Urteil des SozG Dortmund vom 22.07.2009

SozG Dortmund: anrechenbares einkommen, grobe fahrlässigkeit, treu und glauben, verwaltungsakt, rechtswidrigkeit, firma, rücknahme, auflage, form, bestimmtheitsgebot

Sozialgericht Dortmund, S 28 AS 228/08
Datum:
22.07.2009
Gericht:
Sozialgericht Dortmund
Spruchkörper:
28. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 28 AS 228/08
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Bescheide vom 12.12.2007 in Gestalt der Widerspruchsbescheide
vom 06.05.2008 und 07.05.2008 werden aufgehoben. Die
außergerichtlichen Kosten der Kläger trägt die Beklagte.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit zweier Rücknahme- und
Erstattungsentscheidungen.
2
Die Kläger stehen seit dem 01.01.2005 im Leistungsbezug bei der Beklagten. In ihrem
Antrag auf Leistungen nach dem SGB II vom 18.08.2004 gaben die Kläger an, dass sie
als Einkommen 154,00 EUR Kindergeld beziehen. Darüber hinaus verdiene die
Klägerin zu 1) monatlich 325 EUR aus einer Erwerbstätigkeit bei der Firma xx. Der
Kläger zu 2) beziehe Arbeitslosengeld I.
3
Mit Bescheid vom 30.11.2004 bewilligte die Beklagte Leistungen nach dem SGB II für
den Zeitraum vom 01.01.2005 bis zum 30.04.2006. Im Rahmen der Bedarfsberechnung
berücksichtigte die Beklagte das Einkommen der Kläger zu 1) und 2) sowie das
Kindergeld in Höhe von 154,00 EUR bedarfsmindernd. Am 28.06.2005 teilte die
Klägerin zu 1) der Beklagten mit, dass der Kläger zu 2) wieder in Arbeit stehe. Die
Leistungseinstellung erfolgte zum 01.09.2005. Aus den Lohnnachweisen ergibt sich,
dass der Kläger zu 2) im Juli 2005 einen Betrag in Höhe von 214,64 EUR, im August
2005 in Höhe von 1.248,27, im September 2005 in Höhe von 1.367,96 EUR und im
Oktober 2005 in Höhe von 1.269,73 EUR erzielte. Nachdem der Kläger zu 2) zum
30.09.2005 die Kündigung erhielt und die Klägerin zu 1) ihr Beschäftigungsverhältnis
bei der Firma xxx beendete, stellten die Kläger zum 17.10.2005 einen Antrag auf
Fortzahlung der Leistungen nach dem SGB II. Mit Bescheid vom 17.11.2005 bewilligte
die Beklagte nunmehr Leistungen für den Zeitraum vom 17.10.2005 bis zum 30.04.2006.
Während die Beklagte für den Zeitraum vom 17.10.2005 – 30.11.1005 das Kindergeld in
Höhe von 154,00 EUR bedarfsmindernd bei der Klägerin zu 3) berücksichtigte, nahm
sie für den Zeitraum ab Dezember 2005 keine Einkommensanrechnung vor. Im Januar
2006 nahm die Klägerin zu 1) für wenige Tage eine Beschäftigung im Senioren- und
Pflegeheim auf, für welche sie ein Nettoarbeitsentgelt in Höhe von 240,00 EUR erzielte.
4
Mit Bescheid vom 21.02.2006 änderte die Beklagte den Bescheid vom 17.11.2005
dahingehend ab, dass für den Zeitraum vom 01.01.2006 bis zum 31.01.2006 Leistungen
nach dem SGB II unter Berücksichtigung von 112,00 EUR anrechenbares Einkommen
bewilligt worden sind. Eine Anrechnung des Kindergeldes in Höhe von 154,00 EUR
erfolgte nicht. Mit Bescheid vom 17.04.2007 änderte die Beklagte die
Leistungsbewilligung für den Monat April 2006 ab. Das Kindergeld ist auch im Rahmen
dieser Leistungsbewilligung ab Dezember 2005 nicht bedarfsmindernd berücksichtigt
worden.
