Urteil des SozG Dortmund vom 10.06.2009

SozG Dortmund: örtliche zuständigkeit, sachliche zuständigkeit, hochgradige schwerhörigkeit, gesellschaft, behinderung, herzleiden, aufsichtsbehörde, herzinfarkt, verordnung, stadt

Sozialgericht Dortmund, S 7 SB 54/08
Datum:
10.06.2009
Gericht:
Sozialgericht Dortmund
Spruchkörper:
7. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 7 SB 54/08
Sachgebiet:
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Grad der Behinderung (GdB) des am xxx
geborenen Kläger mit 100 festzustellen ist.
2
Am 10.07.2007 stellte der Kläger beim damaligen Versorgungsamt erstmals einen
Antrag auf Feststellung seines GdB. Zur Begründung verwies er unter anderem auf
einen erlittenen Herzinfarkt sowie eine Schwerhörigkeit und überreichte in Ablichtung
die Verordnung einer Brille seines behandelnden Augenarztes Herrn Dr. xxx.
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Zur Aufklärung des Sachverhaltes holte das Versorgungsamt von den behandelnden
Ärzten des Klägers Befundberichte ein, und zwar neben dem Augnarzt von Frau xxx
(Allgemeinmedizin), Herrn Dr. xxx (Kardiologie), Herrn xxx (HNO) und Herrn Dr. xxx
(Urologie). Des Weiteren wurde der Kläger versorgungsmedizinisch untersucht durch
Herrn xxx (Internist). Dieser bewertete den Gesamt-GdB des Klägers mit 60 und hielt
auch die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" für gerechtfertigt,
wobei er folgende Gesundheitsstörungen mit einem Einzel-GdB berücksichtigte:
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1.Hörminderung, Einzel-GdB 50 2.Koronare Herzkrankheit, abgelaufener Herzinfarkt,
Einzel-GdB 30 3.Chronische Atemwegserkrankung, Einzel-GdB 30.
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Mit Bescheid vom 06.11.2007 stellte das Versorgungsamt xxx den GdB des Klägers ab
Antrag mit 60 sowie auch die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen
"RF" fest.
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Der Kläger erhob Widerspruch mit der Begründung, sein Prostata- , sein Nieren- und
sein Blasenleiden sowie auch das Bronchialleiden seien nicht hinreichend
berücksichtigt worden.
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Die Bezirksregierung wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid
vom 12.02.2008 als sachlich unbegründet zurück, da die Beeinträchtigungen mit einem
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GdB von 60 richtig bewertet seien.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit der am 04.03.2008 erhobenen Klage. Unter
Bezugnahme auf einen zur Akte gereichten Herzkatheterbericht vom 17.01.2008 (Herr
Prof. Dr. xxx) verweist der Kläger darauf, es habe nochmals ein Stent eingesetzt werden
müssen. Des Weiteren seien Blutungen im Urin festgestellt worden und er müsse jede
viertel Stunde zur Toilette. Auch sei vor 1 1/2 Jahren ein Tumor aus der Blase entfernt
worden. Bezogen auf das urologische Leiden überreicht der Kläger Ablichtungen von
Berichten über stationäre und ambulante Behandlungen im Februar 2008 (Herr Prof.
xxx, Klinikum xxx).
9
Der Kläger beantragt,
10
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 26.11.2207 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.12.2008 zu verurteilen, bei ihm ab Antrag
am 10.07.2007 einen Grad der Behinderung von 100 festzustellen.
11
Die Beklagte beantragt,
12
die Klage abzuweisen.
13
Unter Vorlage der Verwaltungsakten sowie einer gutachterlichen Stellungnahme von
Herrn Dr. xxx vom 08.04.2009 hält die Beklagte die angefochtenen
Verwaltungsentscheidungen weiterhin für rechtmäßig.
