Urteil des SozG Frankfurt am Main vom 22.05.2007

SozG Frankfurt: obduktion, stationäre behandlung, tod, exhumierung, anerkennung, wahrscheinlichkeit, verdacht, merkblatt, maler, fehlerhaftigkeit

Sozialgericht Frankfurt
Urteil vom 22.05.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 8 U 165/01
Hessisches Landessozialgericht L 8 KR 212/07
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 64.220,42 EUR zu erstatten.
Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin gegenüber der Beklagten ein Erstattungsanspruch gemäß § 105
SGB X zusteht.
Der bei der Klägerin und der Beklagten versicherte H. M. (im Folgenden: der Versicherte) war 50 Jahre als Maler und
Lackierer tätig.
Seit September 1988 litt der Versicherte an einem produktiven Husten mit rötlichem Auswurf und seit Januar 1999 an
erhöhter Körpertemperatur mit Verschlechterung des Allgemeinzustandes. Die weiterführende Diagnostik mittels CT-
Thoraxuntersuchung am 4.3.1999 ergab eine diffuse Infiltration der rechten Lunge. Im März 1999 wurde der
Versicherte mit Verdacht auf eine ausgedehnte interstitielle Pneumonie rechts stationär aufgenommen. Die Biopsie
mit histologischer Aufarbeitung der Gewebsproben ergab eine Lymphangiosis carcinomatosa eines schleimbildenden
Adenokarzinoms (Prof. Dr. A., Befundbericht vom 18.3.1999). Da die gefundenen Antikörper am ehesten auf einen
Primärtumor im Gastrointestinaltrakt hinwiesen, erfolgte die Primärsuche in diesem Bereich. Es wurde jedoch dort
kein Tumor gefunden und von einem primären Bronchialkarzinom ausgegangen (Dr. I., Befundbericht vom 29.3.1999,
Dr. K., Befundbericht vom 29.4.1999). Die Diagnose eines ausdifferenzierten Adenokarzinoms der Lunge mit
Lymphangiosis carcinomatosa konnte mittels transbronchialer Biopsie am 11.6.1999 gesichert werden. Das weitere
Tumorstating ergab bei der Ultraschalluntersuchung des Abdomens zunächst keinen Hinweis auf eine Metastasierung
und einen primär im Gastrointestinaltrakt lokalisierten Tumor. Knochenszinitigraphisch wurden keine
metastasetypischen Mehrspeicher dokumentiert. Im Rahmen der Schädel-CT, die zur Komplettierung der
Tumorstaging-Untersuchung durchgeführt wurde, zeigte sich eine kleinherdig ausgebildete Hirnmetastasierung.
Mit Schreiben vom 17.6.1999 teilte die Klägerin der Beklagten mit, dass sie eine Berufskrankheit (BK) bei dem
Versicherten annehme und machte einen Erstattungsanspruch geltend.
In der beratungsärztlichen Stellungnahme des Arbeitsmediziners H. vom 1.7.1999 gab dieser an, dass aufgrund der
erfolglosen Suche nach einem Primärtumor im Bauchraum und der Histologie ein Krankheitsbild im Sinne der BK Ziff.
4104 der Anlage 1 zur BK-Verordnung (BKV) vorliege. Allerdings erscheine zweifelhaft, dass bei einem Maler und
Lackierer eine nennenswerte Asbestexposition vorgelegen habe. Möglich sei auch ein Chromatlungenkrebs im Sinne
der BK Ziff. 1103. Zusammenfassend könne ein BK-Verdacht nicht sicher ausgeschlossen werden, so dass
arbeitstechnische Voraussetzungen der BKen Ziff. 4104 und 1103 geprüft werden müssten.
Nach der daraufhin von der Beklagten eingeholten Stellungnahme ihres TAD vom 27.7.1999 ist bei dem Versicherten
von 18,73 Faserjahren auszugehen. Im Hinblick auf eine BK Ziff. 1103 gab der TAD unter dem 4.8.1999 an, dass
schwerpunktmäßig eine Exposition gegenüber zinkchromathaltigen Produkten anzunehmen sei.
