Urteil des SozG Duisburg vom 20.07.2010

SozG Duisburg (kläger, arbeitgeber, kündigung, reparatur, dolus eventualis, gesetzliche grundlage, zeitlicher zusammenhang, werkstatt, verhalten, verhandlung)

Sozialgericht Duisburg, S 31 AS 306/09
Datum:
20.07.2010
Gericht:
Sozialgericht Duisburg
Spruchkörper:
31. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 31 AS 306/09
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
1
Streitig ist die sanktionsweise Absenkung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch
(SGB) Zweites Buch (II) – Grundsicherung für Arbeitsuchende für den Zeitraum Februar
bis April 2009 um 105,00 EUR monatlich.
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Der am 09.12.1957 geborene und seit vielen Jahren in Issum lebende Kläger ist
niederländischer Staatsangehöriger. Er ist seit 2001 mit kurzen Unterbrechungen
arbeitslos. Noch im November 2004 hatte er vorübergehend in Venray (Niederlande)
eine Beschäftigung ausgeübt, diese jedoch ausweislich einer persönlichen Vorsprache
beim Beklagten am 10.02.2005 aufgegeben, da sein Pkw defekt gewesen sei und er
somit nicht habe zur Arbeit kommen können. Seit 2005 bezieht er SGB II-Leistungen.
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Am 11.09.2008 trat der Kläger (wiederum) ein Arbeitsverhältnis bei der Firma Proflex
B.V. (heute: Start People inhouse Services) in Venray an, worüber er den Beklagten
vorab am 03.09.2008 informierte. Auf entsprechende Anträge vom selben Tag sowie
vom 29.09.2008 gewährte der Beklagte u.a. Mobilitätsbeihilfen.
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Mit Bescheid vom 22.09.2008 rechnete der Beklagte aufgrund entsprechender Angaben
des Klägers vorläufig ein Einkommen von 1.350,00 EUR netto an, weswegen ab
Oktober 2008 kein Leistungsanspruch mehr bestehe.
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Am 29.10.2008 sprach der Kläger erneut bei der Beklagten vor. Die
Zylinderkopfdichtung seines Kfz (Opel Corsa) sei defekt gewesen. Aufgrund dessen
habe er nicht zur Arbeit fahren können. Er habe die Reparatur einem Bekannten
übertragen, der dafür jedoch 14 Tage benötigt habe. Am 28.10.2008 habe ihm der
Arbeitgeber telefonisch gekündigt.
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Auf einen Fortzahlungsantrag des Klägers vom 10.12.2008 gewährte der Beklagte
diesem mit Bescheid vom 16.12.2008 Leistungen für den Zeitraum Januar bis Juni 2009
unter Absenkung der Leistungen für den Zeitraum Januar bis März 2009 in Höhe von 30
7
% der Regelleistung. In der Begründung heißt es, es werde Bezug genommen auf ein
entsprechendes Schreiben vom 17.12.2008. Dieses Schreiben wurde jedoch nie
erstellt.
Unter dem 22.01.2009 (abgesandt am 28.01.2009) erging erneut ein Bescheid für den
Zeitraum Januar bis Juni 2009. Darin heißt es: "Wie bei Ihrer letzten Vorsprache bereits
mitgeteilt, wird die Leistungskürzung für den Monat Januar 2009 aufgrund des fehlenden
Kürzungsbescheids aus der Berechnung entnommen. Bezüglich der Kürzung ab
Februar 2009 verweise ich auf meinen Kürzungsbescheid vom 26.01.2009."
8
Mit Bescheid vom 26.01.2009 (zugestellt gegen Empfangsbekenntnis am 29.01.2009)
senkte der Beklagte die Leistungen des Klägers für den Zeitraum Februar bis April 2009
um monatlich 105,00 EUR ab. Er stützte diese Absenkung - jedenfalls in der
Begründung des Bescheids - auf § 31 Abs. 4 Nr. 3b SGB II. Dem Kläger sei wegen
Fehlzeiten gekündigt worden. Es sei ihm zuzumuten gewesen, während der Reparatur
seines Kfz auf andere Verkehrsmittel zurückzugreifen oder sich von anderen
Arbeitnehmern mitnehmen zu lassen. In einer Werkstatt hätte der Wagen in kürzester
Zeit repariert werden können. Wegen der Übernahme der Kosten hätte er beim
Beklagten vorsprechen können.
