Urteil des SozG Detmold vom 24.08.2010

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Sozialgericht Detmold, S 8 AS 302/09
Datum:
24.08.2010
Gericht:
Sozialgericht Detmold
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 8 AS 302/09
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Der Bescheid vom 08.09.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 10.11.2009 wird aufgehoben. Die Beklagte trägt die notwendigen
außergerichtlichen Kosten des Klägers. Die Berufung wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
1
Der Kläger wendet sich gegen die Absenkung des Arbeitslosengeldes II um zehn
Prozent der für ihn maßgebenden Regelleistung im Zeitraum vom 01.10.2009 bis
31.12.2009.
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Der am 00.00.1971 geborene Kläger beantragte am 18.06.2009 die Gewährung von
Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), die die Beklagte mit
Bewilligungsbescheid vom 01.07.2009 für den Zeitraum vom 01.07.2009 bis 30.11.2009
auch bewilligte.
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Mit Bescheid vom 08.09.2009 senkte die Beklagte das dem Kläger gewährte
Arbeitslosengeld II sodann um zehn Prozent der für ihn maßgebenden Regelleistung für
den Zeitraum vom 01.10.2009 bis 31.12.2009 ab. Die Bewilligungsentscheidung vom
01.07.2009 hob sie insoweit auf. Zur Begründung führte sie aus, dass der Kläger trotz
schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen zu einem Meldetermin am 27.08.2009
ohne wichtigen Grund nicht erschienen sei.
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Hiergegen legte der Kläger am 17.09.2009 Widerspruch ein. Er habe den Termin
tatsächlich versäumt. Versehentlich habe er sich den 28.08.2009 in den Kalender
eingetragen. Als er dann am 28.08.2009 noch einmal auf das Einladungsschreiben
geschaut habe, sei ihm die Verwechslung aufgefallen. Er habe sich auch am Vormittag
gleich bei der Beklagten gemeldet und entschuldigt. Ein erstmaliges und einmaliges
Nichterscheinen zum Termin rechtfertige keine Sanktion. Des Weiteren sei zu
berücksichtigen, dass der Kläger unter ADS leide. Charakteristisch hierfür sei eine
Vergesslichkeit sowie Hibbeligkeit und Schusseligkeit. Die Falscheintragung im
Kalender sei krankheitsbedingt erfolgt.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 10.11.2009 wies die Beklagte den Widerspruch als
unbegründet zurück. Ein wichtiger Grund für das Nichterscheinen zum Termin sei nicht
erkennbar. Das falsche Notieren im Kalender stelle keinen wichtigen Grund dar,
sondern liege allein im Verantwortungsbereich des Klägers. Auch die Erkrankung stelle
keinen wichtigen Grund dar.
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Hiergegen hat der Kläger am 27.11.2009 Klage erhoben. Er wiederholt sein Vorbringen
aus dem Widerspruchsverfahren und reicht ein Gutachten des Facharztes für
Psychiatrie M vom 06.12.2009 aus einem Betreuungsverfahren zu den Akten, dass
dieser im Rahmen des amtsgerichtlichen Verfahrens erstellt hat. Wegen der
Einzelheiten wird auf das Gutachten Bezug genommen. Des Weiteren teilt er mit, dass
zwischenzeitlich ein gesetzlicher Betreuer mit den Wirkungskreisen
Gesundheitsfürsorge und Vermögenssorge einschließlich der Ämter- und
Behördenangelegenheiten und Wohnungsangelegenheiten bestellt worden sei. Mit
dessen Hilfe habe er sich zwischenzeitlich in Therapie begeben und arbeite beständig
an der Verbesserung seiner gesundheitlichen Situation.
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Der Kläger beantragt,
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den Bescheid vom 08.09.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
10.11.2009 aufzuheben.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung nimmt sie Bezug auf Bescheid und Widerspruchsbescheid und führt
ergänzend aus: Ausweislich des vorgelegten Gutachtens sei der Kläger voll
geschäftsfähig. Eine die freie Willensbildung einschränkende Störung krankhafter
Geistestätigkeit liege nicht vor. Dem Gutachten lasse sich nicht entnehmen, dass der
Kläger aufgrund der vorliegenden Erkrankungen nicht in der Lage gewesen sei, den
Meldetermin wahrzunehmen.