Unter dem 16.8.1999 führte der Beratungsarzt H. aus, dass der Vollbeweis eines primären Bronchialkarzinoms nicht
vorliege. Eine ausreichende Asbestexposition zur Anerkennung über die Faserjahre habe nicht bestanden. Dabei hob
er (mittels Fettdruck) besonders hervor, dass die ermittelte Exposition aber geeignet sein könne, eine Asbestose der
Lunge oder der Pleura zu verursachen und im Falle einer Obduktion entsprechende Ermittlungen einzuleiten seien.
Mit bestandskräftig gewordenem Bescheid vom 19.11.1999 lehnte die Beklagte dem Versicherten gegenüber die
Anerkennung der Erkrankung als BK Ziff. 1103 oder 4104 ab. Zwar habe eine Einwirkung von Asbeststaub und
Chromverbindungen bestanden. Eine Lungenkrebserkrankung habe jedoch nicht gesichert werden können.
Die Landesgewerbeärztin Dr. C. ging in ihrer Stellungnahme vom 25.11.1999 von einem Lymphangiosis carcinomatos
der Lunge bei bislang unbekanntem Primärtumor aus. Ferner stellte sie fest, dass die Exposition gegenüber Asbest
und Zinkchromat für die Verursachung eines Lungentumors geeignet sei. Eindeutige Brückensymptome im Sinne
einer Asbestose der Lunge oder Pleura lägen nicht vor. Aus dem histologischen Befund (leicht fibrosiertes
Lungenparenchym) könne eine Minimalasbestose weder geschlossen noch ausgeschlossen werden. Ein primäres
Lungenkarzinom sei nicht bewiesen. Die Möglichkeit der Obduktion sollte hinsichtlich einer Minimalasbestose geprüft
werden.
Am 24.12.1999 wurde der Versicherte erneut stationär aufgenommen und verstarb am 8.1.2000 an den Folgen seiner
schweren Grunderkrankung. Die Beklagte wurde durch Dr. L. am 16.2.2000 von dem Tod des Versicherten in Kenntnis
gesetzt.
In der Stellungnahme des Beratungsarztes H. vom 21.2.2000 führte dieser aus, dass ein Krankheitsbild im Sinne der
BK Ziff. 4104 oder 1103 nicht im Vollbeweis vorliege. Da gerade der Gastrointestinalbereich physiologischerweise
stark bakteriell besiedelt sei, was zu einer beschleunigten Zersetzung führe, könne eine Exhumierung den Nachweis
eines primären Bronchialkarzinoms nicht mehr liefern. Da der Primärtumor nicht im Vollbeweis gesichert werden
könne, sei es unbeachtlich, ob durch eine Exhumierung eine Minimalasbestose nachgewiesen werden könne. Die
Beklagte teilte unter dem gleichen Datum der Klägerin mit, dass sie das Feststellungsverfahren nicht wieder
aufnehmen werde.
Mit Schreiben vom 13.4.2000 leitete die Klägerin der Beklagten das Gutachten des Dr. L. vom 5.4.2000 zu. Dieser
kam zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass bei dem Versicherten eine Geschwulst im Bereich des
Lungengewebes festgestellt worden sei und die von der Beklagten vermutete metastatische Absiedelung bei einem
Primärkarzinom im Magen-Darm-Trakt nie habe bewiesen werden können.
Hierauf erwiderte der Beratungsarzt H. unter dem 8.5.2000, dass der immunhistochemische Befund "am ehestens" für
einen Primärtumor im Gastrointestinaltrakt spreche. Da nicht der gesamte Darm des Versicherten untersucht worden
sei, sei es weiterhin zulässig, trotz erfolgloser gastrointestinaler Tumorsuche am fehlenden Nachweis eines primären
Bronchialkarzinoms festzuhalten. Eine Obduktion sei an der mangelnden zeitnahen Information gescheitert. Eine
Exhumierung würde nicht weiterhelfen. Die Nichterbringlichkeit des Nachweises eines geeigneten Krankheitsbildes sei
den Hinterbliebenen zuzurechnen.
