Urteil des SozG Frankfurt am Main vom 22.08.2006

SozG Frankfurt: verlust des sehvermögens, therapie, label, behandlung, körperliche unversehrtheit, arzneimittel, erblindung, krankenversicherung, uveitis, sicherheitsleistung

Sozialgericht Frankfurt
Beschluss vom 22.08.2006 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 21 KR 444/06 ER
1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragsstellerin vorläufig für die
Dauer von 12 Monaten eine Therapie mit dem Arzneimittel Interferon alfa 2a (Roferon A) zu gewähren.
2. Die Antragsgegnerin hat der Antragsstellerin deren außergerichtliche Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Die 1954 geborene Antragstellerin ist bei der Beklagten krankenversichert. Sie leidet an einem massiven chronischen
zystoiden Makulaödem des rechten Auges bei beidseitiger Uveitis intermedia mit Bulbushypotonie im Rahmen eines
Morbos Behcet. Sie wurde zunächst in der Augenklinik der Städtischen Kliniken F. mittels intravitreale Volo-A-
Injektion am rechten Auge behandelt. Die damaligen Klinikärzte erwarteten unter Fortsetzung dieser Behandlung keine
Befundbesserung mehr und stellte die Antragstellerin zur Durchführung einer systemischen Therapie in der
Augenklinik des Universitätsklinikums T. vor (Arztbrief vom 13.05.2004). Eine dort durchgeführte systemische
Immunsuppression zeigte keine Wirkung. Die in der Augenklinik des Städtischen Klinikums F. erfolgte Behandlung
mit intravitrealen Steroidinjektionen wurde nicht fortgeführt, da sie nicht mehr ansprach und wegen der
Bulbushypotonie weitere Injektionen in das rechte Auge als nicht hilfreich angesehen wurden. Im Behandlungsverlauf
der Universitätsklinikum T. zeigte sich, dass das Makulaödem im rechten Auge nur noch auf so hohe Dosen an
systemischen Steroiden und Acetazolamid ansprach, die aufgrund ihren Nebenwirkungen nur für eine kurzeitige
Verabreichung in betracht kämen. Mit Schreiben vom 02.11.2004 beantragte der Funktionsoberarzt Dr. D. des
Universitätsklinikums T. für die Antragstellerin eine Kostenübernahme der Antragsgegnerin für eine Interferon alfa-2a
(Roferon-A) -Therapie, da man als auf entzündliche Augenerkrankungen spezialisierte Klinik keine anderen
Alternativen mehr zu Behandlung des Makulaödems bei der Antragstellerin sehe. Die Antragsgegnerin holte daraufhin
ein sozialmedizinisches Gutachten beim MDK H. ein, das die Augenärztin Frau von T.-B. aufgrund der Aktenlage in
schriftlicher Form unter dem 18.01.2005 erstellte. Sie führte darin aus, es sei fraglich, ob die Antragstellerin als
austherapiert anzusehen wäre und ob tatsächlich ein Therapieversuch mit hoch dosiertem Kortison und Acetazolamid
erfolgt sei. Hierauf lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 31.01.2005 die Kostenübernahme für die beantragte
Interferon-Therpaie ab. Den Widerspruch der Antragstellerin wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 09.06.2005 als
unbegründet zurück.
