Urteil des SozG Frankfurt am Main vom 28.07.2004

SozG Frankfurt: werkstatt, behörde, behinderter, form, gehalt, gesamtplan, ordnungsvorschrift, dach, zukunft, gesundheitszustand

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Gericht:
SG Frankfurt (Oder)
7. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 7 SO 2/05
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 53 Abs 1 S 1 SGB 12, § 54 Abs
1 S 1 SGB 12, § 17 Abs 2 SGB
12, § 9 Abs 2 SGB 12, § 55 SGB
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Sozialhilfe - Eingliederungshilfe - Tagesförderung in einer vom
Wohnen getrennten Förderungsstätte - Förder- und
Beschäftigungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen
(WfbM) - Ermessen - Auslegung - geeignete Maßnahme -
Wunsch- und Wahlrecht
Tenor
1. Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger unter Abänderung des Bescheides vom
28.07.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.02.2005
Eingliederungshilfe im Förder- und Beschäftigungsbereich des Beigeladenen zu 2) für die
Zeit vom 01.10.2009 bis 30.11.2011 zu gewähren.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des
Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung von Eingliederungshilfe im Förder- und
Beschäftigungsbereich (FBB) der Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM).
Der 1967 geborene Kläger leidet unter einer geistigen Behinderung und einer Spastik
der Gliedmaßen.
Der Kläger wohnt seit 2003 in der stationären Wohnstätte „S...“ der gGmbH L...
Wohnstätten B... (Beigeladene zu 1) in E... und erhält hierfür Eingliederungshilfe. Er
besuchte vom 02.10.1995 bis 31.12.1996 den Eingangsbereich, vom 01.01.1996 bis
31.10.1996 den Arbeitstrainingsbereich und vom 01.11.1996 bis 30.09.2004 den FBB der
WfbM der gGmbH L... Anerkannte Werkstatt für behinderte Menschen (Beigeladene zu 2)
in E....
Mit Bescheid vom 09.09.2002 gewährte der Beklagte dem Kläger Eingliederungshilfe im
FBB der WfbM befristet bis vorerst 31.05.2004. Mit Bescheid vom 07.06.2004 gewährte
der Beklagte dem Kläger Eingliederungshilfe im FBB der WfbM befristet vom 01.06.2004
bis 31.07.2004. Der Kläger erhob hiergegen mit Schreiben seiner Betreuerin vom
05.07.2004 Widerspruch. Mit Bescheiden vom 28.07.2004 nahm der Beklagte den
Bescheid vom 05.07.2004 mit Wirkung vom 01.06.2004 zurück und gewährte dem Kläger
Eingliederungshilfe im FBB der WfbM befristet vom 01.06.2004 bis 30.09.2004. Der
Kläger erhob hiergegen mit Schreiben seiner Betreuerin vom 10.08.2004 Widerspruch.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 11.02.2005 zurück.
Dagegen richtet sich die mit Schriftsatz vom 11.03.2005 erhobene Klage.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 28.07.2004 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 11.02.2005 abzuändern und den Beklagten
zu verpflichten, dem Kläger Eingliederungshilfe im Förder- und
Beschäftigungsbereich des Beigeladenen zu 2) ab dem 01.10.2009 zu
gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
Verwaltungsakte des Beklagten und die Gerichtsakte, die Gegenstand der mündlichen
Verhandlung waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
1.
Die Klage ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang auch begründet.
Wegen des Gegenstands der Klage in zeitlicher Hinsicht wird auf die Ausführungen
nachfolgend unter 3. verwiesen.
2.
Der Kläger hat einen Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe im Förder- und
Beschäftigungsbereich des Beigeladenen zu 2).
Dass der Kläger zu dem von § 53 Abs. 1 Satz 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB
XII) erfassten Personenkreis zählt und Anspruch auf Eingliederungshilfe in Form von
Leistungen der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i. V.
m. §§ 55 ff. Neuntes Buch Sozialgesetzbuch – SGB IX –) hat, ist zu Recht unstreitig.
Eingliederungshilfe (Leistungen der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft) wird dem
Grunde nach auch bisher bereits gewährt (stationäre Heimpflege).