Mit den Bescheiden vom 21.04.2006 gewährte die Beklagte für den Zeitraum vom
01.05.2006 bis zum 31.10.2006 wiederum Leistungen nach dem SGB II ohne
bedarfsmindernde Berücksichtigung des Kindergelds für den gesamten
Leistungszeitraum. Am 19.05.2006 nahm der Kläger zu 2) ein Beschäftigungsverhältnis
bei der Firma xxx auf. Für diesen Monat Mai erzielte der Kläger ein Nettoeinkommen in
Höhe von 515,24 EUR, welches die Beklagte im Rahmen der Leistungsbewilligung vom
23.06.2006 bedarfsmindernd berücksichtigte. Darüber hinaus legte sie im Rahmen
dieser Leistungsbewilligung fest, dass das Einkommen für die Folgemonate auf Basis
der Mai-Abrechnung für die weiteren Monate hochgerechnet werde. Nach Vorlage der
Lohnabrechnungen erfolge eine Nachberechnung. Eine Anrechnung des Kindergeldes
erfolgte nicht.
5
Am 30.03.2007 stellten die Kläger wiederum einen Antrag auf Gewährung von
Leistungen nach dem SGB II. In diesem Antrag gaben sie an, dass ein Anspruch auf
Kindergeld in Höhe von 154,00 EUR und ein Anspruch auf Arbeitslosengeld I bestehe.
Das Beschäftigungsverhältnis mit der Firma xxx endete zum Ablauf des 15.04.2007
durch arbeitsgerichtlichen Vergleich.
6
Mit Bescheid vom 17.04.2007 änderte die Beklagte den Bescheid vom 23.06.2006
nochmals ab, indem sie für den Leistungszeitraum 17.10.2005 – 30.04.2006 die
genauen Löhne der Kläger zu 1) und 2) berücksichtigte. Die Anrechnung des
Kindergeldes unterblieb vollständig. Mit weiterem Bescheid vom 17.04.2007 bewilligte
die Beklagte für den Zeitraum vom 01.06.2007 bis zum 30.11.2007 Leistungen nach
dem SGB II ohne das Kindergeld bedarfsmindernd zu berücksichtigen.
7
Am 21.05.2007 nahm der Kläger zu 2) ein Arbeitsverhältnis bei der Firma xxx auf,
welches mit mit Wirkung zum 25.06.2007 durch Arbeitgeberkündigung beendet wurde.
Mit Bescheid vom 17.01.2007 hob die Beklagte die Entscheidung über die Bewilligung
von SGB II – Leistungen ab dem 01.07.2007 einerseits auf und bewilligte gleichzeitig
wiederum Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.08.2007 – 30.11.2007,
wobei das Kindergeld keine bedarfsmindernde Berücksichtigung fand.
8
Am 26.10.2007 reichten die Kläger ihre Kontoauszüge für den Zeitraum vom 19.10.2007
bis zum 15.08.2007 zu den Verwaltungsakten. Aus diesen Kontoauszügen ergibt sich,
dass die Kläger von der Familienkasse 154,00 EUR Kindergeld erhielten. Nachdem
eine Auskunft der Beklagten bei der Familienkasse xxx ergab, dass an die Klägerin zu
1) Kindergeld in Höhe von 154,00 EUR ununterbrochen seit dem 01.01.2005 gezahlt
worden sei, hörte die Beklagte die Klägerin zu 1) und den Kläger zu 2) dazu an, dass
das zugeflossene Kindergeld für die Klägerin zu 3) seit Dezember 2005 nicht mehr als
Einkommen berücksichtigt worden sei.
