Urteil des SozG Frankfurt am Main vom 18.01.2006

SozG Frankfurt: eheähnliche gemeinschaft, schutz der menschenwürde, erlass, anschluss, lebensgemeinschaft, kauf, erfüllung, hauptsache, rückzahlung, sicherstellung

Sozialgericht Frankfurt
Beschluss vom 18.01.2006 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 29 AS 7/06 ER
1. Die Ag. wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, vorläufig für die Zeit seit 03.01.2006 bis zum Ablauf
eines Monats nach Erlass der Entscheidung über den Widerspruch des Ast. gegen den Bescheid der Ag. vom
01.12.2005, längstens jedoch bis zum 31.05.2006, bei der Berechnung der dem Ast. bewilligten Leistungen nach dem
SGB 2 weder Einkommen noch Vermögen der Frau R. E. zu berücksichtigen.
2. Die Ag. hat dem Ast. seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
Es kann derzeit nicht vom Bestehen einer eheähnlichen Gemeinschaft des Ast. mit Frau R. E. (nachfolgend E.
genannt) ausgegangen werden.
Das Hessische Landessozialgericht (HLSG) hat in seinem Beschluss vom 06.01.2006 (L 7 AS 87/05 ER) ausgeführt:
"Eine eheähnliche Gemeinschaft ist allein die auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft eines Mannes und einer Frau,
die daneben keine weiteren Lebensgemeinschaften gleicher Art zulässt und sich – im Sinne einer Verantwortungs-
und Einstehensgemeinschaft – durch innere Bindungen auszeichnet, die ein gegenseitiges Einstehen der Paare
füreinander begründen, also über eine reine Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft hinausgeht (BVerfG, Urteil vom
17. November 1992 – 1 BvL 8/87, BVerfGE 87, 234, 264; BSG, Urteil vom 17. Oktober 2002 – B 7 AL 96/00 R –
SozR 3-4100 § 119 Nr. 26; Landessozialgericht – LSG – Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 22. April 2005 – L 2 B 9/05
AS ER). Kriterien für die Ernsthaftigkeit einer Beziehung im vorbezeichneten Sinne, wobei an die Ernsthaftigkeit
strenge Anforderungen zu stellen sind (Beschluss des HLSG vom 27. Juli 2005 – L 7 AS 18/05 ER im Anschluss an
das Urteil des BSG vom 17. Oktober 2002 – B 7 AL 72/00 R – SozR 3- 4300 § 144 Nr. 10), sind insbesondere deren
Dauerhaftigkeit und Kontinuität und eine bestehende Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft, daneben aber auch
weitere Umstände, etwa die gemeinsame Versorgung von Angehörigen. Dagegen setzt die Annahme einer
eheähnlichen Gemeinschaft nicht die Feststellung voraus, dass zwischen den Partnern geschlechtliche Beziehungen
bestehen (BSG, Urteil vom 17. Oktober 2002 – B 7 AL 96/00 R – a. a. O.). Das Vorliegen einer derartig
charakterisierten Gemeinschaft, in der ein gegenseitiges Einstehen in den Not- und Wechselfällen des Lebens von
beiden Personen erwartet werden kann, ist derzeit jedenfalls nicht überwiegend wahrscheinlich.
Der 7. Senat des HLSG hat bereits geklärt, dass diese Begriffserläuterung nicht auf das Recht der
Arbeitslosenversicherung beschränkt ist (Beschluss des erkennenden Senats vom 27. Juli 2005 – L 7 AS 18/05 ER).
Im Anschluss an die Entscheidung des BVerfG (Urteil vom 17. November 1992 a. a. O.) ist auch das
Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) unter Aufgabe seiner früheren abweichenden Rechtsprechung im Wesentlichen
von vorgenannten Grundsätzen ausgegangen (BVerwG, Urteil vom 17. Mai 1995 – 5 C 16/93 – BVerwGE 98, 195, 198
f.). Insoweit besteht in der Rechtsprechung insbesondere Übereinstimmung, dass das Zusammenleben unter einer
Meldeanschrift noch kein Indiz für das Bestehen einer eheähnlichen Gemeinschaft im Sinne einer Verantwortungs-
und Einstehensgemeinschaft – vor allem in den Notfällen des Lebens – darstellt."
Nach dem vorliegend festzustellenden Sachverhalt gibt es freilich Indizien, die für das Bestehen einer eheähnlichen
Gemeinschaft sprechen. Darauf hat die Ag. zu Recht einerseits hingewiesen. Sie hat jedoch andererseits weitere
Umstände, die gegen eine eheähnliche Gemeinschaft sprechen, nicht ermitteln können.
Der Ast. hat im November 2005 im Antragsformular selbst angegeben, E. sei seit 28.09.2005 seine Partnerin in einer
eheähnlichen Gemeinschaft. In seinem Schreiben vom 01.12.2005 hat der Ast. E. als "meine Lebenspartnerin"
bezeichnet, die sich seit dem 01.01.2005 bei ihm angemeldet habe.
Daraus allein kann freilich das Vorliegen einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft nicht gefolgert werden.
Dem könnte ein Beweiswert lediglich dann zugesprochen werden, wenn im Antragsvordruck auch die Möglichkeit
vorgegeben worden wäre, ein Zusammenwohnen lediglich als Zweckgemeinschaft zu bezeichnen. Das war indes nicht
der Fall, weil in dem Abschnitt "Familienstand" nur vorgegeben war, die Kästchen "ledig", "verheiratet", "getrennt
lebend", "eingetragene Lebenspartnerschaft", "geschieden" oder "verwitwet" anzukreuzen. Den subjektiven
Einschätzungen der gegenseitigen Bezeichnung seitens der Antragsteller kann daher aufgrund der beschränkten
Ankreuzvarianten kein besonderes Gewicht beigemessen werden (vgl. bereits SG Darmstadt, Beschluss vom 1. Juni
2005 – S 23 AS 212/05 ER).