Art und Maß der Eingliederungshilfe steht grundsätzlich im Ermessen des Beklagten (§
17 Abs. 1 SGB XII).
Das Ermessen ist jedoch vorliegend durch § 136 Abs. 3 SGB IX dahin eingeschränkt,
dass Eingliederungshilfe im Förder- und Beschäftigungsbereich einer WfbM zu gewähren
ist. Nach § 136 Abs. 3 SGB IX sollen behinderte Menschen, die die Voraussetzungen für
eine Beschäftigung in einer Werkstatt nicht erfüllen, in Einrichtungen oder Gruppen
betreut und gefördert werden, die der Werkstatt angegliedert sind.
Nach Auffassung der Kammer handelt es sich bei § 136 Abs. 3 SGB IX um eine
Sollvorschrift im verwaltungsrechtlichen Sinne, d. h. wenn kein atypischer Fall vorliegt,
besteht ein Rechtsanspruch im Sinne einer gebundenen Entscheidung, und wenn ein
atypischer Fall vorliegt, hat die Behörde Ermessen.
§ 136 Abs. 3 SGB IX betrifft nicht nur die Organisation der WfbM dahingehend, dass der
WfbM ein FBB angegliedert werden soll (ebenso VG Potsdam vom 18.07.2008, Az. 11 K
2483/04, http://www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de). Gegen eine
Auslegung als bloße Organisationsvorschrift spricht bereits der Wortlaut. Eine
Formulierung, dass für behinderte Menschen, die die Voraussetzungen für eine
Beschäftigung in einer Werkstatt nicht erfüllen, der Werkstatt Einrichtungen oder
Gruppen zur Förderung und Betreuung angegliedert werden sollen, ist in § 136 Abs. 3
SGB IX nicht erfolgt. Vielmehr besagt der Wortlaut, dass die näher bezeichneten
behinderten Menschen in Einrichtungen oder Gruppen betreut und gefördert werden
sollen, die der Werkstatt angegliedert sind. Zudem spricht gegen die Auslegung des §
136 Abs. 3 SGB IX als reine Organisationsnorm, dass auch der ähnlich formulierte § 137
SGB IX nicht nur die Aufgaben von Werkstätten für behinderten Menschen regelt,
sondern Ansprüche von behinderten Menschen begründet. Nach § 137 Abs. 1 Satz 1
erster Halbsatz SGB IX nehmen anerkannte Werkstätten diejenigen behinderten
Menschen aus ihrem Einzugsgebiet auf, die die Aufnahmevoraussetzungen gemäß §
136 Abs. 2 SGB IX erfüllen, wenn Leistungen durch die Rehabilitationsträger
gewährleistet sind. Nach § 137 Abs. 1 SGB IX werden behinderte Menschen in der
Werkstatt beschäftigt, solange die Aufnahmevoraussetzungen nach § 137 Abs. 2 SGB IX
erfüllt sind. § 137 SGB IX normiert in Absatz 1 den Rechtsanspruch derjenigen
behinderten Menschen auf Aufnahme in eine anerkannte Werkstatt für behinderte
Menschen, die die Voraussetzungen des § 136 Abs. 2 SGB IX erfüllen (Götze in
Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch IX, Kommentar, K § 137 Rdnr. 1, 3; Drucksache 3/7565
des Brandenburgischen Landtags – Antwort der Brandenburgischen Landesregierung auf
die Große Anfrage Nr. 68 der Fraktion der PDS vom 23.02.2004 –). Darüber hinaus
enthält § 137 Abs. 2 SGB IX einen Anspruch des behinderten Menschen auf
Weiterbeschäftigung in der Werkstatt, solange die Aufnahmevoraussetzungen nach §
137 Abs. 1 SGB IX vorliegen (Götze in Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch IX, Kommentar, K §
137 Rdnr. 1, 3).
§ 136 Abs. 3 SGB IX enthält über seinen die Organisation der WfbM betreffenden Gehalt
auch eine Wertentscheidung des Gesetzgebers, wie die Betreuung nicht werkstattfähiger
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auch eine Wertentscheidung des Gesetzgebers, wie die Betreuung nicht werkstattfähiger
Behinderter im Regelfall zu erfolgen hat.
Die Regelung bringt die gesetzgeberische Intention zum Ausdruck, den behinderten
Menschen auch in räumlicher Hinsicht einen „zweiten Lebensraum“ zu eröffnen und
dadurch ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu erweitern. Nach den
Vorstellungen des Gesetzgebers soll die Tagesförderung grundsätzlich nicht in der
Wohnstätte, sondern räumlich davon getrennt erfolgen. Auch denjenigen Behinderten,
die (ggf. dauerhaft) nicht werkstattfähig sind, wird damit die Möglichkeit eingeräumt,
einen den Gewohnheiten Nichtbehinderter ähnlichen Tagesablauf zu erleben (VG
Potsdam vom 18.07.2008, Az. 11 K 2483/04, VG Frankfurt (Oder), Urteil vom
12.11.2008, 6 K 1620/04, beide http://www.gerichtsentscheidungen.berlin-
brandenburg.de).
