Urteil des SozG Frankfurt am Main vom 17.11.2005

SozG Frankfurt: grobe fahrlässigkeit, arbeitslosenhilfe, verwaltungsakt, arglistige täuschung, rechtswidrigkeit, erlass, anmerkung, rücknahme, subjektiv, bestechung

Sozialgericht Frankfurt
Urteil vom 17.11.2005 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 1 AL 3629/00
Der Bescheid vom 20. Juli 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. April 2000 wird aufgehoben.
Die Beklagte hat der Klägerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen
außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Klägerin wendet sich gegen die Rückforderung von 2.371,16 DM gezahlter Arbeitslosenhilfe.
Die 1972 geborene Klägerin war von August 1991 bis April 1998 als Verkäuferin bei A. beschäftigt. Bis zur
Erschöpfung des Anspruchs am 30. April 1999 bezog sie Arbeitslosengeld in Höhe von 179,97 DM. Am 22. März
1999 beantragte sie die Fortzahlung von Arbeitslosenhilfe und gab im Zusatzblatt "Bedürftigkeitsprüfung" das
Vermögen ihres Ehemannes U. B. an. Mit Schreiben vom 31. März 1999, ausweislich des Absendevermerks am 1.
April 1999 zur Post gegeben, teilte die Beklagte der Klägerin mit, aus dem beigefügten Berechnungsbogen könne die
Klägerin ersehen, wie der Anrechnungsbetrag errechnet worden sei. Mit Bescheid vom 7. April 1999 bewilligte die
Beklagte der Klägerin dann Arbeitslosenhilfe ab 30. April 1999 in Höhe von 153,09 DM wöchentlich. Ein davon
abzusetzender wöchentlicher Anrechnungsbetrag ist nicht ausgewiesen. Gleiches gilt für den Bewilligungsbescheid
vom 11. Januar 2000, wo als vom wöchentlichen Leistungsbetrag in Höhe von 158,69 DM abzusetzender
wöchentlicher Anrechnungsbetrag 0,00 angegeben ist.
Nach Anhörung (Schreiben vom 18. Mai 2000) teilte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 20. Juli 2000 mit, die
Entscheidung über die Bewilligung von Arbeitslosenhilfe werde ab 30. April 19999 in Höhe von 45,35 DM wöchentlich
aufgehoben. Der für die von der Aufhebung betroffene Zeit erhaltene Betrag von 2.371,16 DM sei von der Klägerin zu
erstatten.
Hiergegen legte die Klägerin am 11. August 2000 Widerspruch ein: Es habe keinesfalls grobe Fahrlässigkeit
vorgelegen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 21. September 2000 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Auf
den Inhalt der Entscheidung wird Bezug genommen.
Dagegen richtet sich die Klage vom 17. Oktober 2000. Die Klägerin trägt vor, aufgrund der komplizierten
Berechnungsmethode leuchte es keinesfalls ein, dass im konkreten Fall ein Anrechnungsbetrag abzusetzen sei. Sie
habe darauf vertrauen dürfen, dass ihre Angaben in die Berechnung mit einfließen würden. Das Schreiben vom 31.
März 1999 habe sie nicht erhalten.
Die Klägerin beantragt, den Bescheid vom 20. Juli 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.
September 2000 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig. Des Weiteren trägt sie vor, die Klägerin sei mit Schreiben vom
31. März 1999 über die Anrechnung eines Betrages aus dem Einkommen des Ehemannes auf die Arbeitslosenhilfe
informiert worden. Sie hätte die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsentscheidung erkennen können.
Das Gericht hat die Verwaltungsakte der Beklagten beigezogen. Wegen des weiteren Sachvortrags der Beteiligten und
des Sachverhalts im Einzelnen wird auf den Inhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig (§§ 87, 90, 92 SGG). Sie ist auch begründet.
Der Bescheid vom 20. Juli 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. September 2000 erweist sich
als rechtmäßig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG).