Dass der Ast. in seinem Schreiben vom 01.12.2005 E. als "meine Lebenspartnerin" bezeichnet hat, ist wohl eher auf
die schlechten deutschen Sprachkenntnisse des Ast. zurückzuführen, der damit nur die Bezeichnung aus dem
Antragsformular übernommen haben dürfte.
Vor allem hat die Ag. den Umstand nicht hinreichend berücksichtigt, dass E. erst im Januar 2005 in die Wohnung
eingezogen ist. Wie ausgeführt, ist ein wichtiges Kriterium für die Ernsthaftigkeit einer Beziehung einer
Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft auch deren Dauerhaftigkeit. Davon kann vorliegend keine Rede sein.
Zwar hat das BSG die von ihm zunächst geforderte "Dreijahresgrenze" (BSG SozR 3-4100 § 119 Nr. 15) später
relativiert und dargelegt, sie sei nicht im Sinne einer absoluten zeitlichen Mindestvoraussetzung für die Annahme
einer eheähnlichen Gemeinschaft zu verstehen (BSG, Urteil vom 17. Oktober 2002 – B 7 AL 96/00 R). Jedoch hat es
betont, dass die bisherige Dauer des Zusammenlebens ein wesentliches Indiz für die Ernsthaftigkeit der Beziehung
sei (s. auch BSG, Urteil vom 17. Oktober 2002 – B 7 AL 72/00 R – a. a. O.).
Allein die (wohl irrtümliche) Angabe des Ast. er lebe mit E. in einer eheähnlichen Gemeinschaft reicht als Feststellung
derselben nicht aus.
Vielmehr geht die Kammer bei summarischer Beurteilung daher allenfalls vom Bestehen einer Wohn- und
Zweckgemeinschaft, nicht aber von einer eheähnlichen Gemeinschaft aus.
Das HLSG hat in seinem o.g. Beschluss vom 06.01.2006 (L 7 AS 87/05 ER) weiter ausgeführt:
"Der Senat verkennt nicht, dass die Feststellung einer eheähnlichen Gemeinschaft den Antragsgegner vor erhebliche
Probleme stellt. Sie haben im Übrigen – wenn auch in anderem Zusammenhang – nach Presseberichten dazu geführt,
dass die Bundestagsverwaltung auf eine Prüfung, ob ein Abgeordneter in einer eheähnlichen Gemeinschaft lebt,
verzichtet und nur noch Partner einer eingetragenen Lebensgemeinschaft berücksichtigt (vgl. Süddeutsche Zeitung
vom 10./11. September 2005). Ein entsprechendes Verhalten kann zwar vor dem gesetzlichen Hintergrund des SGB II
dem Antragsgegner nicht angesonnen werden. Die bezeichneten Probleme sind indes im Rahmen des einstweiligen
Rechtsschutzes in Kauf zu nehmen. Denn die leichtfertige Annahme des Vorliegens einer eheähnlichen Gemeinschaft
beinhaltet die doppelte Gefahr, dass einem Antragsteller Unterstützungsleistungen von seinem "Partner" mangels
"innerer Bindungen" versagt bleiben, der tatsächlich hilfsbedürftige Antragsteller darüber hinaus ohne
existenzsichernde Leistungen bleibt, die für ihn ein menschenwürdiges Leben sichern sollen (vgl. BVerfG, Beschluss
vom 12. Mai 2005 1 BvR 569/05). ( )
Der Senat hat auch einen Anordnungsgrund bejaht. Die Folgenabwägung im Rahmen dieser Voraussetzung fällt
vorliegend zu Gunsten des Antragstellers aus. Die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB
II dienen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens, mithin der Erfüllung einer verfassungsrechtlichen
Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutz der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot
folgt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 – unter Hinweis auf BVerfGE 82, 60, 80). Ohne den
Erlass einer einstweiligen Anordnung bliebe das Existenzminimum des Antragstellers noch für mehrere Monate nicht
gedeckt. Dabei handelt es sich um eine erhebliche Beeinträchtigung, die auch nachträglich bei einem erfolgreichen
Abschluss des Widerspruchs- oder Klageverfahrens nicht mehr bzw. nur mit längerer Verzögerung ausgeglichen
werden kann, weil der elementare Lebensbedarf eines Menschen grundsätzlich nur in dem Augenblick befriedigt
werden kann, in dem er entsteht. Insoweit wäre zu Lasten des Antragstellers eine "Vorwegnahme der Hauptsache"
eingetreten. Der Umstand, dass der Antragsteller bisher "überlebt" hat, führt nicht zum Wegfall des
Anordnungsgrundes, begründet insbesondere nicht die vom SG gezogene Schlussfolgerung, gerade daraus ergebe
sich die Einstehensgemeinschaft (dazu siehe den Beschluss des erkennenden Senats vom 29. Juni 2005 – L 7 AS
1/05 ER m. w. N.). Der zu befürchtenden Beeinträchtigung der Menschenwürde durch die Vorenthaltung von
Leistungen zur Existenzsicherung steht lediglich die Möglichkeit ungerechtfertigter Geldzahlungen seitens des
Antragsgegners gegenüber. Vor dem Hintergrund, dass dieser im Falle erfolgloser Rechtsbehelfe von dem
Antragsteller grundsätzlich die Rückzahlung von Leistungen geltend machen kann, ist diese Möglichkeit im Rahmen
der Folgenabwägung indes von geringem Gewicht und in Kauf zu nehmen."