Über diese, teilweise als Zwei-Milieu-Prinzip bezeichnete, Wertentscheidung für
räumliche Trennung von Wohnen und Leistungen zur Teilhabe am Leben in der
Gemeinschaft hinaus, stellt § 136 Abs. 3 SGB IX aber auch eine den Sozialhilfeträger
verpflichtende Anspruchsnorm in Form einer Soll-Vorschrift dar (so auch VG Potsdam,
Urteil vom 18.07.2008, Az. 11 K 2483/04; zweifelnd VG Frankfurt (Oder), Urteil vom
12.11.2008, 6 K 1620/04). Soll-Vorschriften im verwaltungsrechtlichen Sinne sind im
Regelfall für die mit ihrer Durchführung betraute Behörde rechtlich zwingend und
begründen für den Begünstigten einen Rechtsanspruch; im Normalfall bedeutet das
„Soll“ also ein „Muss“. Nur dann, wenn ein atypischer Fall vorliegt, ist die Behörde zur
Ermessensausübung berechtigt und verpflichtet, mit der Folge, dass der Begünstigte nur
einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung hat (BSG, Urteil vom
06.11.1985, Az.: 10 RKg 3/84, BSGE 59, 111 ff. = SozR 1300 § 48 Nr. 19 = NJW 1987,
1222 ff.; BVerwG, Urteil vom 02.07.1992, 5 C 39/90, BVerwGE 90, 275 ff. = MDR 1992,
1156 ff.).
Dass es sich bei § 136 Abs. 3 SGB IX um eine Soll-Vorschrift im verwaltungsrechtlichen
Sinne handelt, ergibt sich nicht zwingend aus der Verwendung des Wortes „sollen“. Die
Verwendung des Wortes „sollen“ in sozialrechtlichen oder verwaltungsrechtlichen
Gesetzen bedeutet meist, dass es sich bei der jeweiligen Vorschrift um eine Soll-
Vorschrift im verwaltungsrechtlichen Sinne handelt. Das Wort „sollen“ kann,
insbesondere in verfahrensrechtlichen und organisationsrechtlichen Zusammenhängen,
aber auch eine bloße Ordnungsvorschrift kennzeichnen, also eine Vorschrift, deren
Einhaltung zwar vom Gesetzgeber für sinnvoll erachtet wird, aber deren Verletzung zu
keinen Rechtsfolgen führt und auf deren Einhaltung kein Anspruch besteht. Dass § 136
Abs. 3 SGB IX, wie oben dargestellt, keine reine Organisationsnorm ist, spricht daher für
ein Verständnis als Soll-Vorschrift im verwaltungsrechtlichen Sinne, also
anspruchsbegründende Norm. Auch die systematische Stellung im Zwölften Kapitel des
SGB IX (Werkstätten für behinderte Menschen), spricht eher für als gegen einen
individualrechtlichen, anspruchsbegründenden Gehalt, da der im selben Kapitel
stehende § 137 SGB IX werkstattfähigen Versicherten einen Anspruch auf Aufnahme
bzw. Verbleib in der WfbM gewährt, also Anspruchsgrundlage ist. Für eine Auslegung als
Soll-Vorschrift im verwaltungsrechtlichen Sinn spricht auch § 2 Abs. 2 zweiter Halbsatz
SGB I i. V. m. § 9 SGB XII. Nach § 2 Abs. 2 SGB I sind die in §§ 3 bis 10 SGB I genannten
sozialen Rechte bei der Auslegung der Vorschriften des Sozialgesetzbuchs und bei der
Ausübung von Ermessen zu beachten; dabei ist sicherzustellen, dass die sozialen
Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. Nach § 9 Satz 1 SGB I hat, wer nicht in
der Lage ist, aus eigenen Kräften seinen Lebensunterhalt zu bestreiten oder in
besonderen Lebenslagen sich selbst zu helfen, und auch von anderer Seite keine
ausreichende Hilfe erhält, ein Recht auf persönliche und wirtschaftliche Hilfe, die seinem
besonderen Bedarf entspricht, ihn zur Selbsthilfe befähigt, die Teilnahme am Leben in
der Gemeinschaft ermöglicht und die Führung eines menschenwürdigen Lebens sichert.