Die Antragstellerin erhob hiergegen am 13.07.2005 Klage (S 18/4 KR 571/05) und beantragte an gleichen Tage, die
Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr eine Kostenübernahme für die Interferon-
Therapie zu gewähren (S 4 KR 570/05 ER). Sie legte einen Bericht der Augenklinik des Universitätsklinikum T. vom
05.08.2005 vor, in dem dargelegt wird, die Antragstellerin sei ab 19.05.2004 mit einer systemischen Kortisontherapie
bei gleichzeitiger Gabe von Acetazolamid und ab 27.05.2004 überlappend mit einer systemischen Immunsuppression
mit ZellCept behandelt worden. Eine am 16.06.2004 durchgeführte Kontrolluntersuchung habe zunächst eine
Befundbesserung ergeben. Bei der nächsten Kontrolluntersuchung am 19.08.2004 sei das Makulaödem allerdings
erneut wieder rezidiviert und die Sehschärfe wieder abgesunken gewesen. Angesichts dieses Befundes müsse von
einer Therapieresistenz im Hinblick auf dieses Behandlungskonzept ausgegangen werden. Man sehe nur in einer
Interferon-Therapie eine Behandlungsmöglichkeit mit Erfolgsaussicht. Mit dieser neuen Therapieform habe man
bereits acht Patienten behandelt und Erfahrungen gesammelt, die in einem bei der Fachzeitschrift R. eingereichten
und beigefügten Manuskript niedergelegt seien. Die Antragsgegnerin holte eine weitere Stellungnahme de MDK H.
nach Aktenlage ein, die Dr. L. unter dem Datum vom 15.09.2005 erstellte. Er führte darin aus, bei der Antragsstellerin
bestehe eine schwerwiegende, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung. Die bei diesem
Krankheitsbild konventionelle antiinflammatorische Therapie sei fehlgeschlagen. Hinsichtlich der
streitgegenständlichen Interferon-Therapie lägen derzeit keine Forschungsergebnisse vor, die erwarten ließen, dass
dieses Arzneimittel für betreffende Indikation zugelassen werden könne. Allerdings erforsche die Augenklinik des
Universitätsklinikums T. diese Behandlungsmethode und es lägen positive erste Ergebnisse aus Pilotstudien mit
kleiner Fallzahl vor. Im Falle der Antragsstellerin, sei zu bedenken, dass ein irreversibeler Visusverlust drohe. Bei
chronischem Verlauf sei eine Erblindung nicht selten.
Mit Beschluss vom 31.10.2005 hat die 4. Kammer des Sozialgerichtes die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen
Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab Zustellung dieses Beschlusses bis zum 30.06.2006 eine Therapie mit
dem Arzneimittel Interferon alfa-2a zu gewähren und die Vollziehung dieser einstweiligen Anordnung davon abhängig
gemacht, dass die Antragsstellerin bis dahin Sicherheit in Höhe von 7000,- Euro leiste. Diese Sicherheitsleistung hat
die Antragstellerin bereitgestellt, worauf die Antragsgegnerin die im einstweiligen Rechtschutzverfahren
zugesprochene Leitung gewährte. Die Therapie mit Interferon alfa-2a begann am 05.12.2005 in der Universitäts-
Augenklinik T ... Es kam zur Nachuntersuchung in 4 – 6 wöchigen Abständen. Laut dem vom Gericht eingeholten
Befundbericht des Oberarztes Dr. D. vom 18.07.2006 konnte eine nahezu vollständige Rückbildung des zystoiden
Makulaödems des rechten Auges und damit ein Anstieg der Sehschärfe von 0,3 vor Therapie auf nunmehr 0,6 erreicht
werden. Die Interferondosis habe im Behandlungsverlauf von anfänglich 6 Mio. IE täglich auf derzeit 3 Mio. IE jeden
zweiten Tag reduziert werden können. Auch die vorbestehende Therapie mit Diamox und Immunssupressivum
CellCept habe in der Dosis halbiert werden können. Ein Absetzen des Medikaments Interferon alfa-2a würde im Falle
der Antragstellerin mit aller größter Wahrscheinlichkeit ein Rezidiv nach sich ziehen. Seit dem Antragsschreiben an
die Antragsgegnerin habe sich keine Behandlungsalternative ergeben. Die Daten und Erfahrungen aus der Behandlung
der ersten 8 Patienten in der Uni-Augenklinik T. wegen eines chronischen Makulaödems bei Uveitis seien in eine
Publikation zusammengefasst, die voraussichtlich im September in R. veröffentlich werde und von der die
Druckfahnen beigefügt wurden.