9
Mit Bescheid vom 12.12.2007 hob die Beklagte gegenüber dem Kläger zu 1) und der
10
Klägerin zu 3) die Entscheidungen für den Zeitraum vom 01.12.2005 bis zum
30.11.2007 in Höhe von insgesamt 1.982,91 EUR auf. Gleichzeitig verlangte sie den
Betrag erstattet und erklärte nach § 43 SGB II die Aufrechnung dieser
Erstattungsforderung gegen die laufenden Leistungen. Mit Bescheid vom gleichen
Datum hob die Beklagte gegenüber der Klägerin zu 1) die Entscheidungen für den
Zeitraum vom 01.01.2006 bis zum 30.11.2007 in Höhe von insgesamt 331,09 EUR auf
und verlangte den Betrag von der Klägerin zu 1) erstattet. Auf die Widersprüche der
Kläger nahm die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 07.05.2008 die
Aufrechnungserklärung gegenüber dem Kläger zu 2) und 3) zurück. Darüber hinaus
setzte sie die Erstattungsforderung in dem Widerspruchsbescheid vom 06.05.2008
gegenüber der Klägerin zu 3) auf einen Betrag in Höhe von 1.629,82 EUR fest. Im
Übrigen wies sie die Widersprüche als unbegründet zurück.
Mit der am 05.07.2008 erhobenen Klage verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter. Die
Kläger halten die angefochtenen Bescheide für rechtswidrig. Ihnen sei nicht bewusst
gewesen, dass das Kindergeld anrechenbares Einkommen darstelle. Im Rahmen der
Antragsgewährung seien immer vollständige Angaben gemacht worden. Eine
Mitteilungspflicht sei nicht verletzt worden. Sie duften daher auf die Richtigkeit der
Bescheide vertrauen. Darüber hinaus habe die Beklagte selbst nicht die Überzahlungen
bemerkt. Es sei nicht nachvollziehbar, warum sie als Hilfebedürftige mehr wissen
sollten, als der bescheidene Sachbearbeiter. Aus diesem Grunde sei eine grobe
Fahrlässigkeit nicht gegeben. Im Übrigen sei das Kindergeld als Einkommen lediglich
der Tochter zugeflossen, so dass auch nur diese zur Rückzahlung verpflichtet werden
könne. Der Erstattungsanspruch scheitere außerdem daran, dass zwischen Ehegatten
eine Verschudenszurechnung nicht stattfinde. Die Pflicht zur Individualisierung der
Rückforderungssumme verpflichte die Beklagte, das Verschulden jedes einzelnen
Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft individuell zu prüfen und festzustellen.
11
Die Kläger beantragen,
12
die Bescheide vom 12.12.2007 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 06.05.2008
und 07.05.2008 aufzuheben.
13
Die Beklagte beantragt,
14
die Klage abzuweisen.
15
Sie hält ihre Bescheide für rechtmäßig. Vertrauensschutz könne schon deswegen nicht
bestehen, weil die Nichtanrechnung des Kindergeldes ab Dezember 2005 der Klägerin
vornehmlich anhand der Bescheide vom 17.11.2005 und 21.02.2006 hätte auffallen
müssen. Hier wurde zunächst für die Monate Oktober und November 2005 Kindergeld
angerechnet, während in den Folgemonaten eine Anrechnung unterblieb.
16
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte verwiesen, der Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen ist.
17
Entscheidungsgründe:
18
Die Klage ist zulässig. Das Sozialgericht Dortmund ist zur Entscheidung des
Rechtsstreits sachlich und örtlich zuständig, vgl. § 51, 57 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz
19
(SGG). Die Klage ist form- und fristgerecht erhoben.
In der Sache erwies sich die Klage als begründet. Die angefochtenen Bescheide
beschweren die Kläger i. S. d. § 54 Abs. 2 S. 1 SGG. Sie sind rechtswidrig. Die Beklagte
durfte die bewilligten SGB-II-Leistungen nicht in Höhe von 2.314,00 EUR zurücknehmen
und von den Klägern erstattet verlangen.