In dem Gutachten von Dr. L. vom 21.7.2000 hat dieser ausgeführt, dass 6 Wochen nach dem Todesfall die
Pathologen noch ausreichend aussagefähiges Material fänden. Dies gelte insbesondere dann, wenn der Betroffene –
wie vorliegend – im Winter verstorben sei. Prof. Dr. A. habe eingeräumt, dass ein Primärtumor in der Lunge sehr
wahrscheinlich sei. Denn es sei sehr ungewöhnlich, dass ein Primär-CA im Bereich des Magen-Darm-Traktes im
Verlauf von fast 10 Monaten nicht symptomatisch werde. Die Beklagte habe gegen ihre Amtsermittlungspflicht
verstoßen.
Die am 11.1.2001 erhobene Klage begründet die Klägerin im Wesentlichen damit, dass die Anerkennung einer BK Ziff.
1103 kein Tumorverdopplungsrisiko verlange. Kumulative Dosisbetrachtungen seien in dem Merkblatt nicht enthalten.
Hinsichtlich der BK Ziff. 4104 sei durch die unterlassene Obduktion der Nachweis einer Minimalasbestose zunichte
gemacht worden. Die vorliegenden Aufklärungsdefizite stellten einen Verstoß der Beklagten gegen den
Amtsermittlungsgrundsatz dar. Eine Beweiserleichterung sei in diesem Fall sachgemäß. Auch liege hinsichtlich des
ablehnenden Bescheides offensichtliche Fehlerhaftigkeit vor. Sie hat die gutachterlichen Stellungnahmen des Dr. L.
vom 6.1.2005, 1.6.2005, 30.12.2005 und 21.6.2006 vorgelegt.
Die Klägerin beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 64.220,42 EUR zu zahlen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie ist der Auffassung, dass der Erstattungsanspruch der Klägerin nicht besteht. Der bestandskräftige Bescheid
gegenüber dem Versicherten entfalte Tatbestandswirkung. Eine offensichtliche Fehlerhaftigkeit liege nicht vor.
Nach Erörterung vor dem SG und der entsprechenden gerichtlichen Anordnung hat die Beklagte die Befundunterlagen
über die stationäre Behandlung des Versicherten im Bürgerhospital F. M. und der Thoraxklinik in H. vorgelegt, die
nach der Stellungnahme des Beratungsarztes H. vom 1.10.2004 nicht geeignet seien, ein primäres Bronchialkarzinom
zu beweisen, es vielmehr noch unwahrscheinlicher machten. Ferner hat die Beklagte die Stellungnahme des TAD
vom 22.11.2005 zur Chromatbelastung des Versicherten übersandt.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens nach Aktenlage durch PD
Dr. S. Dieser kommt in seinem Gutachten vom 7.3.2006 zu dem Ergebnis, dass zum Zeitpunkt des Todes des
Versicherten ein histologisch gesichertes metastasierendes Adenokarzinom des rechten Lungenoberlappens mit
Lymphangiosis carcinomatosa, Pleuraerguss rechts sowie initial asymptomatischen Hirnmetastasen vorgelegen
hätten. An einem primären Bronchialkarzinom bestünden keine Zweifel. Eine BK Ziff. 4104 könne dennoch nicht
hinreichend wahrscheinlich gemacht werden, da nur 18,73 Faserjahre vorlägen, keine Brückenbefunde bestünden,
kein sicherer Hinweis auf eine Lungen- oder/und Pleuraasbestose vorliege und eine Minimalasbestose mangels
kein sicherer Hinweis auf eine Lungen- oder/und Pleuraasbestose vorliege und eine Minimalasbestose mangels
Obduktion und entsprechendem Untersuchungsmaterial nicht zu sichern sei. Eine BK 1103 sei ebenfalls nicht
anzuerkennen, da die Zinkchromatexposition zu gering sei. Hinsichtlich des Zusammenwirkens von Asbest und
Zinkchromat (Synkanzerogenese) hat er ausgeführt, dass keine valide Abschätzung des erhöhten Lungenkrebsrisikos
möglich sei, da die kumulative Zinkchromat-Dosis sicherheitstechnisch nicht habe benannt werden können. Eine
synkanzerogene Risikosteigerung von Asbestfaserstäuben und Zinkchromaten lasse sich nur mit non liquet
beurteilen. Ferner hat er auf den chronischen Rauchkonsum des Versicherten verwiesen.