Die Antragsstellerin hat am 08.06.2006 unter Hinweis auf den Ablauf der zeitlichen Befristung der einstweiligen
Anordnung des Sozialgerichtes vom 31.10.2005 bei noch laufendem Hauptsacheverfahren (S 18 KR 571/05) einen
neuen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Sie verweist zur Begründung auf den Bericht der
Universität- Augenklinik T. vom 18.07.2006 und im Hinblick auf die rechtliche Seite auf die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichtes vom 06.12.2005 (1 Bv R 347/98).
Die Antragstellerin beantragt, 1. die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr die
Kostenübernahme für die weitere zeitlich unbegrenzte Interferon-Therapie (Interfon-alfa-2a-Roferon-A) gemäß Antrag
von 02.11.2004 durch Herrn Dr. D., Universitäts- Augenklinik T., ab 30.0.62006 zu gewähren,
2. die Entscheidung des Gerichts unabhängig von der Stellung von Sicherheiten zu treffen,
3. hilfsweise, monatliche Ratenzahlungen in angemessener Höhe zu Erbringung von Sicherheit zuzulassen,
4. der Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag zurückzuweisen, hilfsweise im Falle des Erlasses einer einstweiligen
Anordnung deren Vollziehung von einer angemessenen Sicherheitsleistung der Antragstellerin abhängig zu machen.
Sie trägt vor, es fehle an einem Anordnungsanspruch. Die Antragsstellerin habe keine überwiegende Aussicht auf
Erfolg in dem Hauptsacheverfahren. Die Ausführungen des Bundesverfassungsgericht in dessen Beschluss vom
06.12.2005 bezögen sich nur auf den Anspruch auf Krankheitsbehandlungen in der Fallkonstellation, dass eine
lebensbedrohliche oder sogar regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vorliege, für die schulmedizinische
Behandlungsmethoden nicht vorlägen. Diese Voraussetzungen seien im Falle der Antragstellerin nicht gegeben.
Weiter sei zu berücksichtigen, dass die von ihr gewählte Behandlungsmethode keine auf Indizien gestützte, nicht
ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbar positive Einwirkung auf den
Krankheitsverlauf verspreche.
Die für das neue einstweilige Anordnungsverfahren zuständige 21. Kammer des Sozialgerichts Frankfurt am Main hat
die Akte des noch anhängigen Hauptsachestreitverfahrens und die Akte aus dem abgeschlossenen ersten
einstweiligen Anordnungsverfahren beigezogen. Es hat von der Universitäts-Augenklinik T. den Befundbericht des
Oberarztes Dr. D. vom 18.07.2006 eingeholt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Akten einschließlich der
Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist zulässig und begründet. Die Antragsstellerin hat einen Anspruch auf vorläufige Gewährung der
umstrittenen Behandlung mit Interferon alfa-2a.
Nach § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige
Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des
bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechtes (Anordnungsanspruch) des Antragstellers vereitelt oder
wesentlich erschwert werden könnte (Anordnungsgrund; Satz 1). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung
eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur
Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2). Die hier in Betracht kommende Regelungsanordnung
(Satz 2) ist zu bejahen, weil sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht
worden sind (§ 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung -ZPO-).
Der Anordnungsgrund ergibt sich aus der Notwendigkeit einer baldigen Fortsetzung der streitgegenständlichen
Therapie, da – dessen Wirksamkeit unterstellt - ein längeres Pausieren nach dem Bericht der Universitätsaugenklinik
vom 18.07.2006 mit allergrößter Wahrscheinlichkeit unmittelbar ein Rezidiv nach sich ziehen würde. Zudem wird in der
für die Antragsgegnerin erstellten Stellungnahme des MDK vom 15.09.2005 hervorgehoben, dass im Falle der
Antragstellerin ein irreversibler Visusverlust, der bis zur Erblindung gehen kann, droht.