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Das Gericht hat zur Aufklärung des Sachverhaltes die Beklagte um Vorlage der an den
Kläger versandten Meldeaufforderung gebeten. Diese hat ein Muster einer
Meldeaufforderung übersandt und mitgeteilt, dass das Original nicht mehr vorliege, aber
dieses Muster den stets versandten Aufforderungen entspreche. Der Kläger hat
mitgeteilt, dass er über das Original der Meldeaufforderung nicht mehr verfüge. Ob der
Text des Musters dem Text seiner Meldeaufforderung entspräche, könne er nicht mehr
sagen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten das Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist begründet.
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Der Kläger ist durch den Bescheid vom 08.09.2009 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 10.11.2009 im Sinne des § 54 Abs. 2 S. 1 SGG
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beschwert, da der Bescheid, mit dem die Beklagte das dem Kläger gewährte
Arbeitslosengeld II um zehn Prozent der für den Kläger maßgebenden Regelleistung für
den Zeitraum vom 01.10.2009 bis 31.12.2009 abgesenkt und den Bewilligungsbescheid
vom 01.07.2009 aufgehoben hat, rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten
verletzt.
Die von der Beklagten getroffene Regelung findet für die Monate Oktober und November
2009, für die bereits mit Bescheid vom 01.07.2009 Leistungen zur Grundsicherung für
Arbeitsuchende bewilligt waren, ihre Rechtsgrundlage in § 48 Abs. 1 S. 1 des Zehnten
Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) in Verbindung mit § 31 Abs. 2 S. 1 SGB II. Gemäß §
48 Abs. 1 S. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben,
soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines
Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine solche
Änderung der Verhältnisse stellt die Verwirklichung eines Sanktionstatbestandes des §
31 SGB II dar. Für den Monat Dezember 2009, für den Grundsicherungsleistungen bei
Erteilung des Sanktionsbescheides nicht bereits bewilligt waren, ist Rechtsgrundlage für
die von der Beklagten getroffene Regelung § 31 Abs. 2 S. 1 SGB II direkt. Gemäß § 31
Abs. 2 S. 1 SGB II wird das Arbeitslosengeld II unter Wegfall des Zuschalgs nach § 24
SGB II in einer ersten Stufe um 10 Prozent der für den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen
maßgebenden Regelleistung abgesenkt, wenn der erwerbsfähige Hilfebedürftige trotz
schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen einer Aufforderung des zuständigen
Trägers, sich bei ihr zu melden oder bei einem ärztlichen oder psychologischen
Untersuchungstermin zu erscheinen, nicht nachkommt und keinen wichtigen Grund für
sein Verhalten nachweist.
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Im genannten Fall konnte sich die Kammer nicht davon überzeugen, dass die
Voraussetzungen der genannten Vorschriften erfüllt sind. Die Kammer konnte nicht
feststellen, dass der Kläger den Sanktionstatbestand des § 31 Abs. 2 S. 1 SGB II
verwirklicht hat. Entsprechend konnte auch eine Änderung der Verhältnisse im Sinne
des § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X nicht festgestellt werden. Zunächst einmal kann die
Kammer bereits nicht feststellen, dass dem Kläger eine ordnungsgemäße
Meldeaufforderung mit einem konkret benannten zulässigen Meldezweck im Sinne des
§ 309 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (SGB III) und einer den Anforderungen des
§ 31 SGB II entsprechenden Rechtsfolgenbelehrung übermittelt wurde. Zwar bestreitet
der Kläger nicht, eine Terminseinladung erhalten zu haben. Es kann jedoch durch die
Kammer nicht mehr geprüft werden, ob diese ordnungsgemäß und unter Beifügung
einer richtigen Rechtsfolgenbelehrung erfolgte. Der Kläger verfügt über die ihm
übersandte Einladung nicht mehr. Und auch die Beklagte kann das dem Kläger
übersandte Einladungsschreiben nicht mehr vorlegen. Eine Kopie der dem Kläger
