Urteil des SozG Chemnitz vom 16.05.2006

SozG Chemnitz: arzneimittel, chemotherapie, ärztliche behandlung, hauptsache, label, verordnung, klinikum, krankenversicherung, erlass, verfügung

Sozialgericht Chemnitz
Beschluss vom 16.05.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Chemnitz S 13 KR 79/06 ER
I. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin die begonnene
Behandlung mit dem Arzneimittel Herceptin einstweilen weiter zu gewähren. II. Die Antragsgegnerin hat die
außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu tragen.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten über die vorläufige Versorgung mit dem Arzneimittel Herceptin (Wirkstoff Trastuzumab).
Die Antragstellerin ist am ...1964 geboren und bei der Antragsgegnerin gesetzlich kran-kenversichert. Am 17.01.2005
wurde bei ihr ein Mammakarzinom links diagnostiziert. Sie befand sich sodann vom 19.01. – 21.01.2005 in stationärer
Behandlung im Klinikum O. in R., wo am 20.01.2005 die Stanzbiopsie durchgeführt wurde. Zwischen dem 26.01.2005
und dem 22.06.2005 wurde eine neoadjuvante / primäre Chemotherapie durchgeführt. Vom 18.07. – 28.07.2005 befand
sich die Antragstellerin erneut in stationärer Behandlung im Klinikum O. in R., wo am 19.07.2005 der Tumor operativ
entfernt wurde. Vom 28.09.2005 bis 14.11.2005 erfolgte dann eine adjuvante Bestrahlung der linken Mamma in der
Klinikum C. gGmbH. Vom 04.01.2006 bis 01.02.2006 führte die Antragstellerin eine Rehabilitationsmaßnahme in der
Klinik St. I. in P. durch.
Mit Schreiben vom 31.01.2006 beantragte die anwaltlich vertretene Antragstellerin bei der Antragsgegnerin mit
Fristsetzung für die Erteilung eines Bescheides bis 06.02.2006 die Kostenübernahme für eine einjährige –
zulassungsüberschreitende - Therapie mit dem Arzneimittel Herceptin. Das Arzneimittel Herceptin ist bisher nur bei
metastasierenden Mammakarzinomen zugelassen. Die Zulassungserweiterung wurde Mitte Februar 2006 beantragt.
Am 10.02.2006 begann die Klägerin mit der Herceptin – Therapie, wobei aller drei Wo-chen die Gabe von Herceptin
per Infusion im Klinikum O. in R. erfolgt. Unter dem 10.02.2006 holte die Antragsgegnerin eine Stellungnahme ihres
Medizinischen Dienstes (MDK) ein. Dieser kam zu dem Ergebnis, dass Herceptin in Deutschland zwar nur bei
Patienten mit metastasierendem Mammakarzinom zugelassen sei. In der adjuvanten Therapie sei aber unter
folgenden Voraussetzungen eine Behandlung mit Herceptin aus medizinischer Sicht im Hinblick auf die laufenden
Studien vertretbar: gesicherte Diagnose eines nodal - positiven Mammakarzinoms, Nachweis eines qualifizierenden
HER 2 – Sta-tus durch Immunhistochemie, adjuvante Behandlungssituation, adjuvante Chemotherapie mit AC, gefolgt
von Paclitaxel, Ausschluss kardialer Vorerkrankungen und Herceptin – Gabe initial 4 mg / kg Körpergewicht, gefolgt
von 2 mg / kg Körpergewicht, wöchentlich über 52 Wochen, Beginn zeitlich mit Paclitaxel. Bei Vorliegen dieser
Voraussetzungen könne eine Verordnung auf Kassenrezept Muster 16 erfolgen. Vorliegend fehlten aber die drei
letztgenannten Voraussetzungen. Auch die vom BSG geschaffenen Voraussetzungen des "off – label – use" lägen
nicht vor. Zur adjuvanten Therapie des Mammakarzinoms stünden mehrere Therapiestrategien zur Verfügung
(Strahlentherapie, antihormonelle The-rapie, Chemotherapie, verschiedene zugelassene Arzneimittel). Auch lägen
bisher nur Zwi-schenergebnisse der verschiedenen Studien vor.