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Zur Aufklärung des Sachverhaltes hat das Gericht Beweis erhoben und zunächst ein
allgemeinmedizinisches Gutachten eingeholt von Herrn Dr. xxx, niedergelassener
Facharzt für Innere und Allgemeinmedizin in xxx. Dieser hat den Kläger am 18.11.2008
ambulant untersucht und in Kenntnis der überlassenen Gerichts- und Verwaltungsakten
unter den 02.12.2008 ein schriftliches Sachverständigengutachten verfasst. Der
gerichtliche Sachverständige bestätigt einen Gesamt-GdB von 60 ab Juli 2007, wobei er
eine Hörminderung (Einzel-GdB 50), ein Herzleiden (Einzel-GdB 20), ein Lungenleiden
(Einzel-GdB 10) und ein Harnleiden bei Prostatavergrößerung (Einzel-GdB 10)
berücksichtigt. Anlässlich der Untersuchung überreichte der Kläger dem
Sachverständigen weitere medizinische Unterlagen, so einen Bericht von Herrn Dr. xxx
(Neurologie, Psychiatrie) vom 24.09.2008, ein Attest von Herrn xxx (Orthopädie) vom
26.11.2008, sowie die Berichte von Frau Dr. xxx (Kardiologie) vom 29.09.2008 und des
Klinikums xxx (Kardiologie) vom 18.09.2008.
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Der Kläger erklärt sich mit dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme
ausdrücklich nicht einverstanden und meint, wegen nochmaligen Blutungen sowie
ständiger orthopädischer Beschwerden seien weitere Sachaufklärungen, insbesondere
ein urologisches und ein orthopädisches Gutachten notwendig.
16
Nach Prüfung der Sach- und Rechtslage hat das Gericht allerdings nur nochmals einen
hno-ärztlichen Befundbericht von Herrn xxx mit Audiogrammen, zuletzt vom 11.08.2008
beigezogen.
17
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes und der Einzeilheiten der
Beweisaufnahme wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichts- und
Verwaltungsakten bzw. auf die den Beteiligten überreichten Ablichtungen und
18
Abschriften.
Entscheidungsgründe:
19
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
20
Die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen verletzen den Kläger nicht in seinen
Rechten im Sinne des § 54 Absatz 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Sie sind weder
unter formellen noch unter materiell rechtlichen Gesichtspunkten zu beanstanden.
21
I.
22
In formeller Hinsicht kommt eine Fehlerhaftigkeit des Widerspruchsbescheides allenfalls
im Hinblick auf eine Unzuständigkeit der Bezirksregierung xfür den Erlass des
Widerspruchsbescheides vom 12.02.2008 in Betracht, wovon die Kammer allerdings
nicht ausgeht.
23
Die Zuständigkeit der Bezirksregierung Münster als Widerspruchbehörde folgt
vorliegend aus der Anwendung von § 85 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGG. Nach dem in dieser
Norm geregelten Devolotivprinzip ist der Widerspruchsbescheid grundsätzlich von der
nächsthöheren Behörde zu erlassen.
24
Seit Inkrafttreten des 2. Gesetzes zur Straffung der Behördenstruktur in Nordrhein-
Westfalen (2. Straffungsgesetz, in Kraft seit Januar 2008) mit Eingliederung der
ehemaligen Versorgungsverwaltung in die Kreise und kreisfreien Städte (= Art. 1 des 2.
Straffungsgesetzes = Gesetz zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine
Verwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen - Eingliederungsgesetz - ) hat die
Bezirksregierung Münster über Widersprüche gegen Feststellungsbescheide nach dem
Schwerbehindertenrecht und auch über den Widerspruch des Klägers gegen den
Bescheid vom 26.11.2007 entschieden, da sie sich bei Anwendung von § 2 Absatz 2
Satz 2 des Eingliederungsgesetzes sowie von § 85 Abs.2 Satz 1 Nr. 1 SGG als
Aufsichtsbehörde und gleichzeitig nächsthöhere Behörde hierzu befugt und verpflichtet
sah.
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Zweifel an der Zuständigkeit der Bezirksregierung als Widerspruchsbehörde ergeben
sich zunächst nicht im Hinblick auf § 85 Absatz 2 Satz 1 Nr. 4 SGG, der die
Widerspruchbehörde abweichend von Nr. 1 in Angelegenheiten der kommunalen
Selbstverwaltung regelt. Diese Regelung ist vorliegend nicht einschlägig, denn es
handelt sich bei den auf die Kreise und kreisfreien Städte übertragenen
Feststellungsaufgaben nach dem Schwerbehindertenrecht nicht um
Selbstverwaltungsangelegenheiten, sondern entsprechend dem Wortlaut in § 2 Satz 2
Satz 1 Eingliederungsgesetz um Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung, die eben
keine reinen Selbstverwaltungsaufgaben darstellen (vgl. OVG Münster 13, 356, 358).