Nach § 10 Nr. 4 SGB I haben Menschen, die körperlich, geistig oder seelisch behindert
sind, zur Förderung ihrer Selbstbestimmung und gleichberechtigten Teilhabe ein Recht
auf Hilfe, die notwendig ist, um ihre Entwicklung zu fördern und ihre Teilhabe am Leben in
der Gesellschaft und eine möglichst selbständige und selbstbestimmte Lebensführung
zu ermöglichen oder zu erleichtern. Das soziale Recht der Teilhabe am Leben in der
Gemeinschaft wird weitergehend verwirklicht, wenn man § 136 Abs. 3 SGB IX als Soll-
Vorschrift im verwaltungsrechtlichen Sinn auslegt, also ihr einen individualrechtlichen,
anspruchsbegründenden Gehalt beimisst, als wenn man sie nur als bloße
Ordnungsvorschrift und Ausdruck einer Wertentscheidung des Gesetzgebers ansieht.
Die Vorschriften des SGB IX und damit auch § 136 Abs. 3 SGB IX gelten gemäß § 53 Abs.
4 SGB XII und § 7 SGB IX auch für Eingliederungshilfe nach dem SGB XII und regeln das
„Wie“ der Leistung und konkretisieren § 9 SGB XII; eine gegenüber § 136 Abs. 3 SGB IX
abweichende Bestimmung enthält das SGB XII nicht (VG Potsdam, Urteil vom
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abweichende Bestimmung enthält das SGB XII nicht (VG Potsdam, Urteil vom
18.07.2008, Az. 11 K 2483/04).
Ein atypischer Fall im Sinne des § 136 Abs. 3 SGB IX, der das Ermessen der Behörde
eröffnen würde, liegt nicht vor. Ein atypischer Fall läge z. B. vor, wenn ein regelmäßiger
Ortswechsel mit besonderen Beschwernissen verbunden wäre, eine dem individuellen
Bedarf entsprechende Förderung in der der Werkstatt angegliederten Einrichtung nur
eingeschränkt erbracht werden könnte oder der Integration in die Gruppe erhebliche
Schwierigkeiten entgegenstünden (VG Potsdam, Urteil vom 18.07.2008, Az. 11 K
2483/04). Ein atypischer Fall läge aber auch dann vor, wenn eine gleichwertige
anderweitige Förderung und Beschäftigung abgesichert ist. § 136 Abs. 3 SGB IX will zwar
die Förderung und Beschäftigung nicht werkstattfähiger Behinderter sicherstellen und
hält der WfbM angegliederte Bereiche dafür für geeignet, ist aber nicht dahin
auszulegen, dass er einen absoluten Vorrang der Förderung und Beschäftigung unter
dem verlängerten Dach der Werkstatt eröffnen würde (so auch VG Frankfurt (Oder),
Urteil vom 12.11.2008, 6 K 1620/04). Hingegen stellt es keinen atypischen Fall dar, wenn
ein Behinderter aktuell oder auf Dauer nicht werkstattfähig ist. Dass jedenfalls aktuell
keine Werkstattfähigkeit besteht, ist nach § 136 Abs. 3 SGB IX gerade Voraussetzung für
den Besuch des FBB. Einen Übergang in den Arbeitsbereich der WfbM zu vermitteln, ist
in erster Linie Aufgabe des Berufsbildungsbereichs der WfBM, während beim FBB die
Durchlässigkeit zur WfbM nur für einen Teil der im FBB zu fördernden und betreuenden
Personen relevant ist. Gerade bei nicht werkstattfähigen Behinderten ist auch der
Aufenthalt in einer stationären Einrichtung (Wohnstätte) nicht unüblich und damit nicht
atypisch.