Zum Rauchverhalten des Versicherten hat das Gericht die Stellungnahme von dessen Ehefrau vom 21.9.2005
eingeholt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Akte der Beklagten
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die Klägerin hat einen Erstattungsanspruch gemäß § 105 Abs. 1 SGB X, da bei dem Versicherten eine BK nach Ziff.
4104 der Anlage 1 zur BKV vorlag, welche zu dessen Tod geführt hat.
Für die Anerkennung einer BK ist Voraussetzung, dass die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie
bedingten schädigenden Einwirkungen im Sinne des "Vollbeweises", also mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der
Entschädigungspflicht, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu
bestimmen ist, die hinreichende Wahrscheinlichkeit – nicht allerdings die bloße Möglichkeit – ausreicht (BGS SozR 3-
2200 § 551 Nr. 16; HLSG, Urt. v. 3.11.2004, Az. L 3 U 1613/97).
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist das Vorliegen eines primären Bronchialkarzinoms, an dessen Folgen der
Versicherte verstorben ist, im Vollbeweis bewiesen. Das Gericht folgt insoweit den überzeugenden Ausführungen des
PD Dr. S. in seinem Gutachten vom 7.3.2006, die mit den Diagnosen der behandelnden Lungenfachärzte der
Spezialklinik in H.-R. (Prof. Dr. D., Befundberichte u.a. vom 22.6.1999, 30.11.1999 und 12.1.2000) und des
Pathologen Prof. Dr. K. (Befundbericht vom 14.6.1999) übereinstimmen.
Das Gericht ist auch davon überzeugt, dass der Lungenkrebs in Verbindung mit einer Asbestose gestanden hat.
Das Vorliegen einer Asbestose kann anhand von Gewebsuntersuchungen nicht mehr festgestellt werden, da eine
rechtzeitige Exhumierung und Obduktion des Versicherten versäumt worden ist. Die Beklagte hat es insoweit
schuldhaft unterlassen, den medizinischen Sachverhalt im erforderlichen Umfang aufzuklären. Ihr oblag es,
festzustellen, ob bei dem Versicherten eine Asbeststaublungenerkrankung vorlag, da sie nach § 20 SGB X zur
Amtsermittlung verpflichtet war. Das Ausmaß der Ermittlungen steht zwar im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde
(BSG, Urteil vom 10.8.1993, SozR 3-1750 § 444 Nr. 1 mwN). Die Behörde bestimmt mithin Art und Umfang der
Ermittlungen. Das Absehen von einer Obduktion des Versicherten seitens der Beklagten war bei dem vorliegenden
Sachverhalt jedoch ermessensfehlerhaft, da ihr Ermessensspielraum angesichts des sich aufgrund der Befundlage
aufdrängenden Verdachts einer BK Ziff. 4104 insoweit auf Null reduziert war. Die Beklagte wäre auch in der Lage
gewesen, dieser Pflicht nachzukommen, nachdem ihr am 16.2.2000 durch Dr. L. der Tod des Versicherten am
8.1.2000 mitgeteilt worden ist. Aufgrund der von ihr durchgeführten Ermittlungen ist ihr auch bekannt gewesen, dass
der Verdacht einer BK Ziff. 4104 bestand. Auch von der Erforderlichkeit einer Obduktion (ggf. nach Exhumierung des
Versicherten) hat die Beklagten aufgrund der Stellungnahmen ihres Beratungsarztes vom 16.8.1999 und der
Landesgewerbeärztin vom 25.11.1999 Kenntnis gehabt. Dennoch hat sie eine Obduktion abgelehnt.