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Am 29.01.2009 legte der Kläger Widerspruch ein. Er sei bereits im Oktober 2008 bei
seiner Sachbearbeiterin - der Zeugin B. - persönlich vorstellig geworden und habe um
Leistungen zur Reparatur seines Kfz gebeten. Dies sei von der Zeugin B. abgelehnt
worden. Er habe dieser gegenüber ausdrücklich erklärt, dass ihm eine Kündigung
drohe, wenn ihm diese Leistungen nicht gewährt würden. Außerdem habe er sich zum
damaligen Zeitpunkt um eine Mitfahrgelegenheit bemüht, jedoch erfolglos.
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Am 04.03.2009 stellte der Kläger einen Eilantrag beim erkennenden Gericht (Az.: S 5
AS 83/09 ER), in dessen Rahmen sich der Beklagte auf Anregung des Gerichts dazu
bereit erklärte, die einbehaltenen Leistungen bis zum Abschluss des
Hauptsacheverfahrens wieder auszuzahlen.
11
Mit Widerspruchsbescheid vom 05.08.2009 wies der Landrat des Kreises Kleve den
Widerspruch zurück. Auch nach nochmaliger Befragung der zuständigen
Sachbearbeiter sei nicht ersichtlich, dass der Kläger wegen Leistungen für die
Reparatur seines Kfz im Oktober 2008 vorgesprochen habe.
12
Hiergegen richtet sich die am 13.08.2009 erhobene Klage.
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Der Kläger trägt vor, die Kündigung durch den niederländischen Arbeitgeber sei
rechtswidrig gewesen, da weder eine Abmahnung erfolgt sei noch eine schriftliche
Kündigung vorliege. Er - der Kläger - habe sich unmittelbar nachdem das Fahrzeug
nicht mehr funktionsfähig gewesen sei bei seinem Arbeitgeber in den Niederlanden
gemeldet. Dort sei ihm dann gesagt worden, dass er zusehen solle, dass er so schnell
wie möglich wieder arbeiten komme. Unmittelbar darauf habe er sich sodann bei der
Zeugin B. gemeldet. Später habe er sich nochmal bei seinem Arbeitgeber gemeldet.
Dort habe man dann wiederum gesagt, dass er so schnell wie möglich wieder arbeiten
kommen solle, ansonsten könne man für nichts garantieren. Einen Urlaubsanspruch
habe er seiner Einschätzung nach damals noch nicht gehabt. Eine Anreise mit dem
öffentlichen Personennahverkehr sei deshalb nicht in Betracht gekommen, da er dann
nicht pünktlich zum Schichtbeginn um 6.00 Uhr in Venray hätte erscheinen können. Die
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Sanktionierung sei im Übrigen deshalb rechtswidrig, da sie nicht unmittelbar im
Anschluss an das vermeintliche Fehlverhalten ergangen sei.
Der Kläger beantragt,
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die Bescheide vom 22.01.2009 und 26.01.2009 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 05.08.2009 aufzuheben.
16
Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
18
Der Beklagte trägt vor, die Wirksamkeit der Kündigung, gegen die der Kläger offenbar
nicht vorgegangen sei, sei nicht von Belang. Entscheidend sei, dass er Anlass für die
arbeitgeberseitige Kündigung gegeben habe. Eine persönliche Vorsprache des Klägers
zur Beantragung von Leistungen für die Reparatur seines KfZ sei nicht erfolgt. Die
Zeugin B. hätte schon deshalb einen Vermerk hierüber angefertigt, da sie nicht für
Eingliederungsleistungen zuständig gewesen sei.
19
Die Firma Start People inhouse Services hat mehrfach durch Herrn J. schriftlich Stellung
genommen. Auf diese Stellungnahmen wird Bezug genommen.
20
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin B ... Wegen der
Einzelheiten der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll zur mündlichen Verhandlung
vom 20.07.2010 Bezug genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte
des vorliegenden Klageverfahrens und die des Eilverfahrens S 5 AS 83/09 ER sowie
auf die ebenfalls beigezogene Leistungsakte verwiesen, deren jeweiliger wesentlicher
Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
22
Entscheidungsgründe:
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Die als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage auszulegende Klage ist
unbegründet.