Eine Förderung in der Wohngruppe ist bei Behinderten, die nach ihrem
Gesundheitszustand und ihren Fähigkeiten einen Förder- und Beschäftigungsbereich
besuchen könnten, nicht gleichwertig. Im Gegensatz zum FBB der WfbM oder zu einer
gleichwertigen Maßnahme eröffnet sie dem behinderten Mensch keinen zweiten
Lebensraum mit den damit verbundenen Kontakten, Impulsen und Erfahrungen und
vermittelt ihm auch nicht das Gefühl, „arbeiten“ zu gehen, sondern grenzt ihn
gegenüber anderen Bewohnern der Wohnstätte, die tagsüber in der WfbM oder dem FBB
sind, aus. Dies deckt sich mit den Ausführungen in Punkt II. b des Beschlusses Nr. 3/95
der Entgeltkommission des Landes Brandenburg gemäß § 93 BSHG vom 09.11.1995
(der soweit ersichtlich weiterhin fortgilt), dass tagesstrukturierende Förder- und
Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen in Wohnstätten nur als
absolute Ausnahme und Übergangsform akzeptiert werden können, wenn diese weder in
Werkstätten noch im sogenannten verlängerten Dach der WfbM oder in separaten
Förder- und Beschäftigungsbereichen, angebunden an die Wohnstättenregion, als
Angebot vorgehalten werden, oder dann wenn der pflegerische Aufwand so hoch ist und
dem behinderten Menschen ein Transport nicht zugemutet werden kann. Ausweislich der
Darstellung der Tagesstruktur des Klägers im Schriftsatz der Beigeladenen zu 1)
(Wohnstätte) vom 26.06.2009 findet zwar in der Wohnstätte ein tagesstrukturierendes
Angebot statt, aber nur in der Form, dass für 11 behinderte Menschen, die jeweils eine
1:1- bis 1:3-Betreuung benötigen, insgesamt eine Fachkraft zuständig ist. Dies führt
dazu, dass jeder der Bewohner ca. 20 bis 30 Minuten täglich individuelle
tagesstrukturierende Beschäftigung erhält. Ein solches Angebot von jedenfalls weniger
als zwei Stunden werktäglich ist einem FBB einer WfbM ersichtlich nicht annähernd
gleichwertig und zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft für Personen im
erwerbstätigen Alter, die wie der Kläger nach ihrem Gesundheitszustand und ihren
Fähigkeiten in der Lage wären, einen FBB zu besuchen, ersichtlich nicht annähernd
gleich geeignet. Der Vollständigkeit halber ist auch noch darauf hinzuweisen, dass eine
bloße (wirklich oder nur nach Auffassung des Sozialhilfeträgers bestehende)
Verpflichtung der Wohnstätte zur Vorhaltung einer einem FBB gleichwertigen Ta-
gesstruktur die Förderung und Beschäftigung des behinderten Menschen in einem FBB
jedenfalls so lange nicht ersetzen kann, wie es dem Sozialhilfeträger nicht gelingt, diese
(wirkliche oder vermeintliche) Verpflichtung auch durchzusetzen und die tatsächliche
Bereitstellung einer dem FBB jedenfalls annähernd gleichwertigen Tagesstruktur zu
gewährleisten.
Selbst wenn man der Auffassung wäre, dass § 136 Abs. 3 SGB IX und § 137 SGB IX dem
Betroffenen nur gegenüber der WfBM, aber nicht gegenüber dem Sozialhilfeträger einen
Anspruch verschaffen, läge im vorliegenden Fall eine Ermessensreduzierung auf Null vor.
Ein Anspruch auf Eingliederungshilfe besteht gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, solange
die Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Der
Sozialhilfeträger muss eine geeignete Maßnahme und unter mehreren geeigneten
Maßnahmen grundsätzlich die geeigneteste wählen (Landessozialgericht Berlin-
Brandenburg, Beschluss vom 01.03.2006, Az.: L 23 B 1083/05 SO ER,
www.sozialgerichtsbarkeit.de, mit weiteren Nachweisen; vgl. auch BSG, Urteil vom
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www.sozialgerichtsbarkeit.de, mit weiteren Nachweisen; vgl. auch BSG, Urteil vom
15.11.1989, Az. 5 RJ 1/89, BSGE 66, 84 ff. = FEVS 41, 128 ff., wonach der
Rentenversicherungsträger bei Rehabilitationsmaßnahmen sein Ermessen dahin
auszuüben hat, dass die für die Erwerbsfähigkeit des Versicherten günstigste Maßnahme
durchgeführt wird). Bei gleich geeigneten Maßnahmen besteht nach § 9 Abs. 2 SGB II ein
Wunsch- und Wahlrecht des Hilfebedürftigen, wobei in der Regel Wünschen nicht
entsprochen werden soll, deren Erfüllung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten
verbunden werden soll. Eine etwas geringere Eignung kann unter Umständen dann
ausreichen, wenn die etwas geeignetere Maßnahme im Verhältnis zu ihrem zusätzlichen
Nutzen unverhältnismäßige Mehrkosten verursacht (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.10.1992,
Az. 5 C 11/89, BVerwGE 91, 114 ff. = FEVS 43, 181 ff. = NJW 1993, 3010, sowie zur
vergleichbaren Rechtslage im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung BSG, Urteile
vom 06.06.2002, Az. B 3 KR 68/01 R, und 16.09.2004, Az. B 3 KR 20/04 R, beide
www.sozialgerichtsbarkeit.de). Ein gegenüber dem FBB zumindest annähernd
gleichwertiges und damit zumindest annähernd gleich geeignetes Angebot der
Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ist jedoch derzeit im Fall des
Klägers nicht ersichtlich.