Dieses Versäumnis kann nicht mit der Stellungnahme des Beratungsarztes vom 21.2.2000 gerechtfertigt werden. Das
von diesem vorgebrachte Argument, von einem primären Lungenkrebs sei nicht im Vollbeweis auszugehen, vielmehr
sei ein primärer Gastrointestinaltumor wahrscheinlich, ist aufgrund der vorliegenden Befundberichte nicht haltbar. Die
Beklagte kann zu ihren Gunsten auch nicht vorbringen, dass ihr die Befundberichte der Lungenfachärzte der
Spezialklinik in H.-R. zum Zeitpunkt der Ablehnung einer Exhumierung nicht vorgelegen hätten. Denn es hätte ihr
bereits im Feststellungsverfahren den Versicherten betreffend aufgrund ihrer Amtsermittlungspflicht oblegen, die
entsprechenden Behandlungsberichte einzuholen. Dass dies erst aufgrund der gerichtlichen Anordnung im
Erörterungstermin vor dem SG vom 29.7.2004 geschehen ist, kann der Beklagten nicht zum Vorteil gereichen.
Eine Obduktion hätte in den ersten Monaten nach dem Tod des Versicherten auch noch zu verwertbaren Ergebnissen
geführt, da es aufgrund des Vorliegens eines primären Lungenkrebs nicht um den Nachweis eines
Gastrointestinaltumors gegangen wäre. Der Nachweis einer (Minimal-)Asbestose kann noch nach einigen Monaten
nach dem Tod des Betroffenen – zumal wenn dieser wie hier im Winter eintritt – erbracht werden. Dies haben die
Ausführungen von Dr. L. zur Überzeugung des Gerichts aufgezeigt.
Das Gericht ist auch davon überzeugt, dass bei dem Versicherten eine Asbestose vorgelegen hat. Den
Tatsachengerichten bleibt es im Rahmen ihrer freien richterlichen Beweiswürdigung überlassen, je nach Besonderheit
des maßgebenden Einzelfalls schon einzelne Beweisanzeichen, im Extremfall sogar ein Indiz ausreichen zu lassen
für die Feststellung einer Tatsache oder der daraus abgeleiteten Bejahung der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen
Zusammenhangs (BSG Urteil vom 27.5.1997 (SozR 3 1500 § 128 Nr. 11, s.a. Bay. LSG, Urteil vom 13.4.2005 – L 2 U
336/03; LSG Schlesw.-Holstein, Urteil vom 25.3.1998 – L 8 U 93/97 ). Ein solcher Fall liegt hier vor, da die Beweisnot
der Klägerin durch die Beklagte schuldhaft verursacht worden ist. Fest steht, dass der Versicherte in seinem
Arbeitsleben in erheblichem Ausmaße gegenüber Asbeststaub exponiert war. Die Berechnungen des TAD haben
18,73 Faserjahre ergeben. Dies reicht aus, dass zumindest eine – für die Anerkennung der BK Ziffer 4104
ausreichende – Minimalasbestose entstanden ist. Wegen der hier greifenden Beweiserleichterung ist es unerheblich,
dass PD Dr. S. die Minimalasbestose bei dem Versicherten als nicht gesichert bezeichnet hat. Diese Auffassung
beruht auf dem Umstand, dass die erforderlichen Beweise aus von der Beklagten zu vertretenden Umständen zum
Zeitpunkt der Begutachtung nicht mehr zu erheben waren. Sie ist daher hier rechtlich ohne Belang. Gleiches gilt
hinsichtlich der Stellungnahme der Landesgewerbeärztin, die darüber hinaus eine Obduktion zur Prüfung einer
Minimalasbestose angeregt hat.