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Die ausdrücklich nur als Anfechtungsklage erhobene Klage ist vor dem Hintergrund des
klägerischen Begehrens dahingehend auszulegen, dass zugleich eine Leistungsklage
erhoben wird. Der Kläger wendet sich gegen eine sanktionsweise Leistungsabsenkung.
Dies beinhaltet gleichzeitig das Begehren entsprechend höherer Leistungen. In einem
solchen Fall ist eine Anfechtungsklage dann ausreichend, wenn der
Sanktionsentscheidung ein Bewilligungbescheid ohne sanktionsweise
Leistungsabsenkung vorausgegangen ist. Das war hier aber nicht der Fall. Sowohl mit
Bescheid vom 16.12.2008 als auch mit Bescheid vom 22.01.2009 gewährte der
Beklagte nur sanktionsweise abgesenkte Leistungen. Die Aufhebung dieser Bescheide
beziehungsweise - entsprechend dem klägerischen Antrag - nur des Bescheids vom
22.01.2009 brächte dem Kläger keine höheren Leistungen.
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Der Klage fehlt es auch nicht an einem Rechtsschutzbedürfnis im Hinblick auf die
Monate Februar und März 2009, weil eine sanktionsweise Leistungsabsenkung für
diese beiden Monate bereits bestandskräftig mit Bescheid vom 16.12.2008 festgestellt
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wäre. Es ist vor dem Hintergrund der Einleitung des Bescheids vom 22.01.2009, die auf
eine vorherige persönliche Vorsprache des Klägers wegen der nach seiner Ansicht
offenbar unzutreffenden Sanktion hindeutet, vielmehr davon auszugehen, dass der
Kläger gegen den Bescheid vom 16.12.2008 Widerspruch eingelegt hat und dass die
Beklagte den Bescheid vom 16.12.2008 mit Bescheid vom 22.01.2009 nach § 44 SGB X
zurückgenommen hat. Zwar heißt es im Bescheid vom 22.01.2009, dass (lediglich) die
Leistungskürzung für den Monat Januar 2009 "aus der Berechnung entnommen" werde.
Aus dem Gesamtzusammenhang der Bescheide vom 22. und 26.01.2009, die jeweils
aufeinander Bezug nehmen, ist aber zu entnehmen, dass der Beklagte die Leistungen
(insbesondere) für die Monate Februar bis April 2009 mit ebendiesen Bescheiden neu
regeln wollte.
Der Kläger ist jedoch durch die Bescheide vom 22. und 26.01.2009 nicht im Sinne von §
54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG - beschwert, da diese rechtmäßig sind.
Denn ihm stehen für die Monate Februar bis April 2009 nicht mehr als die mit den
angefochtenen Bescheiden bewilligten Leistungen zu. Insbesondere die Reduzierung
der nach §§ 19 ff. SGB II errechneten Leistungen um 105,00 EUR monatlich für die
Monate Februar bis April 2009 ist rechtmäßig.
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Rechtlicher Maßstab für die Höhe der Leistungen in diesen Monaten sind §§ 19 ff. SGB
II einschließlich § 31 SGB II. Anders als in üblichen Sanktionsfällen (vgl. hierzu etwa
BSG, Urteil vom 10.12.2009, B 4 AS 30/09 R, Rdnr. 19) liegt hier keine
Aufhebungsentscheidung nach § 48 SGB X vor. Es ist vielmehr davon auszugehen,
dass mit den Bescheiden vom 22. und 26.01.2009 erstmals die Leistungen für
ebendiesen Zeitraum festgesetzt wurden, nachdem die Entscheidung vom 16.12.2008
mit Bescheid vom 22.01.2009 zurückgenommen worden war.
28
Die Berechnung der Leistungen nach §§ 20, 22 SGB II ist dabei zwischen den
Beteiligten nicht im Streit und begegnet auch keinen Bedenken. Der Kläger ist auch
nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von SGB II-Leistungen ausgeschlossen. Die
Kammer geht davon aus, dass der Kläger aufgrund seines langjährigen Aufenthalts in
der Bundesrepublik zumindest ein Aufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU hat.