20
Die angefochtenen Bescheide sind formell rechtmäßig. Sie halten den Anforderungen
des in § 33 Abs. 1 SGB X normierten Bestimmtheitsgebot stand. Gemäß § 33 Abs. 1
SGB X muss ein Verwaltungsakt inhaltlich hinreichend bestimmt sein. Hinreichende
Bestimmtheit des Verwaltungsaktes ist gegeben, wenn seine Eigenschaft als
verbindliche Regelung erkennbar ist (vgl. Warschull in: LPK, SGB X, 2. Auflage, § 33
Rdnr. 4). Dies setzt voraus, dass verständlich ist, welcher Sachverhalt durch den
Verwaltungsakt geregelt werden soll und wer der Adressat ist. Nimmt der belastende
Verwaltungsakt auf mehrere Personen Bezug, so muss deutlich werden, ob sie als
Gesamtschuldner oder nach Bruchteilen in Anspruch genommen werden sollen.
Aufhebungs- und Erstattungsbescheide genügen dem Bestimmtheitsgebot, wenn aus
ihnen eindeutig hervorgeht, wem gegenüber welche Bewilligung in welcher Höhe
aufgehoben und wie viel vom einzelnen Mitglied der Bedarfsgemeinschaft zurück
erstattet verlangt wird (vgl. Baden-Württemberg, Urteil vom 18.10.2007, Az.: L 7 SO
2899/06; LSG NRW, Beschluss vom 11.01.2007, L 20 B 312/07 AS ER). Das SGB II
kennt keinen Anspruch der Bedarfsgemeinschaft. Anspruchsinhaber der Leistungen zur
Grundsicherung des Lebensunterhalts sind auch im Rahmen einer Bedarfsgemeinschaft
die jeweiligen Mitglieder (vgl. BSG, Urteil vom 07.11.2006, Az.: B 7 B/ AS 8/06, Rdnr. 12
zitiert nach Juris). Da die Rücknahmeentscheidung letztendlich das Spiegelbild der
Leistungsbewilligung darstellt, muss die Rückabwicklung im jeweiligen individuellen
Leistungsverhältnis erfolgen (vgl. SG Koblenz, Urteil vom 16.06.2006, S 11 AS 305/05).
Die Rücknahme kann daher grundsätzlich nur gegenüber dem Begünstigten ergehen.
Daher muss der Grundsicherungsträger die Rücknahme und Erstattung überzahlter
Leistungen im Bezug auf eine Bedarfsgemeinschaft gegenüber jedem einzelnen
Mitglied durch eine individuelle Verwaltungsentscheidung geltend machen (so LSG
Baden-Württemberg, a. a. O.). Für die Erstattungsentscheidung auf der Grundlage des §
50 SGB X folgt aus den vorgenannten Grundsätzen die Konsequenz, dass der
Grundsicherungsträger die Erstattung der überzahlten Leistungen ebenfalls nur von dem
jeweiligen Mitglied der Bedarfsgemeinschaft in Höhe der tatsächlichen Überzahlungen
verlangen kann. Dies gilt gerade auch dann, wenn an Minderjährige zu Unrecht
Leistungen gewährt worden sind. Auch hier kann ein Erstattungsanspruch nicht gegen
die Eltern gerichtet werden, selbst dann nicht, wenn diese die Überzahlung durch die
Verletzung von Mitteilungspflichten verursacht und die überzahlten Beträge ausgegeben
haben (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 21.01.1987, Az.: 5 C 29/88).