Auch ein Anordnungsanspruch ist glaubhaft gemacht worden. Ein solcher besteht in der Regel dann, wenn eine
summarische Prüfung der Erfolgsaussichten des Widerspruchs- bzw. Klageverfahrens ergibt, dass ein Anspruch
eines Antragsstellers auf die beantragte Therapie besteht. Jedoch kann nicht in allen Fällen eine derartig positive
Prognose der Erfolgsaussichten verlangt werden. Das in Artikel 19 Abs. 4 GG gewährte Grundrecht auf lückenlosen
gerichtlichen Rechtsschutz gegen geltend gemachte rechtswidrige Eingriffe der öffentlichen Gewalt in Rechte des
Bürgers gebietet es nach ständiger Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts bei Vornamesachen jedenfalls
dann vorläufigen Rechtschutz zu gewähren, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare
Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage
wäre. Je schwerer die Belastungen des Betroffenen liegen, die mit der Versagung des vorläufigen Rechtschutzes
verbunden sind, um so weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend
gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden (vgl. die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichtes vom
22.11.2002, NJW 2003, S.1236 f. und vom 19.03.2004, NJW 2004, S. 310).
Die summarische Prüfung der Erfolgsaussichten des Hauptsachebegehrens der Antragsstellerin ergibt, dass von
deren Obsiegen in der Hauptsache auszugehen ist. Nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i. V. m. § 31 Abs. 1 Fünftes Buch
Sozialgesetz – Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) ist eine Krankenkasse zur Versorgung des bei ihr
versicherten Mitglieds mit den für eine Krankenbehandlung notwendigen Arzneimitteln verpflichtet. Der Behandlungs-
und Versorgungsanspruch eines Versicherten unterliegt allerdings den sich aus §§ 2 Abs. 1, 12 Abs. 1 SGB V
ergebenden Einschränkungen. Er umfasst hiernach nur solche Leistungen, die zweckmäßig und wirtschaftlich sind
und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen.
Der Gesichtpunkt der Gewährleistung optimaler Arzneimittelsicherheit gebietet es aber, dass Qualität, Wirksamkeit
und Unbedenklichkeit, also die Einhaltung der Mindestsicherheits- und Qualitätsstandards in einem dafür
vorgesehenen Verfahren nachgewiesen worden sind (vgl. BSG, Urteil vom 18.05.2004 - B 1 KR 21/02 R -, SGb 2004,
S. 415). Das hier in Rede stehende Medikament Roferon R ist als Fertigarzneimittel in Deutschland durch die
Arzneimittelbehörde zur Behandlung der Haarzell-Leukämie, des progressiven asymptomatischen Karposi-Sarkoms
bei Aids-Patienten, der Philadelphia-Chromosomen-positiven chronischen myeloischen Leukämie in der chronischen
Phase, des cutanen T-Zell-Lymphomes, der chronischen Hepatitis B und C, des follikuären Non-Hodgkin-Lymphomes,
des fortgeschrittenen Nierenzell-Karzinoms und des malignen Melanoms zugelassen. Keine arzneimittelrechtliche
Zulassung liegt indessen für die Therapie von Patienten mit Uveitis in der Bundesrepublik Deutschland vor. Eine
solche Zulassung besteht auch ansonsten nicht in Europa.