Der Beklagte hat die Leistungen sodann für die streitigen Monate zu Recht in Höhe von
105,00 EUR monatlich verringert.
29
Gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II wird das Arbeitslosengeld II um 30 v.H. der für den
erwerbsfähigen Hilfebedürftigen nach § 20 SGB II maßgebenden Regelleistung
abgesenkt, wenn die in den dortigen Nrn. 1 oder 2 genannten Voraussetzungen
gegeben sind. Gemäß § 31 Abs. 4 Nr. 3b SGB II gilt Abs. 1 entsprechend bei einem
erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, der die in dem Dritten Buch genannten
Voraussetzungen für den Eintritt einer Sperrzeit erfüllt, die das Ruhen oder Erlöschen
eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld begründen. Gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 und Satz
2 Nr. 1 SGB III ruht der Anspruch für die Dauer einer Sperrzeit, wenn sich ein
Arbeitnehmer versicherungswidrig verhält, ohne dafür einen wichtigen Grund zu haben.
Versicherungswidriges Verhalten liegt danach u.a. vor, wenn der Arbeitslose durch ein
arbeitsvertragswidriges Verhalten Anlass für die Lösung eines
Beschäftigungsverhältnisses gegeben und dadurch zumindest grob fahrlässig die
Arbeitslosigkeit herbeigeführt hat.
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Nach diesen Maßstäben waren hier die Leistungen des Klägers für den Zeitraum
Februar bis April 2009 um 30 v.H. der maßgebenden Regelleistung abzusenken.
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Gegen die Anwendbarkeit von § 31 Abs. 4 Nr. 3b SGB II bestehen keine Bedenken. Ein
Arbeitsplatzverlust wegen einer arbeitgeberseitigen Kündigung stellt gerade einen
typischen Anwendungsfall von § 31 Abs. 4 Nr. 3b SGB II dar (vgl. BSG, Urteil vom
22.03.2010, B 4 AS 68/09 R, Rdnr. 12 f.).
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Der Anwendung von § 31 Abs. 4 Nr. 3b SGB II im vorliegenden Fall steht auch nicht
entgegen, dass der Kläger als niederländischer Staatsbürger ein
Beschäftigungsverhältnis in den Niederlanden ausübte. Allerdings hat das BSG in
seinen Entscheidungen zu § 31 Abs. 4 Nr. 3b SGB II wiederholt erklärt, die Anwendung
dieses Sanktionstatbestands setze eine "Beziehung des Hilfebedürftigen zum
Rechtskreis des SGB III" voraus (vgl. BSG, Urteil vom 10.12.2009, B 4 AS 30/09 R,
Rdnr. 24 f.; Urteil vom 22.03.2010, B 4 AS 68/09 R, Rdnr. 16). Die Kammer lässt
dahinstehen, ob der Kläger hier als sogenannter Grenzgänger Anwartschaften im Sinne
des SGB III erwerben konnte. Denn auch wenn dies nicht der Fall war, so stünde dies
nach Auffassung der Kammer der Anwendung von § 31 Abs. 4 Nr. 3b SGB II nicht
entgegen. Jedenfalls im Urteil des BSG vom 22.03.2010 (B 4 AS 68/09 R, Rdnr. 16, 17)
geht es dem BSG offensichtlich um eine einschränkende Auslegung der Sanktionsnorm
für den Fall, dass keine versicherungspflichtige beziehungsweise nur eine geringfügige
Beschäftigung ausgeübt wird. Um eine solche Abgrenzung geht es hier nicht. Das
Merkmal der "Beziehung zum Rechtskreis des SGB III" ergibt sich im Übrigen nicht
unmittelbar aus dem Gesetz. Seine Anwendung auch in dem Fall, dass ein
Grenzgänger keine Anwartschaft auf SGB III-Leistungen erwirbt, würde eine Lücke in
das Sanktionensystem des SGB II reißen. Eine solche Lücke entspricht nach
Auffassung der Kammer nicht dem Willen des Gesetzgebers. Nach der Auslegung des
BSG sind arbeitgeberseitige Kündigungen gerade durch § 31 Abs. 4 Nr. 3b SGB II