übersandten Einladung oder eine Mehrausfertigung wurde von der Beklagten nicht
gefertigt und zur Akte genommen. Auch ist die Einladung nicht mehr in der EDV
gespeichert, so dass sie nicht mehr reproduziert werden kann, wobei auch zweifelhaft
ist, ob durch einen späteren Nachdruck des Einladungsschreibens der Nachweis einer
ordnungsgemäßen Rechtsfolgenbelehrung erbracht werden kann (vgl. hierzu SG LIP,
Urteil vom 10.02.2010, Az.: S 18 (22) AS 21/09). Die Vorlage einer Mustereinladung
genügt der Kammer zum Nachweis einer ordnungsgemäßen Meldeaufforderung mit
ordnungsgemäßer Rechtsfolgenbelehrung nicht. Im Hinblick auf den schwerwiegenden
Eingriff, den eine Sanktion für den Betroffenen darstellt, stellt die Kammer an den
Nachweis der Voraussetzungen strenge Anforderungen. Letztlich kann durch das
vorgelegte Muster nicht der Nachweis erbracht werden, dass eine Meldeaufforderung
mit genau diesem Text dem Kläger zugegangen ist. Weder kann ausgeschlossen
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werden, dass in dem dem Kläger übersandten Schreiben ein anderer Meldezweck
genannt war, noch kann ausgeschlossen werden, dass eine andere
Rechtsfolgenbelehrung enthalten war. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung
am 24.08.2010 erklärt, dass er nicht mehr sagen könne, ob die ihm übersandte
Einladung genau diesen Text enthalten habe. Da die Beklagte die Rechtsfolge der
Absenkung der Regelleistung geltend macht, trägt sie die objektive Beweislast für das
Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen (so auch SG LG, Urteil vom 22.07.2008,
Az.: S 30 AS 538/05; SG LIP, Beschluss vom 09.04.2010, Az.: S 18 AS 473/10 ER und
SG LIP, Urteil vom 10.02.2010, Az.: S 18 (22) AS 21/09).
Darüber hinaus liegt nach Auffassung der Kammer auch ein wichtiger Grund für das
Nichterscheinen des Klägers zum Meldetermin vor. Der Kläger war nach Auffassung der
Kammer aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage, den Meldetermin
wahrzunehmen. Wichtiger Grund sind alle Umstände des Einzelfalles, die unter
Berücksichtigung der normativ oder tatsächlich berechtigten Interessen des Einzelnen in
Abwägung mit etwa entgegenstehenden Belangen der Allgemeinheit das Verhalten des
Hilfebedürftigen rechtfertigen (Berlit in: LPK/SGB II, § 31 RdNr. 60, m. w. N.). Der Kläger
leidet ausweislich des Gutachtens des Facharztes für Psychiatrie M an einem
Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom; darüber hinaus besteht der Verdacht auf eine
Anpassungsstörung mit länger dauernder Depression. Zwar hält der Sachverständige,
wie die Beklagte ausführt, den Kläger für geschäftsfähig. Jedoch führt der
Sachverständige auch aus, dass der Kläger Schwierigkeiten habe, sich ausreichend zu
konzentrieren und krankheitsbedingt Defizite beim Durchhaltevermögen zeige. Der
Sachverständige hält die Erkrankungen auf psychischem Gebiet für derartig gravierend,
dass er die Einrichtung einer Betreuung empfiehlt, die Ämter- und
Behördenangelegenheiten einschließt. Eine entsprechende Anordnung ist durch das
Amtsgericht zwischenzeitlich erfolgt. Die Kammer hält aufgrund der Ausführungen des
Sachverständigen für nachvollziehbar, dass das falsche Notieren des Termins nicht
lediglich auf eine durch entsprechende Willensanstrengung zu überwindende
Gedankenlosigkeit, sondern tatsächlich auf die Erkrankung des Klägers zurückzuführen
ist, die er zur Zeit nicht unter Kontrolle hat.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
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Die Berufung war gemäß § 144 Abs. 2 SGG nicht zuzulassen. Sie ist gemäß § 144 Abs.
1 S. 1 Nr. 1 SGG zulassungsbedürftig, da der Wert des Beschwerdegegenstandes
750,00 EUR nicht übersteigt. Die Rechtssache hat jedoch weder grundsätzliche
Bedeutung noch weicht die Entscheidung von obergerichtlicher Rechtsprechung ab.
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