21
Diesen dargelegten Grundsätzen genügen die angefochtenen
Verwaltungsentscheidungen der Beklagten. Zwar ist der Kammer nicht entgangen, dass
der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 12.12.2007 in Bezug auf die Kläger zu
2) und 3) nicht im Einzelnen darlegt, wie sich die überzahlten Leistungen, die
zurückerstattet verlangt werden, monatlich zusammensetzen. Auch ist die
Erstattungsverfügung in dieser Verwaltungsentscheidung zu unbestimmt. Hier hat die
Beklagte verfügt: "Diese Beträge sind von Ihnen gemäß § 50 SGB X zu erstatten." Im
Gesamtzusammenhang mit der Aufhebungsentscheidung ist unklar, ob die Beklagte die
Beträge nunmehr von jedem einzelnen Mitglied der Bedarfsgemeinschaft oder von dem
Kläger zu 2) als Vater vollständig zurückverlangt. Diese Unklarheiten sind jedoch durch
22
den Erlass des Widerspruchsbescheides vom 06.05.2008 geheilt worden. Die
Widerspruchsentscheidung enthält eine detaillierte Auflistung aus denen sich die
monatlichen Beträge ergeben, die an die einzelnen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft
überzahlt worden sind. Darüber hinaus wirft die Widerspruchsentscheidung konkret aus,
dass die überzahlten Leistungen jeweils auch personenbezogen von den Mitgliedern
der Bedarfsgemeinschaft zu erstatten sind. Damit sind im Ergebnis die
Bestimmtheitsanforderungen erfüllt worden.
Als Rechtsgrundlage für die von der Beklagten getroffenen Rücknahmeentscheidung ist
die Vorschrift des § 330 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) i. V. m. § 40
Abs. 1 Nr. 1 SGB II i. V. m. § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB X heranzuziehen. Gemäß § 45
Abs. 1 S. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich
erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt) auch
nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen der Absätze 2 - 4
ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit
zurückgenommen werden, soweit er rechtswidrig ist. Diese
Tatbestandsvoraussetzungen sind in dem zu beurteilenden Fall nicht gegeben. Zwar
war auf den Bedarf der Klägerin zu 3) für den streitgegenständlichen Zeitraum
Einkommen in Höhe von 154,00 EUR im Monat anzurechnen. Gemäß § 11 Abs. 1 S. 1
SGB II sind als Einkommen alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert zu
berücksichtigen. Dies gilt auch für das Kindergeld, welches für die zur
Bedarfsgemeinschaft gehörenden Kinder gezahlt wird, soweit es bei dem jeweiligen
Kind zur Sicherung des Lebensunterhaltes benötigt wird, vgl. § 11 Abs. 1 S. 3 SGB II.
Wie sich aus den Bewilligungsentscheidungen vom 21.02.2006, 21.04.2007,
23.06.2006 und den Bescheiden vom 17.04.2007 entnehmen lässt, hat die Beklagte ab
dem Monat Dezember 2005 - im Gegensatz zu dem vorigen Leistungszeitraum - das
Kindergeld nicht mehr berücksichtigt. Das Kindergeld in Höhe von 154,00 Euro stellte
das einzige Einkommen der Klägerin zu 3) dar und war daher in voller Höhe bei ihr
anzurechnen.
23
Die Kläger können sich jedoch auf Vertrauensschutz i. S. d. § 45 Abs. 2 SGB X berufen.
Nach dieser Vorschrift darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht
zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand eines
Verwaltungsakts vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen
Interesse an der Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel
schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine
Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren
Nachteilen rückgängig machen kann, vgl. § 45 Abs. 2 S. 1 SGB X. So liegt der Fall hier.
Der Kläger zu 2) hat vorgetragen, die überzahlten Leistungen bereits vollständig
ausgegeben zu haben. Gemäß § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB X kann sich der Begünstigte
trotz des Verbrauchs der Leistungen auf Vertrauen nicht berufen, soweit er die
Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder in Folge grober Fahrlässigkeit nicht
kannte. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in
besonders schwerem Maße verletzt, vgl. § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 2.Halbs. SGB X. Der
Betroffene muss die einfachsten, ganz nahe liegenden Überlegungen nicht angestellt
und deshalb dasjenige nicht beachtet haben, was im gegebenen Fall jedem einleuchten
muss. Die Beurteilung hat unter Berücksichtigung der individuellen Einsicht und
Urteilsfähigkeit des Leistungsempfängers zu erfolgen (vgl. BSG, B 11 AL 21/00 R;
Wiesner in: von Wulffen, SGB X, 6. Auflage, § 45 Rdnr. 24). Bei minderjährigen
Hilfebedürftigen ist auf das Wissen des gesetzlichen Vertreters abzustellen. Macht ein
Elternteil im Antragsverfahren unzutreffende Angaben bzw. hätte dieser nach Erlass der
24
Entscheidung die Rechtswidrigkeit des Bescheides erkennen können, so findet eine
Zurechnung des Vertreterhandelns (§ 276 BGB) bzw. des Vertreterwissens (§ 166 Abs.