Durch die Asbestose ist es bei dem Versicherten zum Lungenkrebs gekommen. Zwar war der Versicherte auch
Raucher. Dies spricht in diesem Fall aber nicht gegen eine wesentliche Verursachung der Krebserkrankung durch die
Asbestose. Nach den Angaben der Ehefrau des Versicherten in ihrem Schreiben vom 21.9.2005 hat dieser zwischen
dem 24. und dem 35. Lebensjahr mäßig Zigaretten und zwischen dem 35. und dem 39. Lebensjahr ab und zu eine
Pfeife geraucht. Auch wenn angenommen werden kann, dass die erhebliche Asbestexposition und das
Rauchverhalten des Versicherten zusammen den Krebs verursacht haben (vgl. Merkblatt zur BK Ziff. 4104,
Lauterbach, § 9 SGB VII, Anhang IV, 4104, Anm. IV), so geht das Gericht jedenfalls davon aus, dass die
Asbestexposition zumindest eine gleichwertige Teilursache und damit wesentliche Ursache im Rechtssinne darstellt.
Liegt im Übrigen eine Asbestose – und sei es auch nur eine Minimalasbestose – vor, so wird nach dem Wortlaut der
BK Ziff. 4104 der Kausalzusammenhang zwischen Asbeststaubexposition und dem Lungenkrebs unterstellt (vgl.
Merkblatt, a.a.O.). Der Tod des Versicherten ist schließlich auch durch die BK verursacht worden.
Ob darüber hinaus auch eine BK Ziff. 1103 vorgelegen hat oder aufgrund der geringen Zinkchromatexposition zu
verneinen ist (so PD Dr. S.), kann bei diesem Sachverhalt dahinstehen.
Dem Erstattungsanspruch der Klägerin steht schließlich auch nicht der Bescheid der Beklagten gegenüber dem
Versicherten vom 19.11.1999 entgegen. Dabei kann dahinstehen, ob der ablehnende Bescheid der Beklagten
gegenüber dem Versicherten eine Tatbestandswirkung gegen über der Klägerin entfaltet (BSG, Urteil vom 23.6.1993,
SozR 3-1300 § 112 Nr. 2 und Urt. vom 17.6.1993, SozR 3-1300 § 103 Nr. 4, SG Hannover, Urteil vom 6.4.2005 – S 36
U 211/04; s.a. von Wulffen, SGB X, vor § 102 Rn. 6; Kater, KassKomm, SGB X § 102 Rn. 33, § 103 Rn. 45, 54 ff., §
104 Rn. 38) oder es sich bei den Erstattungsansprüchen der §§ 102 ff. SGB X um eigenständige, originäre Ansprüche
handelt, die nicht von der Rechtsposition des Leistungsberechtigten abhängig sind, so dass selbst die bindende
Ablehnung des Begehrens des Sozialleistungsberechtigten durch den auf Erstattung in Anspruch genommenen
Leistungsträger dem späteren Erstattungsbegehren des vorleistenden Leistungsträger nicht entgegen steht (BSG,
Urteil vom 28.9.1999, SozR 3-5670 § 3 Nr. 4 mwN; LSG NRW, Urteil vom 20.3.2001 – L 5 KR 87/99 – juris, mwN;
BVerwG, Urteil vom 12.9.1991, NVwZ-RR 1992, 482). Denn im Verhältnis der Versicherungsträger untereinander gilt
jedenfalls auch, dass sie im Hinblick auf die vielfältige gegenseitige Abhängigkeit von Sozialleistungen zur engen
Zusammenarbeit (§ 86 SGB X) und auch Rücksichtnahme auf die Belange des anderen Leistungsträgers verpflichtet
sind. Hieraus folgt eine allgemeine, der Kooperationsbeziehung immanente Verpflichtung, eine Entscheidung zu
korrigieren, die offensichtlich fehlerhaft ist und einem anderen Leistungsträger zum Nachteil gereicht, oder zumindest
ihn so zu stellen, als wenn von Anfang an richtig entschieden worden wäre. Bei der Prüfung, ob ein Bescheid