erfasst (vgl. BSG, Urteil vom 22.03.2010, B 4 AS 68/09 R, Rdnr. 12 f.). Geschützt werden
soll hier nicht die Versichertengemeinschaft im Sinne des SGB III, sondern die
Solidargemeinschaft, die bei vorwerfbarem – also steuerbarem – Veranlassen einer
arbeitgeberseitigen Kündigung durch die entstehende Hilfebedürftigkeit im Sinne des
SGB II unnötig belastet wird (a.A. wohl BSG, Urteil vom 10.12.2009, B 4 AS 30/09 R,
Rdnr. 24; Urteil vom 22.03.2010, B 4 AS 68/09 R, Rdnr. 16). Dies entspricht dem
Grundgedanken der übrigen Tatbestände in § 31 Abs. 4 SGB II, der in den Nrn. 1 und 2
besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Auch vor dem Hintergrund des in § 2 SGB II
kodifizierten Grundsatz des Forderns macht es dabei keinen Unterschied, ob jemand
seine Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II durch ein vorwerfbares Veranlassen einer
arbeitgeberseitigen Kündigung im Ausland oder im Inland verursacht. Demnach sind §
31 Abs. 4 Nr. 3b SGB II i.V.m. § 144 SGB III im Fall einer arbeitgeberseitigen Kündigung
eines Beschäftigungsverhältnisses im Ausland wortlautgetreu anzuwenden
beziehungsweise ist das vom BSG aufgestellte Erfordernis der Beziehung zum
Rechtskreis des SGB III einschränkend auszulegen.
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Die Voraussetzungen von § 144 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 SGB III sind erfüllt. Der
Kläger hat sich versicherungswidrig verhalten, indem er durch ein
arbeitsvertragswidriges Verhalten Anlass für die Lösung seines
Beschäftigungsverhältnisses gegeben und dadurch zumindest grob fahrlässig die
Arbeitslosigkeit herbeigeführt hat.
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Der Kläger ist unstreitig im Monat Oktober 2008 über einen längeren Zeitraum -
vermutlich 14 Tage - nicht zur Arbeit erschienen. Er begründet dies damit, dass sein
Fahrzeug defekt gewesen sei und die bei einem Bekannten in Auftrag gegebene
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Reparatur derart lange gedauert habe. Nach arbeitsrechtichen Grundsätzen trägt der
Arbeitnehmer allein die Verantwortung dafür, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen. Selbst
wenn die Pflicht zum Erscheinen am Arbeitsplatz aufgrund der vom Kläger
vorgetragenen telefonischen Absprachen mit dem niederländischen Arbeitgeber
vorübergehend suspendiert gewesen sein sollte, so galt dies bereits nach seinem
eigenen Vortrag nicht dauerhaft. Er hat geschildert, dass man ihm beim zweiten Anruf
gesagt habe, dass er nunmehr umgehend erscheinen solle und andernfalls
Konsequenzen drohten. Das Nichterscheinen zum Arbeitsplatz über einen Zeitraum von
14 Tagen stellt auch ohne Weiteres einen schwerwiegenden arbeitsvertraglichen
Verstoß dar. Da der Kläger selber vorträgt, dass ihm anlässlich des mutmaßlichen
zweiten Telefonates gesagt worden sei, dass er nunmehr umgehend erscheinen solle,
dürfte ihm sogar ein vorsätzliches (dolus eventualis), jedenfalls aber grob fahrlässiges
Herbeiführen der Arbeitslosigkeit vorzuwerfen sein.
Dabei kann dahinstehen, ob die vom Kläger selbst vorgetragene arbeitgeberseitige
Kündigung formwirksam war. Denn eine solche Formwirksamkeit ist nicht erforderlich
(vgl. Winkler, in: Gagel, SGB III, Stand: Juli 2009, § 144 Rdnr. 64). Zwar ist
Rechtmäßigkeitsvoraussetzung des Weiteren - grundsätzlich - eine Abmahnung (vgl.