Es steht somit die Verordnungsfähigkeit eines Arzneimittels durch Vertragsärzte im Rahmen der Versorgung von
gesetzlichen krankenversicherten Patienten für nicht zugelassene Indikationen in Rede, mithin ein so genannter Off-
Label-Use. Für dieses Feld hat mittlerweile der Gesetzgeber in § 35 b Abs. 3 Satz 1 SGB V (§ 35 b SGB V ist mit
Wirkung vom 01.01.2004 durch das Gesetz vom 14.11.2003, BGBI I. S. 2190, Gesundheitsmodernisierungsgesetz,
eingefügt worden) bestimmt, dass vom Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung berufene
Expertengruppen, die beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte angesiedelt sind, Bewertungen zum
Stand der wissenschaftliche Erkenntnis über die Anwendung von zugelassenen Arzneimitteln für Indikation und
Indikationsbereiche, für die sie nach dem Arzneimittelgesetzen nicht zugelassen sind, abgegeben. Diese
Bewertungen sind in geeigneten Abständen zu überprüfen und erforderlichenfalls anzupassen. Sie sind nach § 35 b
Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Abs. 3 Satz 2 SGB V dem für den Erlass von Arzneimittelrichtlinien zuständigen
Gemeinsamen Bundesausschuss (§§ 91, 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V) als Empfehlung zur Beschlussfassung nach
§ 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 zuzuleiten. Damit ist der Weg eröffnet, diese Bewertungen der Expertengruppen zum Off-
Label-Use in die Arzneimittelrichtlinien zu übernehmen, womit die Voraussetzungen für den Anspruch von
Versicherten auf Arzneimittel außerhalb zugelassener Indikationen geschaffen werden. In Anwendung dieser
Regelungen sind bereits erste Empfehlungen der Expertengruppen zu Off-Label-Use Indikation ergangen, die vom
Gemeinsamen Bundesausschuss beraten und dahingehend umgesetzt worden sind, dass eine Änderung der
Arzneimittel-Richtlinien durch Beschluss vom 18.04.2006 (BAnz Nr. 135, S. 5122 vom 20.07.2006) erfolgte. Nach
dem bisherigen Abschnitt G ist ein neuer Abschnitt H eingefügt worden, in dem allgemein die Voraussetzungen für die
Verordnung von zugelassenen Arzneimitteln in nicht zugelassenen Anwendungsgebieten aufgeführt sind. Zum
Zwecke der Konkretisierung ist diesem Abschnitt H und dessen Nummern 24 und 25 eine Anlage 9 angefügt worden,
in der unter Teil A diejenigen Arzneimittel aufgezählt werden, die unter Beachtung der dazu gegebene Hinweise in den
nachfolgend aufgelisteten nicht zugelassenen Anwendungsgebieten (Off-Label-Use) verordnungsfähig sind. In Teil B
werden sodann für die aufgelisteten zulassungsüberschreitenden Anwendungen (Off-Label-Use) als nicht
verordnungsfähig angesehene Wirkstoffe aufgeführt. Der hier in Rede stehende Arzneimittelwirkstoff Interferon alfa 2a
erscheint weder in Teil A noch in Teil B der neuen Anlagen 9 der Arzneimittelrichtlinie. Dies bedeutet, dass seitens
des zuständigen Gemeinsamen Bundesausschusses eine verbindliche Entscheidung zur Frage der Bewertung des
Nutzens und der Wirtschaftlichkeit eines Einsatzes von Interferon alfa 2a für das bei der Klägerin bestehende
Krankheitsbild eines chronischen Makulaödems bei Uveitis nicht vorliegt.
Dies besagt aber nicht, dass ein so genannter Off-Label-Use im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung damit
völlig ausscheidet. Vielmehr ist in den von den neu gefassten Arzneimittelrichtlinien nicht erfassten und geregelten
Fällen eines Off-label-Uses zunächst auf die Grundsätze abzustellen, welche das Bundessozialgericht aufgestellt hat.
Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 19.03.2002 (B 1 KR 37/00 R, BSGE 89, 184 ff.) Kriterien für eine in
der vertragsärztlichen Versorgung mögliche zulassungsüberschreitende Anwendung eines Medikaments (Off-Label-
Use) entwickelt. Danach kommt ein zulassungsüberschreitender Einsatz von Arzneimitteln dann in Betracht, wenn
eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt, keine andere Therapie verfügbar ist und aufgrund der Datenlage die
begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg – kurativ oder palliativ -
erzielt werden kann.