1 BGB) statt (vgl. Schütze, a. a. O., § 45 Rdnr. 59; BSG, Urteil vom 13.12.1984, Az.: 9 a
RV 40/83 m. w. N.). Nach dem Vorgenannten ist daher zur Beurteilung der groben
Fahrlässigkeit auf die Kenntnis bzw. das Kennenmüssen der Eltern, hier der Klägerin zu
1) und 2), abzustellen.
Nach dem persönlichen Eindruck, den die Kammer von den Klägerin zu 1) und 2) in der
mündlichen Verhandlung gewonnen hat, ist festzustellen, dass eine grobe
Fahrlässigkeit in Bezug auf die überzahlten Leistungen zu verneinen ist. Die Kläger zu
1) und 2) haben die ihnen obliegenden Sorgfaltspflichten nicht in einem besonders
schweren Maße verletzt.
25
Grundsätzlich trifft den Begünstigen, der zutreffende Angaben gemacht hat, keine
Verpflichtung, Bewilligungsbescheide des Näheren auf ihre Richtigkeit zu überprüfen
(so BSG, Az.: B 11 AL 21/00 R, vgl. auch Schütze in: von Wulffen, SGB X, 6. Auflage, §
45 Rndr. 56). Er darf dann davon ausgehen, dass die Behörde seine Angaben
vollständig berücksichtigt. Das Bundessozialgericht führt hierzu in der vorgenannten
Entscheidung aus: "Auch bei Berücksichtigung der Vielfalt von Aufgaben und der
Vielzahl der zu bearbeitenden Vorgänge ist es aber gerade die Aufgabe der
Fachbehörde, wahrheitsgemäße tatsächliche Angaben von Antragstellern rechtlich
einwandfrei umzusetzen ...". Dies führt jedoch nicht dazu, dass den Begünstigten
keinerlei Sorgfaltspflichten bei Erhalt einer Verwaltungsentscheidung treffen. Dies
widerspräche dem auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und
Glauben. Aus diesem lässt sich herleiten, dass die Beteiligten im Sozialrechtsverhältnis
verpflichtet sind, sich gegenseitig vor vermeidbarem Schaden zu bewahren. Diesem
Grundsatz entspricht es, dass der Begünstigte rechtlich gehalten ist, den Bescheid zu
lesen und zur Kenntnis zu nehmen (vgl. BSG, Az. B 11 AL 21/00 R). In diesem Rahmen
ist der Begünstigte zunächst gehalten, die im Bewilligungsbescheid formulierte
Begründung auch in Form von Zahlenangaben nachzuvollziehen (vgl. SG Koblenz, Az.:
S 11 AS 350/05). Die notwendige Folge dieser Obliegenheit ist es dann, dass eine
Begründung der Bewilligungsentscheidung, die den in der Entscheidung zugrunde
liegenden Sachverhalt wieder gibt, auch einen rechtlich unkundigen Adressaten auf die
Fehlerhaftigkeit der Bewilligung aufmerksam machen muss, soweit diese augenfällig ist.
Der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit verlangt in diesen Fällen jedoch, dass sich die
tatsächlichen oder rechtlichen Fehler aus dem Bescheid selbst oder aus dessen
Begleitumständen (z. B. Merkblatt) ergeben und für den Adressaten unter
Berücksichtigung seiner individuellen Einsichtsfähigkeit augenfällig sind (so BSG, a. a.