Winkler, a.a.O., Rdnr. 66). Zum einen aber sind bereits die vom Kläger geschilderten
Erklärungen des Arbeitgebers in dem mutmaßlichen zweiten Telefonat als Abmahnung
anzusehen. Denn dem Kläger wurde dort nach seinem eigenen Vortrag mitgeteilt, dass
das Nichterscheinen nicht länger hingenommen werde. Zum anderen arbeitete der
Kläger laut den schriftlichen Angaben des Herrn Janssen von Start People inhouse
Services unter Geltung niederländischen Arbeitsrechts zu "Zeitarbeit-Bedingungen". Da
er weniger als 12 Wochen beschäftigt gewesen sei, habe keine Kündigungsfrist
bestanden und auch eine vorherige Abmahnung sei nicht erforderlich gewesen. Die
Kammer hat keinen Anlass an diesen Angaben zu zweifeln.
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Der Annahme der grob fahrlässigen Herbeiführung der Arbeitslosigkeit - und auch der
Verneinung eines wichtigen Grundes im Sinne von § 144 Abs. 1 Satz 1 SGB III - steht
auch nicht der Vortrag des Klägers entgegen, er habe seinen Wagen nicht früher
reparieren lassen können.
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Zunächst ist nicht ersichtlich, warum der Kläger das Fahrzeug nicht in einer Vertrags-
oder zumindest in einer freien Werkstatt hat reparieren lassen. Die Reparatur einer
Zylinderkopfdichtung ist nach Kenntnis der Kammer innerhalb weniger Tage möglich.
Zwar mögen dadurch höhere Kosten anfallen als die vom Kläger vorgetragenen.
Immerhin hat er ausgeführt, er habe seinem Bekannten lediglich 100,00 EUR an
Material und weitere 100,00 EUR für den Arbeitsaufwand gezahlt. Nach Recherchen der
Kammer kostet eine Reparatur jedenfalls in einer freien Werkstatt dagegen 300,00 -
350,00 EUR. Es ist jedoch bereits nicht ersichtlich, warum der Kläger in einer für ihn so
wichtigen Sache zwar 200,00 EUR, nicht aber 300,00 – 350,00 EUR aufbringen konnte.
Der Kläger hätte mehrere Möglichkeiten gehabt, diese Mehrkosten zu decken. Denkbar
wäre hier die Beantragung eines Vorschusses beim Arbeitgeber, eine
Stundungsvereinbarung mit der betroffenen Werkstatt (ggf. abgesichert durch die
Abtretung von Lohnansprüchen) oder die Beantragung entsprechender, zumindest
darlehensweiser Leistungen bei dem Beklagten gewesen.
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Wenn der Kläger vorträgt, er habe genau letzteres - allerdings vergeblich - getan, so hält
die Kammer seinen Vortrag insofern nicht für glaubhaft. Die Zeugin Beer hat zur
Überzeugung der Kammer nachvollziehbar und überzeugend ausgeführt, dass sie sich
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an eine entsprechende Vorsprache des Klägers oder an einen entsprechenden Anruf
nicht erinnern könne. Sie hat weiter nachvollziehbar ausgeführt, dass sie in solchen
Fällen immer einen Vermerk anfertige. Dies ist insbesondere deshalb nachvollziehbar,
da die Zeugin B. nicht für die Entscheidung über Anträge auf Eingliederungsleistungen
zuständig war. Ein solcher Vermerk ist in den Akten des Beklagten aber nicht
vorhanden. Die Zeugin hat ihre Erklärung, sie fertige im Fall vergleichbarer Anträge
immer einen Vermerk an, nur für den Fall relativiert, dass ein Hilfebedürftiger ihr sage, er
werde den Antrag demnächst schriftlich stellen. Der Kläger behauptet jedoch nicht, dass
er etwas derartiges gesagt habe. Angesichts der wiederholten Gewährung von
Mobilitäts- und weiteren Leistungen im Zusammenhang mit dem hier streitigen
Arbeitsverhältnis, die auch für die hierfür nicht zuständige Zeugin B. aus der Akte
ersichtlich war, wäre es zudem unabhängig von deren fehlender Zuständigkeit umso
überraschender, wenn sie weitere Leistungen rundheraus abgelehnt hätte. Gleichzeitig
zweifelt die Kammer an der Glaubhaftigkeit des Vortrags des Klägers, er habe einen
Antrag gestellt. Denn noch in seinem Widerspruch vom 29.01.2009 hatte er ausdrücklich
erklärt, dass er wegen eines Darlehens bei der Zeugin B. persönlich vorgesprochen
habe. Im Termin zur mündlichen Verhandlung behauptete er dagegen, er habe sich
telefonisch bei der Zeugin gemeldet.