Unter dem 16.02.2006 lehnte die Antragsgegnerin gestützt auf die Stellungnahme ihres MDK die Kostenübernahme für
die Herceptin – Therapie ab, da gemäß § 29 Bundesman-telvertrag – Ärzte (BMV – Ä) die Verordnung auf
Kassenrezept (Muster 16) hätte erfolgen müssen.
Gegen den ablehnenden Bescheid legte die Antragstellerin am 23.02.2006 Widerspruch ein. Über den Widerspruch
wurde noch nicht entschieden.
Am 27.02.2006 hat die Antragstellerin den Erlass einer einstweiligen Anordnung bean-tragt. Sie trägt vor, die
Indikation für eine einjährige zulassungsüberschreitende Herceptin – Therapie sei nach Aussage ihrer behandelnden
Ärzte zur Verringerung des Rezidivrisi-kos bzw. einer Fernmetastasierung um 50 % gegeben. Der Beginn der Therapie
mit der ersten Herceptingabe am 10.02.2006 sei medizinisch notwendig gewesen. Die Kosten für diese einjährige
Therapie würden zwischen 40.000 und 50.000 EUR liegen. Sie sei nicht in der Lage, diese Gesamtkosten
aufzubringen. Die Entscheidung im Widerspruchsverfahren oder im Hauptsacheverfahren könne daher nicht
abgewartet werden, auch nicht im Hin-blick auf die mögliche Verwirklichung des Rezidivrisikos bzw. des Risikos der
Metastasie-rung. Weiter lägen die Voraussetzungen des "off – label – use" vor. Es handle sich um eine
schwerwiegende, lebensbedrohliche und die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beein-trächtigende Erkrankung. Die
Antragstellerin sei Hochrisikopatientin aufgrund von Brust-krebserkrankungen der Mutter. Eine andere Therapie sei
nicht verfügbar. Die Antragstelle-rin habe alle zur Verfügung stehenden und indizierten Behandlungsmethoden
erhalten. Zudem sei eine Risikoverringerung um 50 % mit anderen Therapien nicht zu erzielen. Fer-ner bestehe
aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ
oder palliativ) erzielt werden kann. Aufgrund ver-schiedener Studien lägen Forschungsergebnisse vor, die erwarten
lassen, dass das Arznei-mittel für die betreffende Indikation zugelassen werde. Der Zulassungsantrag sei gestellt und
die Ergebnisse unter anderem der HERA – Studie (Phase III) lägen vor. Schließlich müsse auch im Hinblick auf die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 06.12.2005 die Behandlung gewährt werden.
Die Antragstellerin beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin eine Behandlung mit
dem Arzneimittel Herceptin nach ärztlicher Verordnung als Sachleistung zur Verfügung zu stellen bzw. die
diesbezüglich ent-stehenden und entstandenen Kosten zu erstatten.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Die Antragsgegnerin trägt unter Vorlage eines weiteren Gutachtens ihres Medizinischen Dienstes vom 13.03.2006 vor,
die Antragstellerin könne nach entsprechender vertragsärzt-licher Verordnung auf Kassenrezept Muster 16
(entsprechend Nr. 9 Arzneimittelrichtlinie (AMR) und § 29 BMV – Ä) mit Herceptin behandelt werden, da es sich
grundsätzlich um ein zugelassenes Arzneimittel handle. Dies sei nicht erfolgt. Die Einholung einer vorheri-gen
Genehmigung der Krankenkasse sei nicht möglich. Der MDK kommt im Gutachten darüber hinaus erneut zu dem
Ergebnis, dass die Voraussetzungen des "off – label – use" nicht vorlägen. Insbesondere könne aus den Studien kein
Nutzen oder Wirksamkeitsnach-weis für die Antragstellerin abgeleitet werden, da die Fallkonstellationen nicht
miteinander vergleichbar seien. Langzeitnebenwirkungen seien nicht bekannt.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung des Reha - Entlassungsberichtes der Kli-nik St. I. in P. vom
02.02.2006 sowie durch Einholung eines freien Gutachtens des Herrn Dr. med. habil. T., Chefarzt der Frauenklinik am
Klinikum O. in R., vom 24.04.2006. Auf Blatt 157 – 161 der Gerichtsakte wird Bezug genommen.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach– und Streitstandes wird auf die Beklagtenakte, die Gerichtsakte sowie das
übrige Vorbringen der Beteiligten Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist zulässig. Insbesondere konnte der Antrag auf einstweilige Anordnung ge-mäß § 86 Abs. 3 SGG schon
vor Klageerhebung gestellt werden.