Eine Rechtsgrundlage für die streitige teilweise Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosenhilfe ab 30. April 1999 ist
entgegen der Auffassung der Beklagten nicht ersichtlich; insbesondere die Voraussetzungen der Rücknahme
rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte liegen nicht vor.
Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich wesentlichen Vorteil begründet oder bestätigt hat –
begünstigender Verwaltungsakt – rechtswidrig ist, darf er, nachdem er unanfechtbar geworden ist – nur unter den
nachfolgend erörterten Einschränkungen zurückgenommen werden (§ 45 Abs. 1 SGB X). Die Bewilligung von
Arbeitslosenhilfe ab 30. April 2000 mit Bescheid vom 7. April 1999 enthält einen begünstigenden Verwaltungsakt.
Rechtswidrigkeit liegt vor, wenn bei Erlass des Verwaltungsakts das – materielle oder formelle – Recht unrichtig
angewandt oder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden ist (Bickel, Kommentar zum SGB X,
Anmerkung 2 a zu § 45). Die Rechtswidrigkeit muss auch hier bereits bei Erlass des begünstigenden Verwaltungsakts
vorgelegen haben (Bickel, a. a. O., Anmerkung 2 a zu § 45); nachträglich eingetretene Unrichtigkeiten sind nur im
Rahmen des § 48 SGB X korrigierbar. Die Rechtswidrigkeit der Bewilligung bei Erlass dieser Entscheidung ist dadurch
eingetreten, dass die Klägerin – worüber die Beteiligten nicht streiten – ab Leistungsbeginn ab 30. April 1999 lediglich
einen Anspruch auf Zahlung von Arbeitslosenhilfe in Höhe von 107,74 DM statt in Höhe von 153,09 DM und ab 1.
Januar 2000 einen Anspruch in Höhe von 113,34 DM statt in Höhe von 158,69 DM hatte. Ein rechtswidriger
begünstigender Verwaltungsakt darf jedoch nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand
des Verwaltungsakts vertraut hat und dessen Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer
Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist regelmäßig schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen
verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen
rückgängig machen kann (§ 45 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB X). Ob ein Vertrauen des Begünstigten auf den Bestand des
Verwaltungsakts vorgelegen hat, ist Tatfrage. Hierbei kann allerdings nicht in erster Linie darauf abgestellt werden, ob
der Begünstigte das Vertrauen betätigt hat; das ist im Rahmen der Schutzwürdigkeit des Vertrauens zu prüfen.
Regelmäßig wird der Bürger jedoch darauf vertrauen dürfen, dass der Verwaltungsakt einer Behörde dem
Verfassungsgrundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung entspricht (Sozialgericht Marburg, Urteil vom 19. Februar
1998, Az.: S 5 AL 314/97). Hinsichtlich der Schutzwürdigkeit des Vertrauens ist abzuwägen zwischen dem Interesse
des Staates und damit der Allgemeinheit auf Herstellung eines rechtmäßigen, d. h. gesetzmäßigen Zustandes und
dem des gutgläubigen Bürgers auf Aufrechterhaltung seiner durch den früheren Verwaltungsakt begründeten, wenn
auch rechtswidrigen Position (SG Marburg a. a. O.). Die Abwägung ist nach den Gesamtumständen des Einzelfalles
vorzunehmen. Für die Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Bürgers nennt das Gesetz selbst als Regelbeispiel, dass
der Begünstigte die erbrachte Leistung verbraucht – hierauf beruft sich die Klägerin in ihrem Widerspruchsschreiben
vom 9. August 2000 – oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er zumutbar nicht mehr rückgängig machen
kann. Nicht berufen kann sich der Begünstigte auf Vertrauen (§ 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X), soweit: - er den
Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, Nr. 1, - der Verwaltungsakt auf
