeiter
eines seiner Subunternehmen überfallen wurde. Schließlich kann der Kläger Opfer einer Verwechslung gewesen sein,
was ebenfalls unfallversicherungsrechtlich geschützt wäre. Der vorliegende Sachverhalt ist nach Auffassung der
Kammer gerade nicht zu vergleichen mit den Tatumständen in dem Sikh-Urteil (BSG vom 30.06.1998, a.a.O.). Hier
waren alle möglichen Tatmotive ausschließlich im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Klägers in der Sikh-
Gemeinde und den dortigen Auseinandersetzungen zu suchen und es war nur deshalb nicht zu einer Anklage der
Beschuldigten gekommen, weil die gewonnenen Erkenntnisse zur Begründung eines hinreichenden Tatverdachts nicht
ausreichten. Vorliegend gibt es nicht einmal konkrete Anhaltspunkte für ein Tatmotiv, selbst die Sendung XY-
ungelöst erbrachte kein Ergebnis. Wenn mithin die Beweggründe des Täters nach wie vor völlig unklar sind, hält die
Kammer den erforderlichen Nachweis eines persönlichen Tatmotivs für nicht erbracht. Die Folgen dieser
Beweislosigkeit gehen zu Lasten der Beklagten, so dass sie den streitbefangenen Überfall als Arbeitsunfall
anzuerkennen hat.
Die Beklagte wird nunmehr Art und Ausmaß der Unfallfolgen zu prüfen haben, um die Höhe der
Entscheidungsleistungen feststellen zu können.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG