Urteil des SozG Frankfurt am Main vom 19.07.2007

SozG Frankfurt: nachforderung von beiträgen, freiwillig versicherter, beitragsnachforderung, beitragsforderung, insolvenz, verwirkung, gerichtsakte, unterlassen, satzung, gespräch

Sozialgericht Frankfurt
Urteil vom 19.07.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 18 KR 3076/04
Die Bescheide vom 24.09.2003, abgeändert durch den Bescheid vom 25.03.2004, in Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 21.09.2004 werden aufgehoben.
Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um eine Beitragsnachforderung.
Der Kläger ist seit dem 01.01.1999 bei der Beklagten krankenversichert (freiwillige Mitgliedschaft) und
pflegeversichert. Über das Vermögen des Arbeitgebers, bei dem er beschäftigt war, wurde am 31.12.2002 das
Insolvenzverfahren eröffnet. Nach den unwidersprochenen Angaben des Klägers wurde sowohl der Arbeitnehmer-, als
auch der Arbeitgeberbeitrag bis einschließlich Februar 2002 von dem Arbeitgeber des Klägers an die Beklagte
abgeführt.
Am 24.09.2003 erließ die Beklagte gegenüber dem Kläger zwei Bescheide: Sie setzte den monatlichen Beitrag zur
Kranken- und Pflegeversicherung ab dem 01.03.2002 auf insgesamt 546,76 Euro fest und teilte dem Kläger mit, dass
ein "Beitragsrest" für den Zeitraum vom 01.03.2002 bis 30.09.2002 in Höhe von 3827,32 Euro bestehe (Bescheid Bl.
18 Verwaltungsakte); mit weiterem Bescheid forderte Sie den Kläger auf, innerhalb der nächsten vier Wochen diesen
Beitragsrest in Höhe von 3827,32 Euro zu zahlen (Bescheid Bl. 19 Verwaltungsakte). Zur Begründung führte die
Beklagte aus, dass ihr im Rahmen der jährlichen Abstimmung der freiwilligen Krankenversicherungsbeiträge für das
Jahr 2002 aufgefallen sei, dass für den Kläger von seinem damaligen Arbeitgeber für den Zeitraum vom 01.03.2002
bis 30.09.2002 keine Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung abgeführt worden seien. Aus diesem Grund sei
die Beklagte gezwungen, die Beiträge für diesen Zeitraum von dem Kläger nachzufordern.
Am 29.09.2003 fand zwischen einem Mitarbeiter der Beklagten und dem Kläger ein persönliches Gespräch statt, über
das der Mitarbeiter eine Aktennotiz (Bl. 20 Verwaltungsakte) mit folgendem Inhalt anfertigte: "Er [der Kläger] hat für
den Zeitraum 03/02 bis 09/02 im Dezember vom Insolvenzverwalter die nachträgliche Abrechnung bekommen. Auf
diesen [sic!] ist die Überweisung des AG-Anteils mit aufgeführt. Er hat den dort genannten Auszahlungsbetrag aber
nie bekommen. Er weist uns dies noch mit seinen Kontoauszügen nach. Er informierte uns, dass in zwei gleichen
Fällen seiner ehemaligen Kollegen die DAK und eine BKK die Beitragsschuld erlassen hätten. Erschwerend kommt
hinzu, dass Herr L. vor ca. einem Jahr hier war und sich informierte, ob noch Beiträge offen sind. Dies wurde von uns
verneint, was vom Unterzeichner bestätigt werden kann. Ob Beiträge offen sind, war damals allerdings auch nicht
feststellbar. Nach Eingang der Auszüge werden wir den Fall mit der Mahnabteilung diskutieren." Nach einem weiteren
Schreiben der Beklagten an den Kläger (vom 23.01.2004, Bl. 34 Verwaltungsakte) legte der Klägervertreter am
16.02.2004 (Bl. 37 Verwaltungsakte) Widerspruch ein. Er machte geltend, dass es dem Kläger wegen der Insolvenz
seines Arbeitgebers nicht mehr möglich sei, die nicht abgeführten Beiträge bei diesem zu realisieren, obwohl diese
von der Arbeitsvergütung des Klägers einbehalten worden seien. Die Beklagte habe durch die verspätete
Geltendmachung der nicht abgeführten Beträge grob unbillig gegen ihre sich aus dem Sozialversicherungsverhältnis
ergebenden Pflichten verstoßen, so dass dem Kläger ein Schadensersatzanspruch bzw. ein sozialrechtlicher
Herstellungsanspruch zustehe.
Am 25.03.2004 (Bl. 45 Verwaltungsakte) erließ die Beklagte einen weiteren Beitragsbescheid, in dem sie die
Beitragsnachforderung um Säumniszuschläge und Mahngebühren auf insgesamt 3.864,32 Euro erhöhte.
Nach weiterem Schriftwechsel zwischen den Beteiligten wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 21.09.2004
(Bl. 61 Verwaltungsakte) den Widerspruch des Klägers zurück. Zur Begründung führte sie aus, die Zahlungspflicht des
Klägers als freiwilliges Mitglied begründe sich auf § 23 Abs. 3 der Satzung i.V.m. §§ 252, 250 Abs. 2
Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V); hiernach seien die Beiträge freiwillig versicherter Mitglieder von diesen
selbst zu entrichten. Gemäß § 60 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) gelte dies entsprechend für die
Zahlung der Pflegeversicherungsbeiträge. Zu dem Fragenkomplex der Nachforderung von Beiträgen werde auf die
höchstrichterliche Rechtsprechung verwiesen. Danach könnten die Krankenkassen zunächst nicht erhobene Beiträge
im Rahmen der gesetzlichen Verjährungsvorschriften grundsätzlich nachträglich noch geltend machen (vgl. Urteile des
Bundessozialgerichts - BSG - vom 27.09.1961, Az.: 3 RK 74/59, BSGE 15, 118; vom 04.07.1962, Az.: 3 RK 53/58,
BSGE 17, 173). Da nach § 25 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) Verjährung erst in vier Jahren
nach Ablauf des Kalenderjahres eintrete, in dem Beiträge fällig geworden seien, sei die Kasse auch nicht durch
Zeitablauf gehindert, die Beiträge für die Zeit ab 01.03.2002 nachzuerheben. Der Umstand, dass die Kasse die
Beiträge für den o.g. Zeitraum erst nachträglich geltend gemacht habe, stelle auch kein rechtsmissbräuchliches
Handeln dar. Dies könnte nur dann der Fall sein, wenn die Forderung der Kasse verwirkt wäre. Das Verhalten der
Kasse könne nicht als Verwirkungsverhalten angesehen werden. Hieran seien grundsätzlich strenge Anforderungen zu
stellen, weil dem Interesse des Beitragsschuldners, das Ausmaß der wirtschaftlichen Belastung durch
Beitragsnachforderungen in angemessenen Grenzen zu halten, bereits durch die kurze Verjährungsfrist des § 25 Abs.
1 Satz 1 SGB IV hinreichend Rechnung getragen werde. Daher reiche das bloße "Nichtstun" als Verwirkungsverhalten
regelmäßig nicht aus, es müsse darüber hinaus ein konkretes Verhalten des Gläubigers hinzukommen, welches bei
dem Schuldner die berechtigte Erwartung erweckt habe, dass eine Beitragsforderung nicht bestehe oder nicht geltend
gemacht werde (Urteil des BSG vom 30.11.1978, Az.: 12 RK 6/76, BSGE 47, 194). Hiervon könne im vorliegenden
Fall jedoch keine Rede sein. Hier sei durch ein Unterlassen der Beitragseinzug unterblieben. Die Kasse sei lediglich -
wie der Kläger - von der falschen Annahme ausgegangen, dass der Arbeitgeber die Beiträge für ihn wie bisher weiter
abführe. Ein Verwirkungstatbestand könne allenfalls dann vorliegen, wenn die Kasse in Kenntnis der Nichtleistung
dem Kläger gegenüber zum Ausdruck gebracht hätte, dass sie auf die ihr zustehenden Beiträge verzichte. Dies sei
jedoch nicht der Fall. Dem Kläger sei auch kein Schaden entstanden, sondern er habe durch die verspätete
Geltendmachung des Beitrages einen objektiven Vermögensvorteil gehabt. Die rechtmäßige Nachforderung von
Beiträgen könne keinen Schaden des Versicherten begründen, da sie nur den gesetzmäßigen Zustand herstelle.
Der Kläger hat am 21.10.2004 (Bl. 1 Gerichtsakte) zum Sozialgericht Frankfurt/Main Klage erhoben.
Der Kläger trägt vor, die Beitragsnacherhebung stelle sich als rechtsmissbräuchlich dar, da zwischen der
Geltendmachung der Ansprüche und deren Fälligkeit ein Zeitraum von mehr als 12 Monaten verstrichen sei, ohne
dass der Kläger durch die Beklagte darauf aufmerksam gemacht worden sei, dass sein Beitragskonto Rückstände
aufweise. Die Beklagte hätte bei der Überwachung des Beitragskontos feststellen müssen, dass die Beiträge eben
nicht durch den Arbeitgeber abgeführt worden seien. Für den Kläger sei der Beitragsrückstand jedenfalls nicht
feststellbar gewesen, da in seinen Verdienstabrechnungen die jeweiligen Beträge ausgewiesen worden seien. Dem
Kläger sei durch das Verhalten der Beklagten ein Schaden entstanden, da der Kläger seine Ansprüche gegenüber
seinem Arbeitgeber auf Grund dessen Insolvenz nicht mehr realisieren könne. Zuletzt sei noch darauf hinzuweisen,
dass dem Kläger durch einen Mitarbeiter der Beklagten Anfang Mai 2003 auf ausdrückliche Nachfrage mitgeteilt
worden sei, dass bezüglich seiner Versicherungsbeiträge "alles in Ordnung" sei.
Der Kläger beantragt, die Bescheide vom 24.09.2003, abgeändert durch den Bescheid vom 25.03.2004, in Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 21.09.2004 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hält ihre Rechtsauffassung für zutreffend.
Das Gericht hat im Rahmen der Sachverhaltsermittlungen die Verwaltungsakte der Beklagten zu dem Rechtsstreit
beigezogen und hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung persönlich gehört. Insoweit wird auf die
Sitzungsniederschrift verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig, sie ist insbesondere form- und fristgerecht bei dem zuständigen Sozialgericht Frankfurt/Main
eingelegt worden.
Die Klage führt auch in der Sache zum Erfolg, weil die angefochtene Entscheidung der Beklagten rechtswidrig ist und
den Kläger in seinen Rechten verletzt.
Der Beklagten steht die geltend gemachte Beitragsnachforderung nicht zu.
Hinsichtlich der Pflicht des Klägers als freiwilliges Mitglied, die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge zu zahlen,
verweist die Beklagte in ihrem Widerspruchsbescheid zu Recht auf § 23 Abs. 3 ihrer Satzung in Verbindung mit § 252,
250 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) bzw. auf § 60 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) (in
Verbindung mit § 59 Abs. 4 Satz 1 SGB XI). Auf diese Ausführungen wird verwiesen. Zu ergänzen ist hierzu noch,
dass die Beitragsansprüche gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) entstehen, sobald
ihre im Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes bestimmten Voraussetzungen vorliegen.
Der Kläger war daher grundsätzlich zur Tragung und Zahlung der Beiträge für den hier streitigen Zeitraum verpflichtet.
Jedoch hat die Beklagte die streitige Beitragsforderung – entgegen ihrer Rechtsansicht – verwirkt.
Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 30.11.1978 (12 RK 6/76 = BSGE 47, 195 mwN), auf das sich auch
die Beklagte bezieht und dem sich das erkennende Gericht anschließt, sind die Voraussetzungen der Verwirkung ein
Verwirkungsverhalten des Berechtigten, ein Vertrauenstatbestand und ein Vertrauensverhalten des Verpflichteten.
Im Einzelnen:
Die Verwirkung setzt voraus, dass der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten
(Verwirkungsverhaltens) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde
(Vertrauensgrundlage). Dabei reicht das bloße "Nichtstun" als Verwirkungsverhalten regelmäßig nicht aus, sondern es
muss darüber hinaus ein konkretes Verhalten des Gläubigers hinzukommen, welches bei dem Schuldner die
berechtigte Erwartung erweckt hat, dass eine Beitragsforderung nicht besteht oder nicht geltend gemacht werde (BSG
aa0 mit Verweis auf BSG SozR 2400 § 2 Nr. 3 = Breith 1976, 303, 305).
Im vorliegenden Fall hat die Beklagte damit argumentiert, dass lediglich ein Fall "bloßen Nichtstuns" vorgelegen habe:
es sei durch ein Unterlassen der Beitragseinzug unterblieben bzw. die Beklagte sei lediglich von der falschen
Annahme ausgegangen, dass der Arbeitgeber die Beiträge für den Kläger wie bisher weiter abführe.
Abgesehen davon, dass diese Argumentation der Beklagten bereits in sich widersprüchlich ist (denn warum sollte ein
Beitragseinzug erfolgen, wenn die Beklagte erwartete, dass die Beiträge von dem Arbeitgeber abgeführt werden), lässt
diese Argumentation den Umstand unberücksichtigt, dass die Beklagte hier sehr wohl durch positives Tun bei dem
Kläger die berechtigte Erwartung erweckt hat, dass eine Beitragsforderung nicht besteht: Wie nämlich aufgrund der
Bestätigung durch den Mitarbeiter der Beklagten feststeht, wurde dem Kläger in einem persönlichen Gespräch
mitgeteilt, dass keine Beiträge mehr offen seien (Aktennotiz Bl. 20 Verwaltungsakte). Dass diese Erklärung der
Beklagten unzutreffend war und zudem zu einem Zeitpunkt abgegeben wurde, zu dem die Beklagte auch noch gar
nicht wissen konnte, ob diese Aussage überhaupt zutrifft, vermag nichts daran zu ändern, dass ein
Verwirkungsverhalten ihrerseits im o. g. Sinne vorliegt. Denn es kommt nur auf das konkrete Verhalten der Beklagten,
nicht auf die Korrektheit dieses Verhaltens an. Wäre die Aussage der Beklagten korrekt gewesen, wäre der
nachfolgende Rechtsstreit ja nie entstanden.
Der Kläger hat auch tatsächlich darauf vertraut, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und
hat sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet, dass ihm durch die verspätete
Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde. Dem Kläger wurde – wie er in der mündlichen
Verhandlung durch Vorlage von Unterlagen (Bl. 69 bis 71 Gerichtsakte) glaubhaft dargelegt hat – von seinem
Arbeitgeber für den streitigen Zeitraum sein Gehalt nur unter Abzug des Beitrags zur Kranken- und Pflegeversicherung
ausbezahlt. Aufgrund der Aussage des Mitarbeiters der Beklagten, es seien keine Beiträge mehr offen, ist es
glaubhaft, dass der Kläger davon ausging, der Arbeitgeber überweise – wie in der Vergangenheit – auch weiterhin den
Beitrag zur Kranken- und Pflegeversicherung an die Beklagte und der Kläger müsse sich insoweit selbst um nichts
kümmern. Aufgrund der Insolvenz des Arbeitgebers ist es zudem glaubhaft, dass der Kläger diesem gegenüber seine
restliche Lohnforderung (die um die nicht abgeführten Beiträge gemindert ausgezahlt wurde) nicht mehr realisieren
kann, so dass er faktisch so dasteht, als hätte er den Beitrag zur Kranken- und Pflegeversicherung für den streitigen
Zeitraum nunmehr doppelt gezahlt bzw. zu zahlen.
Mithin liegen sämtliche Voraussetzungen vor, die die Verwirkung der Beitragsnachforderung begründen.
Die weitere, nicht höchstrichterliche, Rechtsprechung, auf die sich die Beklagte (vor allem in ihrem Schriftsatz vom
11.05.2004, Bl. 49 Verwaltungsakte) bezogen hat, liegt neben der Sache.
Auf den Antrag hin war die rechtswidrige Entscheidung der Beklagten aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG); die Rechtsmittelbelehrung folgt aus §§ 143,
144 SGG.