O., Rndr. 23 zitiert nach Juris). Ergeben sich aufgrund dieser Kontrolle Zweifel an der
Rechtmäßigkeit der ergangenen Entscheidung, besteht daher eine Verpflichtung des
Begünstigten, bei der Erlassbehörde nachzufragen (vgl. BSG, a. a. O.; Schütze, a. a. O.).
26
Mit Blick auf die vorgenannten Voraussetzungen waren die überzahlten Leistungen der
Beklagten für die Kläger zu 1 und 2) anhand der Bescheide nicht augenfällig.
27
Sämtliche Bewilligungsbescheide für den Zeitraum vom 01.01.2005 bis zum 30.11.2007
sind in ihrer Art und Weise gleich aufgebaut. Das Ergebnis der Tatsachenfeststellung
und der Rechtsanwendung der Beklagten in Bezug auf die Bewilligung von
Arbeitslosengeld-II-Leistungen ist auf den Seiten 1 - 2 der Bewilligungsbescheide
abgefasst. Hier finden sich Angaben über die Höhe der Leistungsbewilligung für den
jeweiligen Bewilligungsabschnitt, über die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft sowie
28
über die Regelung zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung. Die auf S. 1 der
Bescheide formulierte Verfügung wirft - zumindest in den insoweit für die Beurteilung
maßgeblichen Bescheiden vom 17.11.2005 und 21.02.2006 - als Ergebnis aber nur
einen monatlichen Gesamtzahlbetrag für einen Zeitraum von 6 Monaten aus. Auf Seite 3
der Bescheide erfolgen allgemeine Erläuterungen zu den Pflichten der Hilfeempfänger
sowie zu den Leistungsansprüchen. In der Anlage zum Bescheid - beginnend auf Seite
4 - folgt der Berechnungsbogen. Der Berechnungsbogen enthält Angaben zu allen im
Haushalt lebenden Angehörigen und zur Berechnung der Leistung für jede Person.
Diese Angaben sind in einer Tabelle, in der das Einkommen sowie auch der Bedarf der
einzelnen Angehörigen der Bedarfsgemeinschaft sowie in ihrer Gesamtheit
aufgeschlüsselt sind, eingefasst. Die Tabelle ist in drei Abschnitte mit jeweiligen
Überschriften unterteilt. Hiernach wird differenziert in 1: Feststellung des monatlich
zustehenden Bedarfes, 2: Feststellung des zu berücksichtigenden monatlichen
Einkommens und 3: Verteilung des Einkommens unter Berücksichtigung der
zuständigen Leistungsträger.
Eine Augenfälligkeit in Bezug auf den auf Seite 1 der Bewilligungsbescheide
ausgeworfenen Betrag an SGB II - Leistungen ist nicht gegeben. Die Beklagte hat in
dem Bescheid vom 30.11.2004 für den Monat Januar 2005 einen Betrag in Höhe von
495,85 EUR, für den Monat Februar 2005 in Höhe von 965,45 EUR, für den Monat März
2005 in Höhe von 118,35 EUR, für den Monat April in Höhe von 1093,95 EUR und für
den Monat Mai 2005 in Höhe von 1057,35 EUR bewilligt. Mit Bescheid vom 17.11.2005
bewilligte die Beklagte für den Monat Oktober 2005 Alg II in Höhe von insgesamt 84,27
EUR, für den Monat November in Höhe von 734,22 EUR und für die Zeit ab Dezember
in Höhe von 1.219,56 EUR. Die unterschiedliche monatliche Bewilligungshöhe beruht
auf dem Umstand, dass der Kläger zu 2) Einkommen in unterschiedlicher Höhe
bezogen hat, welches im Sinne von § 11 SGB II auf den Bedarf der Kläger angerechnet
worden ist. Erstmals für den Monat Dezember 2005 ist keinerlei Einkommen - inklusive
des Kindergeldes - auf den Bedarf der Kläger angerechnet worden. Fehlt es dem
Hilfebedürftigen jedoch an einem Vergleichsmaßstab, so kann eine augenfällige
Rechtswidrigkeit der Leistungsbewiligung in Bezug auf die Höhe der Leistungen
verneint werden. Hinzu tritt der Umstand, dass der Kläger dem Bescheid vom
30.11.2004 entnehmen konnte, dass sich immerhin ein Leistungsanspruch in Höhe von
insgesamt 1.118,35 EUR für den Monat März 2005 ergibt, obwohl anrechenbares
Erwerbseinkommen in Höhe von 210,00 EUR zugeflossen war. Dass die
Leistungsbewilligung bei Wegfall des Einkommens entsprechend ansteigt, ist daher nur
denklogisch. Über die genaue Höhe des Anstieges konnten die Kläger zu 1) und 2) kein
konkretes Wissen haben, da sie bis zum 30.11.2005 niemals Leistungen ohne
anrechenbares Einkommen bezogen hatten. Insofern fehlt es also an einem
Vergleichsmaßstab, der die Nichtberücksichtigung des Kindergeldes für die Kläger zu 1)
und 2) sichtbar gemacht hätte.