Das Problem liegt in dem letzten vom Bundessozialgericht aufgestellten Kriterium. Es wird insbesondere in der Praxis
der gesetzlichen Krankenkassen dahingehend verstanden, dass die Behandlung im Rahmen eines sogenannten Off-
Label-Uses nur dann zu gewähren ist, wenn bereits gesicherte medizinstatistische Daten über die Wirksamkeit des
eingesetzten Arzneimittels bei der vorliegenden Grunderkrankung vorliegen, die eine Zulassungserweiterung durch die
Arzneimittelbehörde "erwarten lassen". Da im Zulassungsverfahren bei der Arzneimittelbehörde regelmäßig nur
sogenannte "prospektive, randomisierte doppel-blinde und kontrollierte Studien" als Wirksamkeitsnachweis akzeptiert
werden, wird die so genannte "höchste Evidenzstufe" zum Maßstab, d. h. eindeutig gesicherte medizin-statistische
Daten. An solchen fehlt es jedoch in der Regel in Studien, die die Wirksamkeit einer zugelassungsüberschreitenden
Therapie erforschen sollen. Dies hängt damit zusammen, dass in Fällen eines Off-Label-Uses dem
zulassungsüberschreitenden Einsatz von Arzneimitteln noch Versuchscharakter anhaftet. Er wird aber dennoch von
den Experten des betreffenden medizinischen Fachgebietes befürwortet, da er deren Auffassung nach Aussicht auf
Heilung oder Linderung verspricht, wobei sich diese Einschätzung zumeist auf eine bloße Beschreibung von einzelnen
Krankheitsverläufen, Hypothesen über Wirkungsmechanismen sowie eigener ärztlicher Erfahrung aus der Behandlung
eines kleinen Kollektivs von Erkrankten speist, deren Zahl wiederum so niedrig ist, dass Phase 2 –Studien oder gar
Phase 3- Studien nicht in Betracht kommen. Überträgt man jedoch die Kriterien aus dem
Arzneimittelzulassungsverfahren für den Wirksamkeitsnachweis, so zählt nur der Heilungserfolg als statistische
Größe bei einer Vielzahl von Fällen, nicht hingegen ein solcher in einzelnen Anwendungsfällen (vgl. Goecke,
Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Leistungspflicht der Krankenkassen bei Off-Label-Use von Arzneimitteln, NZS
2006, 291, 292).
Hinsichtlich der bei der Antragstellerin bestehenden Erkrankung besteht im Sinne der Vorgaben des
Bundessozialgerichts kein empirisches Datenmaterial von so hoher Evidenz, das eine medizinstatistisch abgesicherte
Prognose zulässt, die stattfindende Behandlung mit Interferon alfa 2a werde zwar nicht zu einer Heilung aber doch zu
einer so weitgehenden Befundbesserung und Stabilisierung führen, dass ein weitgehender Verlust des Sehvermögens
des rechten Auges der Antragstellerin über längere Zeit hinweg verhindert werden könne. Nach den vom
Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 19.03.2002 für den zulässigen Off-Label-Use aufgestellten Kriterien wäre
damit die verlangte hohe Evidenzstufe für den Wirksamkeitsnachweis nicht erbracht und die Antragstellerin auf die
Selbstfinanzierung der Behandlung mit dem Medikament Roferon R zu verweisen. Ein solches Ergebnis ist jedoch
nach dem jüngsten Beschluss des 1 Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005 von Verfassungswegen
nicht hinzunehmen. Das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Entscheidung ausgeführt, dass es einer besonderen
Rechtfertigung vor Artikel 2 Abs. 1 GG i.V. m. dem Sozialstaatsprinzip bedürfe, wenn einem Versicherten Leistungen
für die Behandlung einer Krankheit und insbesondere einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung
durch gesetzliche Bestimmungen oder durch deren fachgerichtliche Auslegung und Anwendung vorenthalten würden.
