Urteil des SozG Chemnitz vom 24.01.2007

SozG Chemnitz: gehalt, anknüpfung, pauschal, anspruchsvoraussetzung, ermessen, rechtssicherheit, minderung, zuschuss, industrie, geschäftsführer

Sozialgericht Chemnitz
Urteil vom 24.01.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Chemnitz S 26 AL 445/05
1. Der Bescheid der Beklagten vom 30. Juni 2004 und der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 28. Dezember
2004 werden aufgehoben. 2. Die Beklagten wird dem Grunde nach verurteilt, der Klägerin Überbrückungsgeld ab 15.
April 2004 zu gewähren. 3. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin Überbrückungsgeld (Übg) für die Aufnahme einer selbständigen
Tätigkeit ab 15. April 2004 zusteht.
Die am 17. Oktober 19 ... geborene Klägerin bezog zuletzt seit 17. März 2004 Arbeitslosengeld nach einem
wöchentlichen gerundeten Bemessungsentgelt von 320 EUR in der Leistungsgruppe A/0.
Am 14. April 2004 beantragte sie die Gewährung von Übg zur Aufnahme einer selbständi-gen Tätigkeit (Führen eines
Gastronomiebetriebes in ...). Sie legte die Gewerbeanmeldung für die " ..." ab 15. April 2004 sowie eine fachkundige
Stellungnahme eines Steuerberaters vor. Die Klägerin ist alleinige Gesellschafterin und von den Beschränkungen des
§ 181 BGB befreite Geschäftsführerin der GmbH. Gemäß Arbeitsvertrag vom 15. April 2004 stand der Klägerin als
Geschäftsführerin eine monatliche Bruttovergütung von 3 000 EUR zu. Die endgültige Erlaubnis nach § 2 GastG
erteilte die Große Kreisstadt ... am 24. Juni 2004.
Mit Bescheid vom 30. Juni 2004 lehnte die Beklagte die Bewilligung von Übg ab. Die Klägerin habe monatliche
Einkünfte von ca. 3 000 EUR. Somit sei ihr Lebensunterhalt während der Anlaufphase der selbständigen Tätigkeit
gesichert, so dass ein Anspruch auf Übg entfalle.
Hiergegen legte die Klägerin am 19. Juli 2004 Widerspruch ein. Sie habe sich als geschäftsführende Gesellschafterin
ein Gehalt festlegen müssen, das aber – vor allem im ersten Geschäftsjahr – reine Formsache sei. Zudem sei ihr
Bruttogehalt ab 1. Juli 2004 auf 1 000 EUR monatlich gesenkt worden, da das prognostizierte Betriebsergebnis in der
Anlaufphase nicht erwirtschaftet werden konnte. Die Klägerin legte den geänderten Ge-schäftsführervertrag sowie
Gehaltsabrechnungen für Mai bis November 20004 vor.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 28. Dezember 2004 zurück. Die Klägerin sei ab Beginn der
selbständigen Tätigkeit in der Lage, ihren Lebensunterhalt und ihre soziale Sicherung einkommensmäßig selbst zu
bestreiten, so dass die Gewährung von Übg nicht notwendig sei. Bei gleichzeitiger Zahlung von Gehalt und Übg sei
die Klägerin ungerechtfertigt gegenüber Existenzgründern bevorteilt, denen kein Gehalt gezahlt werde. Das Gehalt sei
zudem höher als das zu erwartende Übg.
Hiergegen richtet sich die am 31. Januar 2005 zum SG Leipzig erhobene Klage. Das SG Leipzig hat den Rechtsstreit
mit Beschluss vom 21. April 2005 an das örtlich zuständige SG Chemnitz verwiesen. Die Klägerin trägt vor, alle
persönlichen und vorhabenbezogenen Anspruchsvoraussetzungen zu erfüllen. Eine Zweckbindung zur Sicherung des
Lebensun-terhalts sei entgegen der Auffassung der Beklagten keine Voraussetzung für die Gewährung von Übg. Dies
würde dazu führen, dass die von der Klägerin gewählte gesellschafts-rechtliche Konstellation generell von der
Gewährung des Übg ausgeschlossen wäre. Ein Existenzgründer könnte sich niemals selbst als Geschäftsführer
einsetzen, da er dann Ge-halt beziehen würde, dass den Anspruch nach Ansicht der Beklagten ausschließen würde.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,
den Bescheid der Beklagten vom 30. Juni 2004 in Gestalt des Widerspruchsbe-scheides vom 28. Dezember 2004
aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin das beantragte Übergangsgeld zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verteidigt die angefochtenen Bescheide und ist insbesondere der Auffassung, dass Übg nach § 57 SGB III eine
zweckbestimmte Sozialleistung sei. Dies habe der Gesetzgeber mit der Gesetzesformulierung zum Ausdruck
gebracht. Der Personenkreis der Anspruchsbe-rechtigten sei dadurch deutlich eingeschränkt.
Der Kammer liegen die Verwaltungsakte und die Verfahrensakte vor, auf deren Inhalt Bezug genommen wird.
Entscheidungsgründe:
Das Gericht entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des
Sozialgerichtsgesetzes – SGG).
