Urteil des SozG Dortmund vom 12.03.2010

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Sozialgericht Dortmund, S 39 KN 98/08 P
Datum:
12.03.2010
Gericht:
Sozialgericht Dortmund
Spruchkörper:
39. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 39 KN 98/08 P
Sachgebiet:
Pflegeversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 05.11.2007 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.04.2008 verpflichtet,
über den Antrag der Klägerin auf Gewährung eines Zuschusses für den
Umbau des Küchenfensters in eine Terrassentür im von der Klägerin
bewohnten Objekt "xxx", unter Beachtung der Rechtsauffassung des
Gerichts erneut zu entscheiden. Die Beklagte hat die außergerichtlichen
Kosten der Klägerin zu erstatten.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten um die Bewilligung einer Wohnumfeld-verbessernden
Maßnahme.
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Die Klägerin, die unter anderem an den Folgen eines Hüftleidens, an Arthrose,
Osteoporose und an einer chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung leidet und einen
Rollstuhl benutzt, beantragte bei der Beklagten, bei der sie sozialpflegeversichert ist und
von der sie Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit erhält, die Übernahme der
Kosten für den Umbau eines Küchenfensters in eine Terrassentür.
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Die Beklagte holte eine gutachtliche Stellungnahme vom Sozialmedizinischen Dienst
(SMD) ein und lehnte den Antrag sodann durch Bescheid vom 05.11.2007 ab.
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Zur Begründung ist ausgeführt, nach dem Ergebnis der Überprüfung sei die
beabsichtigte Maßnahme nicht zur Ermöglichung oder Erleichterung der häuslichen
Pflege bzw. zur selbständigeren Lebensführung erforderlich. Mit Bescheid vom gleichen
Tage bewilligte die Beklagte der Klägerin einen Zuschuss für eine Haltestange an der
bestehenden Wohnzimmer-Terrassentür.
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Die Klägerin legte Widerspruch ein, welchen sie damit begründete, dass sie derzeit
keinen Zugang zu Garten und Terrasse habe, der breit genug sei. Insofern nütze ihr die
Haltestange nichts.
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Die Beklagte wies den Widerspruch durch Bescheid vom 03.04.2008 als unbegründet
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zurück. Die Beklagte begründete ihre Entscheidung erneut damit, dass die gesetzlichen
Tatbestandsvoraussetzungen nicht erfüllt seien.
Hiergegen ist am 02.05.2008 bei erkennenden Gericht Klage erhoben worden.
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Die Klägerin trägt vor,
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ihr Rollstuhl sei für die bestehende, im Wohnzimmer befindliche Terrassentür zu breit.
Die Terrassentür habe eine Breite von nur 50 cm. Sie wolle die Terrasse nutzen, um dort
Wäsche zu trocknen, Blumenkübel zu bepflanzen und dort zu bügeln. Auch würde sie in
die Lage versetzt, dort krankengymnastische Übungen zu verrichten.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 05.11.2007 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 03.04.2008 zu verpflichten, über ihren Antrag auf
Gewährung eines Zuschusses für den Umbau des Küchenfensters in eine Terrassentür
im von ihr bewohnten Objekt "xxx", unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts
erneut zu entscheiden.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die Beklagte hält ihre Entscheidung für rechtmäßig und trägt ergänzend vor, Terrasse
und Garten zählten nicht zum Wohnumfeld im Sinne des Gesetzes.
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Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Schriftsätze der Beteiligten und der
beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist zulässig und begründet.
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Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 05.11.2007 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 03.04.2008 ist mit der Rechtslage nicht in Einklang zu
bringen. Die Beklagte hat unter Beachtung der im Folgenden zu erläuternden
Rechtsauffassung des Gerichts erneut über den Antrag der Klägerin auf Gewährung
eines Zuschusses für den Umbau des Küchenfensters in eine Terrassentür im vom der
Klägerin bewohnten Objekt zu entscheiden.