29
Nach Auffassung der Kammer scheidet auch unter Einbeziehung des
Berechnungsbogens eine Augenfälligkeit der überzahlten Leistungen aus. Zwar waren
dem Bescheid vom 17.11.2005 monatsweise Berechnungsbögen beigefügt. Bei
Durchsicht der monatlichen Berechnungsbögen ergibt sich, dass die Beklagte für den
Zeitraum vom 17.10.2005 bis zum 30.11.2005 innerhalb der Spalte "Feststellung des zu
berücksichtigendes monatliches Einkommen" die Kindergeldzahlungen in konkreter
Höhe auswies, wobei der Berechnungsbogen für den Zeitraum 01.12.2005 - 30.04.2006
lediglich den Abschnitt "Feststellung des monatlichen zustehenden Bedarfs" und gar
keine weiteren Berechnungsabschnitte enthielt. Die Augenfälligkeit der Rechtswidrigkeit
30
der überzahlten Leistungen scheitert jedoch daran, dass das Fehlen der
Kindergeldanrechnung sich nicht ausdrücklich erkennbar macht, indem z. B. der
Abschnitt "Feststellung des zu berücksichtigenden monatlichen Einkommen" in der
Spalte Kindergeld eine Null anstelle des Betrages in Höhe von 154 EUR enthält.
Insofern hätten die Kläger zu 1) und 2) beim lesen aus dem "Schweigen des
Bescheides" auf den Umstand schließen müssen, dass konkret auch das Kindergeld
nicht berücksichtigt worden ist. Ein solch aktuelles Bewusstsein kann jedoch lebensnah
nur dann erwartet werden, wenn nicht lediglich ein Lesen, sondern eine Überprüfung
des Verwaltungshandelns als Sorgfaltspflicht des Hilfebedürftigen verlangt wird. Eine
solche Verpflichtung oblag den Klägern jedoch - wie oben bereits ausgeführt -
ausdrücklich nicht. Diese hatten in ihren Anträgen auf Gewährung von Arbeitslosengeld
II vom und 04.08.2004 und 10.04.2007 angegeben, dass sie Kindergeld in Höhe von
154,00 EUR beziehen. Sind die Kläger aber ihren Mitteilungspflichten ordnungsgemäß
nachgekommen, so trifft sie keinerlei Verpflichtung den Bescheid auf ihre Richtigkeit zu
überprüfen.
Aus der Aufhebung der Rücknahmeentscheidung der Beklagten folgt die
Rechtswidrigkeit der Erstattungsverfügung gem. § 50 Abs. 1 SGB X. Nach dieser
Vorschrift sind bereits erbracht Leistungen zu erstatten, soweit ein Verwaltungsakt
aufgehoben worden ist. An einer wirksamen Rücknahmeentscheidung fehlt es aber
gerade.
31
Aus den vorstehenden Gründen war die Klage abzuweisen.
32
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 193 SGG.
33