Die Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 30. Juni 2004 und der Wider-spruchsbescheid der
Beklagten vom 28. Dezember 2004 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG).
Die Klägerin hat dem Grunde nach (§ 130 Abs. 1 Satz 1 SGG) Anspruch auf Übg ab Aufnahme der selbständigen
Beschäfti-gung am 15. Juni 2004.
Nach § 57 Abs. 1 SGB III (in der ab 1. Januar 2004 geltenden Fassung) haben Arbeitneh-mer, die durch Aufnahme
einer selbständigen Tätigkeit die Arbeitslosigkeit beenden oder vermeiden, zur Sicherung des Lebensunterhalts und
zur sozialen Sicherung in der Zeit nach der Existenzgründung Anspruch auf Überbrückungsgeld. Überbrückungsgeld
wird u.a. geleistet, wenn der Arbeitnehmer in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Auf-nahme der selbständigen
Tätigkeit einen Anspruch auf Entgeltersatzleistungen nach dem SGB III hatte und zur Tragfähigkeit der
Existenzgründung die Stellungnahme einer fach-kundigen Stelle vorgelegt hat; fachkundige Stellen sind insbesondere
die Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern, berufsständische Kammern, Fachverbände und
Kreditinstitute (§ 57 Abs. 2 Nr. 2 SGB III). Diese tatbestandlichen Voraussetzungen sind erfüllt. Die Klägerin bezog
mindestens bis zur Aufnahme der selbständigen Tätigkeit Arbeitslosengeld nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch
- Arbeitsförderung. Die Stellungnahme eines Steuerberaters als geeignete fachkundige Stelle zur Tragfähigkeit des
Unternehmens lag vor. Ruhenstatbestände nach §§ 143, 143a SGB III lagen ebenso wenig wie die Voraussetzungen
für eine Minderung des Arbeitslosengeldes nach § 140 SGB III (in der 2004 geltenden Fassung) vor.
Soweit die Beklagte die Voraussetzungen für die Gewährung des Überbrückungsgeldes abgelehnt hat, weil die
Klägerin diese Leistung nicht zur Sicherung des Lebensunterhaltes oder zur sozialen Sicherung bedürfe, widerspricht
diese Auslegung der vom Gesetzgeber vorgegebenen und vom Gericht nicht auf ihre sozialpolitische Sinnhaftigkeit zu
untersu-chenden Gesetzeslage. Das streitige Überbrückungsgeld wird ohne Rücksicht auf einen im Einzelfall
nachzuweisenden oder nachweisbaren Bedarf pauschal in Anknüpfung an den zuletzt bezogenen
Arbeitslosengeldbetrag (vgl. § 57 Abs. 5 SGB III) gezahlt. Die in § 57 Abs. 1 SGB III enthaltene Formulierung "zur
Sicherung des Lebensunterhaltes und zur sozialen Sicherung in der Zeit nach der Existenzgründung" beinhaltet mithin
keine eigen-ständige Anspruchsvoraussetzung, sondern umschreibt lediglich die allgemeine Zielset-zung der
gesetzlichen Regelung (so auch Stark in PK-SGB III, 2. Aufl. 2004, § 57 Nr. 1 bereits zur bis 31. Dezember 2003
geltenden Fassung). In der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 13/4941 S. 163 f.) zu § 57 SGB III heißt es
dementsprechend: "Die Benennung des Leistungszwecks in Absatz 1 verdeutlicht lediglich die Zielsetzung des
arbeitsmarktpoliti-schen Instruments Überbrückungsgeld, nämlich als Leistung zur Sicherung des Lebensun-terhaltes
und zur sozialen Sicherung in der Zeit nach der Existenzgründung und grenzt diese Leistung, die als Zuschuss
gezahlt wird, etwa gegen Investitionszuschüsse ab." In der bis 31. Dezember 2003 geltenden Gesetzesfassung
konnte der Zweck der Leistung zwar im Rahmen der Ermessensentscheidung über das "Ob" der Leistung
berücksichtigt werden. Ab dem 1. Januar 2004 steht die Leistungsgewährung freilich nicht mehr im Ermessen der
Beklagten. Eine "Bedürftigkeitsprüfung" – anhand welcher Maßstäbe auch immer -, findet nicht statt (vgl. auch
Winkler, in: Gagel, SGB III, Stand Juni 2006; § 57 Rn. 10). Der Ge-setzgeber wollte den Betroffenen gerade mehr
Rechtssicherheit verschaffen (BT-Drs. 15/1515 S. 81). Dieses Ziel würde durch die Auslegung der Beklagten
allerdings geradezu konterkariert.
Mit der Feststellung, dass alle Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, steht zugleich fest, dass ein Geldbetrag an die
Klägerin zu zahlen ist. Die Höhe des Übergangsgeldes richtet sich nach § 57 Abs. 5 SGB III in der ab 1. Januar 2004
geltenden Fassung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsa-che.
Gegen dieses Urteil ist das Rechtsmittel der Berufung statthaft (§§ 105, 143 f. SGG), da der Wert des
Beschwerdegegenstandes 500 EUR übersteigt ((§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).