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Ob allerdings im Geltungsbereich des SGG eine Aufsichtsbehörde im Regel- oder
Zweifelsfall als nächsthöhere Widerspruchsbehörde anzusehen ist, dürfte vom 10.
Senat des Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) ablehnend gesehen
werden, wobei dieser insoweit aus dem Gesetzgebungsverfahren auf eine nicht
planwidrige Gesetzeslücke schließt (vgl. Urteil Landessozialgericht Nordrhein-
Westfalen - LSG NRW - vom 05.03.2008 - L 10 SB 10/06 -). Eine Gesetzeslücke, sei sie
nun planwiderig oder auch nicht, kann allerdings nur dann angenommen werden, wenn
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der Begriff Aufsichtsbehörde im Sinne von § 2 Absatz 2 Satz 2 des
Eingliederungsgesetzes nicht zumindest gleichzeitig als Bezeichnung der
nächsthöheren Widerspruchsbehörde auszulegen wäre, wovon allerdings nach hiesiger
Auffassung unter Berücksichtigung des gesetzgeberischen Willens auszugehen ist. So
war während des Gesetzgebungsverfahrens zum 2. Straffungsgesetz eine regelmäßige
Gleichsetzung von Aufsichts- und Widerspruchsbehörde im Geltungsbereich der
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) in § 7 Ausführungsgesetz zur VwGO (in der bis
zum 31.10.2007 geltenden Fassung) normiert. Der Landesgesetzgeber hat die in dieser
Norm zum Ausdruck kommende Regelung aufgegriffen und im Eingliederungsgesetz
den Begriff Aufsichtsbehörde auch im Sinne von nächsthöherer Widerspruchsbehörde
verstanden und eine ausdrückliche gesetzliche Regelung als überflüssig angesehen.
Dies zeigt sich offensichtlich an der praktischen Umsetzung des
Eingliederungsgesetzes. So wurde die Bezirksregierung Münster als Landesbehörde
von der Landesregierung bzw. dem zuständigen Ministerium veranlasst, die
Widerspruchsbescheide in den Feststellungsverfahren nach dem
Schwerbehindertenrecht zu erteilen.
Im Übrigen wäre der Widerspruchsbescheid vom 12.02.2008 auch dann nicht
aufzuheben, wenn keine Sonderzuständigkeit der Bezirksregierung Münster für die
Erteilung dieses Widerspruchsbescheides anzunehmen wäre, wobei sich - im Ergebnis
allerdings unbeachtliche - Zuständigkeitsbedenken insoweit nur bezogen auf die
örtliche Zuständigkeit ergeben würden (vgl Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom
20.05.2009 - S 51 (3) SB 198/08 -).
28
Die sachliche Zuständigkeit einer Bezirksregierung würde sich auch bei
Außerachtlassung von § 2 Abs. 2 Satz 2 Eingliederungsgesetz unverändert aus § 85
Absatz 2 Satz 1 Nr. 1 SGG ableiten. So sind nach dem Landesorganisationsrecht für
das Land Nordrhein-Westfalen beim Fehlen einer anderslautenden Regelung die
Bezirksregierungen grundsätzlich als nächsthöhere Behörde anzusehen, wenn als
Ausgangsbehörde ein Kreis oder eine kreisfreie Stadt gehandelt hat (vgl. § 8 Absatz 3
des Landesorganisationsgesetz Nordrhein-Westfalen - LOG - ).
29
Ohne Anerkennung einer Sonderregelung im Eingliederungsgesetz dürfte sich nach
allgemeinen Landesorganisationsrecht die Bezirksregierung Arnsberg als örtlich
zuständige Widerspruchsbehörde für Feststellungsbescheide der Stadt Dortmund auf
dem Gebiet des Schwerbehindertenrechtes ergeben. Aber selbst unter diesem
Gesichtspunkt wäre der angefochtene Widerspruchsbescheid vom 12.02.2008
jedenfalls nicht aufzuheben, denn diese örtliche Unzuständigkeit wäre jedenfalls bei
Anwendung von § 42 Satz 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X)
unbeachtlich. So ist offensichtlich, dass bei der vorliegenden gebundenen Entscheidung
im Schwerbehindertenrecht eine Verletzung von Vorschriften über die örtliche
Zuständigkeit die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hätte.