offensichtlich fehlerhaft ist, ist nicht von § 38 SGB X auszugehen. Es kommt mithin nicht darauf an, ob eine
offenbare Unrichtigkeit aufgrund von Schreib- oder Rechenfehlern vorliegt. Vielmehr ist zu prüfen, ob die getroffene
Entscheidung objektiv unter Berücksichtigung der verfügbaren Entscheidungsgrundlagen dem materiellen Recht
deutlich widerspricht (BSG, Urteil vom 17.6.1993, a.a.O.; Urteil vom 30.5.2006, SozR 4-3100 § 18 c Nr. 2). Ein
solcher deutlicher Widerspruch liegt nicht bereits dann vor, wenn verschiedene Gutachter zu einer unterschiedlichen
Einschätzung medizinischer Fragen gelangen. Ist aufgrund der Beweislage jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit davon
auszugehen, dass ein positiver Bescheid hätte ergehen müssen, so ist aufgrund der o. g. gesetzlich normierten
Kooperationsbeziehung zwischen den Leistungsträgern ein Verweis auf die Tatbestandswirkung eines
bestandskräftigen Bescheides nicht zu rechtfertigen. Dies gilt insbesondere dann, wenn der erstattungsberechtigte
Leistungsträger sich bereits in das vorangegangene Verwaltungsverfahren des Erstattungspflichtigen "eingeschaltet"
hat, indem er z. B. selbst medizinische Gutachten hat erstellten lassen, seine abweichende Auffassung kundgetan
oder auf erforderliche Ermittlungsschritte aufmerksam gemacht hat. In diesen Fällen ist es mit der o.g.
Kooperationsbeziehung nicht zu vereinbaren, wenn der erstattungspflichtige Leistungsträger sich auf die
Tatbestandswirkung seines Bescheides gegenüber dem Versicherten beruft. Andernfalls stünde es in diesen Fällen
regelmäßig allein in der Entscheidung des Erstattungspflichtigen – indirekt - über einen etwaigen Erstattungsanspruch
des Erstattungsberechtigten zu entscheiden. Da der erstattungsberechtigte Leistungsträger in diesem Verfahren aber
nicht beizuladen ist (vgl. LSG Nieders. 7.2.2000 – L 3 B 15/00 U - juris), kann er auf den Ausgang des Verfahrens
allenfalls versuchen, indirekt Einfluss zu nehmen, indem er den Versicherten oder seine Hinterbliebenen zur Einlegung
von Rechtsmitteln gegen ablehnende Entscheidungen auffordert oder den Erstattungspflichtigen von der eigenen
Auffassung in Kenntnis setzt und zu Ermittlungen anhält.
Vorliegend ist damit davon auszugehen, dass die Beklagte sich nicht auf eine Tatbestandswirkung des
bestandskräftigen Bescheids gegenüber dem Versicherten berufen kann. Die Klägerin hat bereits während des
vorangegangenen Verwaltungsverfahrens zu erkennen gegeben, dass sie eine Ablehnung der Berufskrankheit für
unzutreffend hält. Darüber hinaus zeigen die bereits im Verwaltungsverfahren eingeholten Befundberichte und die
Stellungnahme der Landesgewerbeärztin, wie oben ausgeführt, dass entgegen der Auffassung der Beklagten der
Verdacht einer BK bestand und entsprechende Ermittlungen – insbesondere eine Obduktion – nach dem Tod des
Versicherten zur Klärung des Vorliegens einer Minimalasbestose hätten veranlasst werden müssen. Dies wurde durch
das im Gerichtsverfahren eingeholte Gutachten bestätigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Das Verfahren ist noch vor dem 1.1.2002 anhängig gemacht worden,
Art. 17 des 6. Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes v. 17.8.2001 (BGBl. I, Bl. 2144, 2158).