Maßstab für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des Leistungsrechtes der gesetzlichen Krankenversicherung
und seiner fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung im Einzelfall seien darüber hinaus auch die Grundrechte auf
Leben und körperliche Unversehrtheit aus Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Gestaltung des Leistungsrechtes der
gesetzlichen Krankenversicherung habe sich an der objektiv- rechtlichen Pflicht des Staates zu orientieren, sich
schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu stellen. Dies gelte insbesondere in
Fällen der Behandlung einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung. Denn das Leben
stelle einen Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung dar. Behördliche und gerichtliche Verfahren müssen
dieser Bedeutung und der im Grundrecht auf Leben enthaltenden grundlegenden objektiven Wertentscheidung gerecht
werden und sie bei der Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechtes
berücksichtigen. Aus diesen Gesichtspunkten hat das Bundesverfassungsgericht hergeleitet, dass eine
Einstandspflicht der gesetzlichen Krankenkassen für Behandlungsmethoden – im entschiedenen Fall ging es um die
Anwendung der Bioresonanztherapie bei Duchenne´scher Muskeldystrophie -, die nicht dem allgemein anerkannten
medizinischen Standard entsprechen und die sich als Behandlungsmethode auch nicht in der medizinischen Praxis
durchgesetzt hätten, nicht mit der Begründung verneint werden könne, deren Wirksamkeit sei nicht hinreichend
nachgewiesen. In solchen Fällen müsse auch auf einem niedrigeren Evidenzniveau der Nachweis der Wirksamkeit der
strittigen Behandlungsform geführt werden können. Dabei müsse allerdings die vom Versicherten gewählte andere
Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf
eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen. Bedeutsam sei insoweit insbesondere auch
die fachliche Einschätzung der Wirksamkeit der Methode im konkreten Einzelfall durch die Ärzte des Erkrankten.
Hinweise auf die Eignung der im Streit befindlichen Behandlung könnten sich auch aus der wissenschaftlichen
Diskussion ergeben.
Auch wenn die dem Senatsbeschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 06.12.2005 zugrunde liegende
Fallkonstellation nicht deckungsgleich ist mit der hier zur Entscheidung anstehenden, sind dieser aktuellen
Verfassungsgerichtsentscheidung doch aus den zitierten Grundrechten hergeleitete Vorgaben für die Auslegung und
Anwendung der leistungsrechtlichen Vorschriften des SGB V zu entnehmen, die eine Ausweitung der bislang vom
Bundessozialgericht aufgestellten Kriterien für einen zulässigen Off-Label-Use erfordern. Auch für den Nachweis einer
Wirksamkeit von Arzneimitteln, die außerhalb der Indikationslage, für die sie nach dem Arzneimittelgesetz zugelassen
worden sind, eingesetzt werden sollen, muss eine niedrigere Evidenzstufe ausreichen als die vom
Bundessozialgericht verlangte. Es kann nicht mehr allein abgestellt werden auf das Vorhandensein von auf den
jeweiligen Anwendungsbereich bezogener Studien oder veröffentlichter Forschungsergebnissen, aufgrund deren in den
einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen des streitigen Arzneimitteleinsatzes
besteht. Vielmehr kann auch ein Wirksamkeitsnachweis durch ärztliche Erfahrung grundsätzlich ausreichen, sofern
gewährleistet ist, dass das positive Votum für einen Off-Label-Use auf besonders ausgewiesener ärztlicher
Fachkunde beruht.