30
II.
31
Der Kläger wird zur Überzeugung der Kammer nach der freien, aus dem
Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung durch die Feststellungen in
den angefochtenen Verwaltungsentscheidungen auch materiellrechtlich nicht
beschwert.
32
Insoweit wurden die aktenkundigen medizinischen Unterlagen mit dem von Herrn Dr.
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xxx eingeholten Sachverständigengutachten und der Vortrag der Beteiligten eingehend
und sorgfältig gewürdigt. Im Ergebnis schließt sich die Kammer nach gründlicher
Prüfung den Ausführungen und Wertungen von Herrn Dr. xxx an. Dieser ist bezogen auf
Beurteilungen auf dem Gebiet des Schwerbehindertenrechtes ein überaus erfahrener
Gerichtsgutachter. Er hat auch vorliegend seine Ausführungen nachvollziehbar
begründet und richtet sich durchgehend und treffend nach den im
Schwerbehindertenrecht maßgeblichen Kriterien. Der Kläger selbst schätzt zwar seine
Beschwerden als überaus gravierender ein als im Gutachten von Herrn Dr. xxx
dargestellt. Die Auffassung des Klägers hat die Kammer allerdings nicht überzeugt,
denn es handelt sich um eine rein subjektive Einschätzung ohne schlüssige
Begründung auf Basis des für das Schwerbehindertenrecht maßgeblichen
Wertungssystems.
Menschen sind gemäß § 2 Abs. 1 des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB
IX) behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische
Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das
Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (vgl. § 69 Abs. 1
Satz 3 SGB IX). Liegen mehrere Beeinträchtigungen vor, so wird der GdB nach den
Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit und unter Berücksichtigung
der wechselseitigen Beziehungen festgestellt (vgl. § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX).
34
In den Hinweisen zur Beweisanordnung wurde ausgeführt, dass sich die maßgeblichen
Regelungen zur Bildung von Einzel- und Gesamt-GdB anhand der jeweils gültigen
Fassung der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen
Entschädigungsrecht" und nach dem Schwerbehindertenrecht ergeben (AHP, zuletzt
vorliegend in der Fassung von November 2008). Die AHP sind grundsätzlich als
antizipierte Sachverständigengutachten zu verstehen, die in der Praxis wie Richtlinien
für die ärztliche Gutachtertätigkeit wirken und hinsichtlich ihrer generellen Richtigkeit
nicht durch Einzelfallbegutachtungen widerlegt werden können. Sie haben
normähnliche Wirkung und sind im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung
(Gleichbehandlung aller Behinderten) wie untergesetzliche Normen von den Gerichten
anzuwenden (vgl. BSG - Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/02 R -).
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Inzwischen hat der Gesetzgeber durch die Neuregelung in § 30 Abs. 17
Bundesversorgungsgesetz (BVG) auch eine gesetzliche Grundlage für die in den AHP
getroffenen Regelungen und damit auch für die Bewertung des GdB geschaffen (vgl.
Gesetz vom 30.12.2007, BGBl. I Seite 2904). Mit Wirkung ab Januar 2009 hat das
Bundesministerium für Arbeit und Soziales dann von dieser Ermächtigungsgrundlage
Gebrauch gemacht und die AHP durch die "Versorgungsmedizinischen Grundsätze"
(VmG) ersetzt. Die in dieser Verordnung nun rechtsverbindlich getroffenen Regelungen
gelten im Schwerbehindertenrecht gleichermaßen wie im Sozialen
Entschädigungsrecht (vgl. § 69 Abs. 1 S. 4 SGB IX). Entscheidungserheblich ist das
Inkrafttreten der verabschiedeten Verordnung vorliegend allerdings nicht, denn die bis
Ende 2008 in den AHP niedergelegten Vorgaben zur Bestimmung des GdB sind in den
VmG nahezu vollständig übernommen worden. Die VmG sind im Internet abrufbar unter
der Adresse: www.bgblportal.de/BGBL/bgbl1f/anlageband bgbl108057.pdf.
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Die Behinderung des Klägers beruht auf mehreren Gesundheitsstörungen, durch die die
Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. In derartigen Fällen sind als
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Basis für eine Gesamt-GdB Bildung vorab für die einzelnen Beeinträchtigungen nach
Funktionssystemen zusammengefassten Einzel-GdB zu bilden (vgl. AHP Nr. 18, 19 und
VmG Teil A Nr. 2, 3) ...