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Gemäß § 40 Abs. 4 Satz 1 des Elften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB XI) können
die Pflegekassen subsidiär finanzielle Zuschüsse für Maßnahmen zur Verbesserung
des individuellen Wohnumfeldes des Pflegebedürftigen gewähren, beispielsweise für
technische Hilfen im Haushalt, wenn dadurch im Einzelfall die häusliche Pflege
ermöglicht oder erheblich erleichtert oder eine möglichst selbständige Lebensführung
des Pflegebedürftigen wiederhergestellt wird. Im vorliegenden Fall besteht für die
Kammer kein vernünftiger Zweifel daran, dass durch die Errichtung einer Terrassentür in
der Küche der Klägerin die Selbständigkeit der Lebensführung der Klägerin verbessert
würde. Die Klägerin würde in die Lage versetzt werden, ohne fremde Hilfe mit ihrem
Rollstuhl ihre Terrasse zu erreichen. Um die Terrasse erreichen zu können, ist konkret
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die hier im Streit stehende Maßnahme auch erforderlich. Die Klägerin hat von der
Beklagten unwidersprochen dargelegt, dass die bestehende, im Wohnzimmer der
Klägerin befindliche Terrassentür eine Breite von nur 50 cm aufweise und ihr Rollstuhl
durch diese schmale Tür nicht hindurch passe. Die Kammer hat auch keine Bedenken,
die Terrasse zum individuellen Wohnumfeld der Klägerin im Sinne der zitierten
Vorschrift zu rechnen. Das Wohnumfeld ist begrifflich bereits offener und weiter
bestimmt als die Wohnung als solche. Zur Überzeugung der Kammer gehören zum
Wohnumfeld jedenfalls unmittelbar an die Wohnung grenzende Bereiche, die im
Eigentum oder zumindest Besitz des Pflegebedürftigen stehen und die üblicherweise in
nicht unerheblichem Umfang mitgenutzt werden. Eine Terrasse, zu der unmittelbar
Zugang von einer Wohnung besteht, wird nach gerichtsbekannten allgemeinen
Gepflogenheiten - abhängig von der jeweiligen Witterungslage - genutzt, im
Spätfrühjahr, Sommer und Frühherbst regelmäßig sogar häufig und intensiv. Die
Klägerin selbst hat hierzu vorgetragen, die Terrasse zum Trocknen von Wäsche, zum
Bügeln, zur Durchführung von gymnastischen Übungen und zum Anpflanzen von
Kräutern nutzen zu wollen. Nicht nachvollziehbar erscheint dem erkennenden Gericht
insofern die entgegenstehende Auffassung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteil vom
1707.2008, Az.: B 3 P 12/07 R). Zur Überzeugung des erkennenden Gerichts werden in
jener Entscheidung geschriebene Tatbestandsmerkmale des § 40 Abs. 4 Satz 1 SGB XI
ohne Not ersetzt durch das im Gesetzeswortlaut gerade nicht zum Ausdruck kommende
Tatbestandsmerkmal des "Verbleibens in häuslicher Umgebung". Das erkennende
Gericht hält dieses Vorgehen für auslegungssystematisch unzulässig. Unabhängig
hiervon trifft es nicht zu, dass jegliche Leistungen der Pflegeversicherung sich dem Ziel
unterwerfen müssten, den Pflegebedürftigen in häuslicher Pflege zu belassen. § 3 Satz
1 SGB XI sagt hierzu vielmehr aus, dass die Pflegeversicherung "vorrangig" die
häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn
unterstützen solle, damit die Pflegebedürftigen möglichst lange in ihrer häuslichen
Umgebung bleiben können. Die Vorschrift lässt damit ausdrücklich Raum für
weitergehende Ziele. Es kommt hinzu, dass das Bundessozialgericht zur Überzeugung
der Kammer die empirische Erhebung, dass weniger als ein Drittel der Bevölkerung in
einem 1-Familien-Haus lebe, zur Entscheidungsgrundlage macht, diese
Betrachtungsweise jedoch insgesamt als nicht zulässig erscheint. Es ist
gerichtsbekannt, dass der Zugang zu einem unmittelbaren Wohnaußenbereich wie
einer Terrasse oder einem Balkon nicht notwendigerweise mit dem Bewohnen eines 1-
Familien-Hauses verknüpft ist. Eine Vielzahl von Mietwohnungen weist Balkone auf, die
- natürlich - zur Benutzung durch die Mieter zur Verfügung stehen sollen. Ebenso
gerichtsbekannt ist es, dass Wohnungen, insbesondere Eigentumswohnungen, vielfach
einen eigenen Zugang zu einer Terrasse haben, ohne statistisch Einfamilienhäuser zu
sein, und dass mit diesen Erscheinungen gerade die Neigung der Bevölkerung
dokumentiert wird, bei ausreichender Witterungslage nicht nur im geschlossenen
Wohnbereich leben zu wollen, sondern auch außerhalb dessen.
Der Klage war daher stattzugeben, wobei sich die Kostenentscheidung aus § 193 des
Sozialgerichtsgesetztes ergibt.
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