Neben einer zeitnahen Reparatur in einer Werkstatt hätten dem Kläger noch diverse
andere Möglichkeiten zur Verfügung gestanden, seinen arbeitsvertraglichen Pflichten
nachzukommen, beispielsweise die Bildung einer Fahrgemeinschaft mit anderen
Arbeitskollegen aus der Region. Ausweislich eines Vermerks des Beklagten über ein
Telefongespräch mit einer Mitarbeiterin des niederländischen Arbeitgebers kamen
einige der Mitarbeiter aus der Gegend, in der der Kläger wohnte. Allerdings hat der
Kläger dem entgegengehalten, er habe sich durchaus bei der Beklagten gemeldet und
sich - vergeblich - nach Mitfahrgelegenheiten erkundigt. Ob der Kläger tatsächlich einen
entsprechenden Anruf bei seinem niederländischen Arbeitgeber getätigt hat, braucht
jedoch nicht weiter aufgeklärt zu werden. Neben der bereits angeführten Möglichkeit
einer Reparatur in einer Werkstatt hätte der Kläger ausweislich der vom Beklagten
vorgelegten Fahrpläne mit dem öffentlichen Personennahverkehr in zumutbarer Zeit
(gute eineinhalb Stunden) zur Arbeit kommen können. Wenn der Kläger dem
entgegenhält, die vom Beklagten vorgelegte frühestmögliche Verbindung hätte ihm eine
Ankunft beim Arbeitgeber erst gegen 7.00 Uhr morgens erlaubt, während seine Schicht
bereits um 6.00 Uhr angefangen habe, so ist zum einen weder vorgetragen noch
ersichtlich, dass der Kläger versucht hätte, einen entsprechend späteren Arbeitsbeginn
mit dem Arbeitgeber zu vereinbaren. Zum anderen ist zu bedenken, dass der
Arbeitgeber immerhin fast ein zweiwöchiges Nichterscheinen hingenommen hat.
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Es bestehen im Übrigen Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Klägers, die durch diverse
Unstimmigkeiten begründet werden. Dies ist zunächst der bereits erwähnte Widerspruch
hinsichtlich der Form seines vermeintlichen Antrags auf darlehensweise Leistungen.
Dann sprach der Kläger anlässlich des Termins zur mündlichen Verhandlung wiederholt
von einem Defekt an der Wasserpumpe seines Kfz, während schriftsätzlich immer von
einem Problem mit der Zylinderkopfdichtung gesprochen wurde. Im Termin zur
mündlichen Verhandlung bestritt der Kläger des Weiteren ausdrücklich, eine
Vertragsbestätigung vom 12.09.2008 zu kennen. Diese findet sich jedoch in der
Leistungsakte des Beklagten mit Eingangsstempel vom 29.09.2008, einem Tag, an dem
der Kläger persönlich bei der Beklagten wegen der Beantragung von
Eingliederungsleistungen vorgesprochen hatte. Dann gab der Kläger anlässlich der
erstmaligen Beantragung einer Mobilitätsbeihilfe am 03.09.2008 die Entfernung von
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Issum nach Venray unzutreffend mit 110 km statt 69 km an. Schließlich hat die Firma
Start People inhouse Services erklärt, der Kläger sei Mitte September 2009 für einige
Tage krank und in dieser Zeit nicht erreichbar gewesen. Auch dies hat der Kläger
bestritten.
Nach dem Gesamteindruck der Kammer hat der Kläger sich jedenfalls nicht ernsthaft um
die Fortführung seines Arbeitsverhältnisses bemüht. Es ist vielmehr davon auszugehen,
dass er wie bereits 2004/2005 kein ernsthaftes Interesse an der Fortführung seines
Arbeitsverhältnisses mehr zeigte, nachdem die für ihn einfachste Transportmöglichkeit
zumindest vorübergehend weggefallen war.