Die Teilhabe des Klägers am Leben in der Gesellschaft ist im Falle des Klägers
zunächst durch ein gravierendes Hörleiden beeinträchtigt. Die Kammer bewertet diese
Gesundheitsstörung in Übereinstimmung mit dem gerichtlichen Sachverständigen und
den beratenden Arzt der Beklagtenseite mit einem Einzel-GdB von 50. Bei Berechnung
des Hörverlustes entsprechend dem vom behandelnden HNO-Arzt Herrn xxx
übersandten Audiogramm vom 11.08.2008 ergibt sich für das rechte Ohr eine
hochgradige Schwerhörigkeit (ca. 75 %) und für das linke Ohr eine hoch- bis
mittelgradige Schwerhörigkeit (ca. 60 %). Bei Anwendung der Tabellen B und D in den
AHP bzw. VmG ( vgl. Nr. 26.5 bzw. Teil B Nr. 5) bestätigt sich die Richtigkeit eines GdB
von 50 für die Hörstörung des Klägers.
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Des Weiteren ist die Teilhabe des Klägers am Leben in der Gesellschaft durch ein
Herzleiden beeinträchtigt. Es besteht bei dem Kläger ein Zustand nach abgelaufenen
Herzinfarkt bei coronarer Herzkrankheit. Der von dem Sachverständigen insoweit
vorgesehene GdB von 20 ist bei Anwendung der Vorgaben in den AHP und VmG (vgl.
Nr. 26.9 und Teil B Rdnr. 9) schlüssig nachvollziehbar. So ist bei einem Herzleiden nicht
in erster Linie die Art der Erkrankung sondern die hieraus bedingte Leistungseinbuße
maßgeblich. Dies zu Grunde legend ist ein GdB von 20 angemessen aber auch
ausreichend, denn der Kläger ist - wie Herr Dr. xxx ausführt - ergometrisch durchaus
noch bis 75 Watt belastbar. Ein höherer GdB als 20 kommt für das Herzleiden nicht in
Betracht, da pathologische Messdaten bei der Belastung von 75 Watt nicht gemessen
wurden.
39
Die Teilhabebeeinträchtigung durch die chronische Atemwegserkrankung des Klägers
ist nach dem Gutachten von Herrn Dr. xxx mit einem Einzel-GdB von 10 zu
berücksichtigen. Die Kammer sieht keine Veranlassung auf Basis der Ausführungen in
den AHP bzw. VmG (vgl. Nr. 26.8. und Teil B Nr. 8) für die Atemstörung einen höheren
Einzel-GdB anzunehmen. So ergab die von dem gerichtlichen Sachverständigen
durchgeführte Lungenfunktionsmessung weder Hinweise für eine obstruktive noch für
eine restriktive Ventilationsstörung.
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Im Funktionsbereich der Harnorgane bestehen weitere Gesundheitsstörungen durch
wiederkehrende Blutungen und eine Prostatavergrößerung bei vermehrtem Harndrang,
wobei der Kläger die wesentliche Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft durch die erforderlichen gehäuften Toilettengänge erfährt. Im Hinblick auf
das Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme und unter Beachtung der Vorgaben
in den AHP und VmG (vgl. Nr. 26.12 bzw. Teil B Nr. 12) kann allerdings wohl kein
höherer Einzel-GdB als 10, allenfalls ein Einzel-GdB von "knapp" 20 angenommen
werden. Die Zeit der Heilungsbewährung von 2 Jahren nach Entfernung des
Harnblasentumors war - wie Herr Dr. xxx ausführt - im Februar 2007 und damit bereits
vor Antragstellung am 10.07.2007 abgelaufen. Zu berücksichtigen bleiben als
dauerhafte Teilhabebeeinträchtigungen wiederholte Blutbeimengungen im Urin und die
Prostata-Hyperplasie mit häufigem und imperativem Harnlassen. Wesentliche
dauerhafte Beschwerden mit erheblicher Auswirkung auf das Gesamtausmaß der
Behinderung lassen sich nicht ableiten, zumal - wie Herr Dr. xxx ausführt - chronische
Harnwegsentzündungen nicht nachgewiesen sind. Insoweit hält die Kammer die von
dem Kläger angegebene Häufigkeit der erforderlichen Toilettenbesuche (alle viertel
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Stunde) jedenfalls als Dauerbeeinträchtigung nicht für glaubhaft. So weilte der Kläger
bei Schluss der mündlichen Verhandlung schon etwa 1 Stunde im Sitzungssaal, ohne
dass er wegen eines Toilettenbesuches dem Raum verlassen hat.