3.
In zeitlicher Hinsicht ist Gegenstand der Klage die Gewährung von Leistungen auf
unbegrenzte Zeit. Durch den angefochtenen Bescheid ist die Leistung ohne zeitliche
Begrenzung abgelehnt worden; auch der gegenüber der Verwaltung gestellte
Leistungsantrag vom 04.05.2004 und der Klageantrag sind zeitlich unbefristet.
Eine Verurteilung zur Gewährung von Leistungen über den Tag der Urteilsverkündung
hinaus ist grundsätzlich möglich (vgl. BSG, Urteil vom 04.12.2007, Az. B 2 U 34/06 R –
Hinterbliebenenrente –, BSG, Urteil vom 15.11.2007, Az. B 3 P 9/06 R – Anspruch auf
Versorgung mit Schutzservietten –, BSG, Urteil vom 08.09.2005, Az. B 13 RJ 44/04 R –
Altersrente –, alle www.sozialgerichtsbarkeit.de). Sie ist vorliegend nach den Umständen
des Einzelfalls geboten, um den Anspruch des Klägers effektiv zu verwirklichen. Der
Kläger begehrt Leistungen (Eingliederungshilfe im Förder- und Beschäftigungsbereich
der WfbM) nur für die Zukunft, da es rein faktisch nicht möglich ist, Eingliederungshilfe im
Förder- und Beschäftigungsbereich der WfbM für einen bereits vergangenen Zeitraum zu
erbringen. Der Hilfesuchende hat zwar rechtlich die Möglichkeit, zu Unrecht abgelehnte
Leistungen auf eigene Kosten selbst zu beschaffen und dann einen
Kostenerstattungserstattungsanspruch gerichtlich durchzusetzen (§ 15 Abs. 1 Satz 4
SGB IX). Er kann jedoch auf diesen Weg, der mit dem Risiko verbunden ist, dass er auf
den Kosten für die selbst beschafften Leistungen sitzen bleibt, wenn sich seine
Rechtsauffassung als unzutreffend erweist, und der zudem grundsätzlich das
Vorhandensein entsprechender Geldmittel oder der Möglichkeit, sich diese z. B. als
Darlehen zu beschaffen, voraussetzt, nicht verwiesen werden, wenn er bereit ist, vor
Inanspruchnahme der Leistungen ein Urteil abzuwarten.
Die Verurteilung zur Gewährung von Leistungen wurde vom Gericht auf den Zeitraum bis
30.11.2011 befristet, da für diesen Zeitraum ein Gesamtplan nach § 58 SGB XII besteht.
Dass für den Zeitraum bis 30.11.2011 ein Gesamtplan erstellt wurde, zeigt, dass auch
aus Sicht des beklagten Sozialhilfeträgers die Situation bis dahin überschaubar ist. Für
die danach liegende Zeit können hingegen die dann bestehende Lebenssituation des
Klägers und etwaige dann bestehende alternative Förder- und
Tagesgestaltungsmöglichkeiten für den Kläger derzeit noch nicht zuverlässig
eingeschätzt werden. Es ist dem Kläger zuzumuten, das Ergebnis der Fortschreibung
des Gesamtplans für die Zeit ab 01.12.2011 und eine Entscheidung des Beklagten über
die Leistungsgewährung für die Zeit ab 01.12.2011 abzuwarten oder für die Zeit ab
01.12.2011 einen neuen Antrag zu stellen.
4.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis des
Rechtsstreits. Da der Kläger sein Klageziel aus derzeitiger Sicht voll erreicht hat und
lediglich eine Prognoseentscheidung für die fernere Zukunft nicht mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit getroffen werden konnte, wäre es unbillig, der Beklagten
nicht die volle Kostentragungslast aufzuerlegen.
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