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Der Sanktionsbescheid entspricht im Übrigen § 31 Abs. 1 und Abs. 6 SGB II. Mit einer
Absenkung um 105,00 EUR monatlich bleibt der Absenkungsbetrag sogar leicht hinter
dem gesetzlich vorgesehenen Anteil von 30 v.H. zurück (vgl. zu der erst am Ende der
Leistungsberechnung erfolgenden Rundung Eicher, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2.
Aufl. 2008, § 41 Rdnr. 17). Da der unter dem 26.01.2009 erstellte Sanktionsbescheid
nicht nur am 29.01.2009 abgesandt, sondern nach einem entsprechenden Protokoll
auch an ebendiesem Tag gemäß § 5 Verwaltungszustellungsgesetz NW zugestellt
wurde, erfolgte die Sanktion zutreffend für die Monate Februar bis April 2009.
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Der Rechtmäßigkeit der Sanktion steht auch nicht entgegen, dass der
Sanktionsbescheid "erst" am 26.01.2009 erstellt wurde. Soweit vertreten wird, es müsse
ein enger "zeitlicher Zusammenhang" zwischen Pflichtverstoß und Bekanntgabe der
Sanktionsentscheidung bestehen (vgl. hierzu etwa Rixen, in: Eicher/Spellbrink, SGB II,
2. Aufl. 2008, § 31 Rdnr. 60 m.w.N.), so hält die Kammer jedenfalls den hier
vorliegenden Abstand von gut drei Monaten (ausschlaggebendes Fehlen des Klägers
vermutlich Ende Oktober 2008) für unproblematisch. Eine gesetzliche Grundlage für die
vertretene einschränkende Auslegung ist im Übrigen nicht ersichtlich. Soweit
gesetzliche Anknüfungspunkte mit § 88 Abs. 1 SGG oder § 41 Satz 4 SGB II in Betracht
kommen, wären entsprechende "Fristen" hier ohne Weiteres gewahrt. Zu bedenken ist
schließlich, dass die Beklagte bereits im Dezember 2008 dem Kläger mit dem dann im
Januar zurückgenommenen Bescheid vom 16.12.2008 zu verstehen gab, dass sein
Verhalten sanktioniert werde.
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Es bestehen auch keine Zweifel an der Bestimmtheit des Sanktionsbescheids. Aufgrund
der wechselseitigen Bezugnahme in den Bescheiden vom 22. und 26.01.2009 stellen
diese eine einheitliche Regelung dar. Auch unter Einbeziehung des Bescheids vom
16.12.2008 ergeben sich keine Unklarheiten. Denn aus den Bescheiden geht sowohl
einzeln auch in der Zusammenschau eindeutig hervor, dass die Leistungen für Februar
bis April 2009 um monatlich 105,00 EUR abgesenkt werden. Die Bescheide legen nicht
nahe, dass etwa von einer doppelten Sanktionierung auszugehen wäre. Es bestehen
auch keine Unklarheiten über den Absenkungszeitraum. Im Bescheid vom 22.01.2009
wird vielmehr ausdrücklich klargestellt, dass die ursprünglich ab Januar vorgesehene
Leistungskürzung für den Monat Januar zurückgenommen wird. Wegen der Monate ab
Februar wird sodann auf den Bescheid vom 26.01.2009 verwiesen. Aus dem
Bewilligungsbescheid vom 22.01.2009 bzw. dessen Anhang ist dann nochmals genau
zu ersehen, welche Leistungen gewährt werden. Den vom BSG in seinem Urteil vom
17.12.2009 (B 4 AS 20/09 R, Rdnr. 16 f.) "relativierten" (Gebhardt, in: jurisPR-SozR
15/2010, Anm. 1) Bestimmtheitsanforderungen ist damit Genüge getan.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG. Die nicht bereits nach § 144 Abs.
46
1 Satz 1 Nr. 1 SGG zulässige Berufung wurde wegen Abweichung von den genannten
Urteilen des BSG zum Anwendungbereich von § 31 Abs. 4 Nr. 3b SGB II gemäß § 144
Abs. 2 Nr. 2 SGG zugelassen.