Auf ein solches Votum kann sich die Antragsstellerin für die von ihr zur Senkung des Rezidivrisikos begehrte
Behandlung mit dem Arzneimittel Roferon-A R berufen. Die entsprechende Therapieempfehlung stammt von einer
Universitätsaugenklinik. Ein diagnostischer und therapeutischer Schwerpunkt dieser Einrichtung bezieht sich auf die
Erkrankung an zystoiden Makulaödemen und in diesem Sektor insbesondere auf die Entwicklung innovativer
Therapiekonzepte. Aus den Berichten der Universitätsaugenklinik T. geht hervor, dass derzeit zwar nur eine geringe
Anzahl von Patienten mit diesem Therapieschema behandelt wird, bislang 8 Personen, womit eine statistisch
untermauerte Beweisführung der Wirksamkeit des neuen Behandlungsverfahrens nicht erbracht werden kann. Dem
steht aber gegenüber, dass die möglichen Verlaufsbeobachtungen so ermutigend sind, dass der Einsatz von
Interferon alfa 2 a bei Uveitis mit Makularödem von den wissenschaftlich tätigen Ärzten dieses Universitätsklinikums
der Fachwelt vorgestellt wird. Darauf, dass ein Abdruck eines entsprechenden Berichtes über dieses
Behandlungsverfahren in der einschlägigen wissenschaftlichen Fachzeitschrift erfolgen wird, lassen die vorgelegten
Kopien von den Druckfahnen schließen. Weiter ist im Falle der Antragstellerin in Rechnung zu stellen, dass
ausweislich der Behandlungsberichte des Universitätsklinikum T., die auch in der Stellungnahme des Dr. L. vom
15.09.2005 für den MDK als nachvollziehbar eingeschätzt werden, die konventionelle antiinflammatorische Therapie
bei der Klägerin fehlgeschlagen ist und keinen weiteren Erfolg mehr verspricht. Somit besteht keine weitere
Behandlungsoption. Weiter hat Dr. L. in seiner gutachterlichen Stellungnahme zu bedenken gegeben, dass bei der
Grunderkrankung der Antragstellerin mit einem irreversiblen Visusverlust, bis hin zur Erblindung, zu rechnen ist. Es
liegt damit zwar keine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vor, aber doch eine
eindeutig schwerwiegende Erkrankung, da im Falle des weiteren Krankheitsprogresses mit einem massiven Verlust
des Sehvermögens, bis hin zur Erblindung zu rechnen ist, zumal die Grunderkrankung beide Augen erfasst hat.
Damit sind im Falle der Antragstellerin auch die Kriterien erfüllt, welche das Bundessozialgericht laut dem bislang
vorliegenden Termin-Bericht Nummer 19/06 in seinem Urteil vom 04.04.2006 (B 1 KR 7/05 R die Entscheidungsgründe
liegen bislang noch nicht vor) für den Bereich des Off-Label-Uses im Hinblick auf die Vorgaben aus dem Beschluss
des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005 für einen Behandlungsanspruch im Rahmen der gesetzlichen
Krankenversicherung aufgestellt hat. In dieser Entscheidung wird davon ausgegangen, dass die Grundsätze der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu ärztlichen Behandlungsmethoden auch auf die Arzneimitteltherapie
anzuwenden sind, wobei der vom Bundessozialgericht entschiedene Fall die Erkrankung an einem lebensbedrohlichen
Darmkarzinom betraf. Nach Überzeugung des erkennenden Sozialgerichtes sind die Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts aus den oben aufgezeigten Gründen auch auf schwere, nicht lebensbedrohliche
Krankheiten eines Versicherten, zu übertragen, sofern diese den Versicherten in seiner Lebensführung nicht nur
deutlich beeinträchtigen, sondern bei weiterem Fortschreiten des Krankheitsverlaufes zu ganz massiven körperlichen
und/oder geistigen Funktionsverlusten führen werden. Eine solch gravierende Krankheitsfolge stellt jedenfalls eine
drohende Erblindung dar. Dafür spricht auch, dass die bisherige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum
zugelassenen Off-Label-Use diese Fallkonstellation einbezog.
Angesichts des Umstandes, dass die Antragstellerin bereits in Umsetzung des Beschlusses des Sozialgerichtes vom
31.10.2005 eine hohe Sicherheitsleistung erbracht hat und nach ihrem glaubhaften Vorbringen, damit an die Grenze
ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit gelangt ist, hat das Gericht davon abgesehen, von ihr die Bereitstellung einer
weiteren Sicherheitsleistung zu verlangen.
Nach alledem war dem Antrag stattzugeben. Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von §
193 SGG.