Weitere Gesundheitsstörungen mit Auswirkungen auf den Gesamt-GdB sind zur
Überzeugung der Kammer nicht zu berücksichtigen, insbesondere nicht auf
orthopädischen Fachgebiet. Insoweit sollen zeitweilige orthopädische Beschwerden
des Klägers nicht in Frage gestellt werden. Allerdings lassen sich auf Basis der von dem
Sachverständigen durchgeführten Funktionsprüfungen wesentliche dauerhafte
Beschwerden nicht herleiten.
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Die Kammer hat die Beweisanregungen des Klägers, weitere
Sachverständigengutachten einzuholen, eingehend geprüft, vermochte dem Antrag
allerdings nicht zu folgen. So handelt es sich bei Herrn Dr. xxx um einen
sozialmedizinisch sehr erfahrenen Gutachter, der als Allgemeinmediziner zuverlässig
einschätzen kann, ob in bestimmten Fachbereichen eine Zusatzbegutachtung
erforderlich ist. Die Unsicherheit bezogen auf die hno-ärztliche Bewertung wurde im
Gutachten deutlich und durch die Einholung des Befundberichtes von Herrn xxx
beseitigt. Im Übrigen hat der Sachverständige die Notwendigkeit der Einholung eines
Zusatzgutachtens anlässlich der Beantwortung der Beweisfrage 7 ausdrücklich verneint.
Die anschließenden Stellungnahmen des Klägers ergaben keine neuen Aspekte, die
hierüber hinaus die Notwendigkeit einer Zusatzbegutachtung verdeutlicht hätten.
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Zur Bildung des Gesamt-GdB, d. h. bei der Bewertung der vorstehend beschriebenen
Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit unter
Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen, ist - wie in den AHP und VmG
dargelegt (vgl. Nr. 19 und Teil A Nr. 3) - von der Gesundheitsstörung auszugehen, mit
dem höchsten Einzel-GdB im Vordergrund des Leidensbildes des Betroffenen steht.
Sodann ist zu überprüfen, ob durch die weiteren Beeinträchtigungen des
Gesamtausmaß der Behinderung größer wird und der höchste Einzel-GdB erhöht
werden muss. Von Bedeutung ist insoweit insbesondere, ob sich einzelne
Beeinträchtigungen verstärken, überschneiden oder unabhängig voneinander auftreten.
Leichte Beeinträchtigungen mit einem Einzel-GdB von 10 bleiben bei der
Gesamtbeurteilung im Regelfall unberücksichtigt, denn diese führen grundsätzlich nicht
zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbehinderung. Auf bei leichten
Beeinträchtigungen von einem Einzel-GdB von 20, ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf
eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes des Gesamtbeurteilung zu schließen.
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Im Beschwerdebild des Klägers ist das hno-ärztliche Leiden mit einem Einzel-GdB von
50 führend. Die weiterhin hinzutretenden Leiden rechtfertigen eine Anhebung des
Gesamt-GdB auf 60, aber keineswegs auf 70 oder höher. Die Wechselwirkungen
zwischen der Hörminderung und der Herzerkrankung wurden im Gutachten von Herrn
Dr. xxx nachvollziehbar dargestellt und rechtfertigen unter Berücksichtigung der
teilweisen Überschneidungen aber auch der unabhängig von einander bestehenden
Aspekte eine Anhebung des Gesamt-GdB auf 60. Die weiteren Gesundheitsstörungen
des Klägers lassen das Gesamtausmaß der Behinderung unberührt. Dies gilt
insbesondere auch bezogen auf die Funktionsstörungen in dem Bereich der
Harnorgane. Selbst wenn diese wegen der gehäuften Toilettenbesuche mit einen
Einzel-GdB von 20 zu bewerten wären, würde das Gesamtausmaß der Behinderung
nicht wesentlich größer. So würde es sich im Sinne der AHP jedenfalls um einen
"leichten" zwanziger Wert handeln. Es besteht insbesondere keine chronische
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Harnwegsinfektion.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
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