Angaben beruht, die er vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig
gemacht hat, Nr. 2, - er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht
kannte, Nr. 3. Grobe Fahrlässigkeit im Sinne der Nr. 2 und – worauf die Beklagte abstellt – Nr. 3 liegt vor, wenn der
Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 letzter
Halbsatz SGB X). Ob sie gegeben ist, richtet sich nicht nach objektiven ("im Verkehr erforderlichen") Merkmalen,
sondern nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit des Begünstigten, seinem Einsichtsvermögen und den
sonstigen besonderen Umständen des Einzelfalles (SG Marburg a. a. O.). Sie setzt eine Verletzung der
Sorgfaltspflichten in ungewöhnlich hohem Ausmaß voraus, eine auch subjektiv schlechthin unentschuldbare
Pflichtverletzung; es hat dem Begünstigten ohne jede weitere Überlegung klar sein müssen, was hier rechtens war
(so: Sozialgericht Marburg, Urteil vom 4. März 1999, S 5 AL 846/97). Unter Beachtung der vorstehenden Grundsätze
lässt sich der von der Beklagten gezogene Schluss, die Klägerin hätte die Rechtswidrigkeit des
Bewilligungsbescheides vom 7. April 1999 infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt, nicht aufrechterhalten. Ob der
Klägerin grobe Fahrlässigkeit vorzuhalten ist, richtet sich wie ausgeführt nach ihrer persönlichen Urteils- und
Kritikfähigkeit, ihrem Einsichtsvermögen und Verhalten sowie den besonderen Umständen. Grobe Fahrlässigkeit setzt
damit eine Sorgfaltspflichtverletzung auch in subjektiver Hinsicht voraus, die das gewöhnliche Maß der Fahrlässigkeit
erheblich übersteigt. Subjektiv schlechthin unentschuldbar ist ein Verhalten, wenn schon einfachste, ganz nahe
liegende Überlegungen nicht angestellt werden, wenn nicht beachtet wird, was in gegebenem Fall jedem einleuchten
muss. Grobe Fahrlässigkeit wäre der Klägerin daher nur dann vorzuwerfen, soweit es ihr ohne weitere Überlegung
hätte klar sein müssen, dass die Zahlung der Arbeitslosenhilfe nur mit Anrechnungsbetrag hätte erfolgen müssen.
Hierfür wäre jedoch erforderlich gewesen, dass die Klägerin die Anspruchshöhe richtig erkannt hatte. Eine solche
Sicht der Dinge verkennt jedoch, dass dem Begünstigten eine eigene rechtliche Wertung eingeräumt wird (BSGE 47,
28, 33). Pflichtwidrigkeit und Schuldhaftigkeit in diesem Sinne könne deshalb nur bejaht werden, wenn der
Verpflichtete die erforderliche Einsicht in die Erheblichkeit der dem Bewilligungsbescheid vom 7. April 1999 zugrunde
liegenden Berechnungsgrößen hatte oder haben konnte. Dem Umstand, dass ein Anrechnungsbetrag in dem
Bewilligungsbescheid vom 7. April 1999 und dem Bescheid vom 11. Januar 2000 nicht angegeben war, kommt hier
keine entscheidende Bedeutung zu, unabhängig davon, ob der Klägerin das Schreiben vom 31. März 1999
zugegangen ist. Denn der Ursprungsbescheid vom 7. April 1999 wurde unter dem 11. Januar 2000 bestätigt. Dies ist
eine Verfestigung der ursprünglichen Verwaltungsentscheidung aus Sicht des Begünstigten. Im Übrigen gilt auch der
Amtsermittlungsgrundsatz für die Beklagte, sodass der Leistungsträger auch bei laufend erbrachten Leistungen
ermitteln muss, ob die Voraussetzungen für die Leistungen noch vorliegen. Die Überprüfung des Leistungsfalls gehört
eindeutig zu den Aufgaben des Leistungsträgers. Da die Klägerin ihren Mitwirkungspflichten in vollem Umfang
nachgekommen ist, ist es eine Überforderung des Leistungsempfängers, dem Leistungsempfänger nicht nur die
Pflicht zur Angabe der leistungsrelevanten Tatsachen aufzuerlegen, sondern ihn auch zu überwachen und zu
verpflichten, ob ein ordnungsgemäßes Verwaltungsverfahren eingeleitet worden ist. Dies entzieht sich regelmäßig auf
seinem Wissen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.