Der Antrag ist auch begründet. Die Antragstellerin hat einen Anspruch auf einstweilige (Weiter-)Behandlung mit dem
Arzneimittel Herceptin. Das Abwarten der Hauptsacheent-scheidung ist ihr nicht zumutbar.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstwei-lige Anordnung in Bezug
auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes
die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach § 86 b
Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein
streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwen-dung wesentlicher Nachteile nötig
erscheint. Beim Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung müssen ein Anordnungsanspruch, mithin der auch im
Hauptsacheverfahren geltend gemachte materielle Anspruch, sowie ein Anordnungsgrund, mithin die besondere
Eilbedürftigkeit, vorliegen. Dies richtet sich zunächst nach den Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Die hierfür
erforderlichen Tatsachen sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG, § 920 Abs. 2 ZPO). Sind die
Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, so kommt es vor allem auf die Abwägung der betroffenen Interessen unter
Berücksichtigung ihrer Bedeutung und ihrer Dringlichkeit sowie der Folgen, die bei Erlass bzw. Nichterlass einer
einstweiligen Anordnung eintreten würden - einschließlich der Möglichkeit bzw. Schwierigkeit, bei später abweichender
Hauptsacheentscheidung die Folgen wieder rück-gängig zu machen -, an. Dabei darf eine einstweilige Anordnung
grundsätzlich nicht die endgültige Entscheidung vorwegnehmen. Eine Vorwegnahme der Hauptsache im Interesse der
Effektivität des Rechtsschutzes kommt ausnahmsweise dann in Betracht, wenn Rechts-schutz sonst nicht erreichbar
und dies für den Antragsteller unzumutbar wäre. Eine Vor-wegnahme der Hauptsache liegt allerdings erst dann vor,
wenn die Maßnahme nachträglich nicht mehr für die Vergangenheit korrigierbar ist (vgl. Meyer / Ladewig – Keller,
SGG, 8. Aufl., § 86 a Rn. 29 f., 31).
Da die Antragstellerin die Kostenübernahme für eine Therapie mit dem Arzneimittel Her-ceptin begehrt, erstrebt sie
vorläufigen Rechtsschutz in Form einer Regelungsanordnung gemäß § 86 Abs. 2 Satz 2 SGG. Denn anders als bei
einer Sicherungsanordnung gemäß § 86 Abs. 2 Satz 1 SGG, bei der die Sicherung eines status quo im Vordergrund
steht, geht es bei einer Regelungsanordnung, wie im vorliegenden Fall, um die Begründung einer neuen
Rechtsposition. Diesbezüglich hat die Antragstellerin vorliegend einen Anordnungsan-spruch und einen
Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Um eine Vorwegnahme der Hauptsache handelt es sich nicht, da die
Entscheidung für die Vergangenheit in Form der Rückforderung der Behandlungskosten korrigierbar ist (§ 50 SGB X).
Ein Anordnungsanspruch ergibt sich aus den Grundsätzen des sog. "off – label – use".
Versicherte haben gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um
eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die
Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung müssen nach § 12 Abs. 1 SGB V ausreichend, zweckmäßig und
wirt-schaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder
unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die
Krankenkassen nicht bewilligen.
Gemäß § 31 Abs. 1 SGB V haben Versicherte grundsätzlich nur Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen
Arzneimitteln, soweit sie in der vertragsärztlichen Versorgung verordnungsfähig sind und deren Qualität und
Wirksamkeit dem allgemeinen anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Diese Voraussetzungen
sind dann nicht erfüllt, wenn das Arzneimittel nicht über die nach dem Arzneimittelrecht erforderliche Zu-lassung
verfügt oder wenn es in einem Anwendungsgebiet eingesetzt wird, für das es grundsätzlich nicht zugelassen ist. Um
einen solchen "off – label – use" geht es im vorlie-genden Fall, da Herceptin für die Anwendung bei
Brustkrebspatientinnen in der adjuvanten Therapie unstreitig nicht die deutsche bzw. europaweite Zulassung besitzt,
sondern ledig-lich bei metastasierenden Mammakarzinomen. Die Erweiterung der Zulassung ist im Feb-ruar 2006
beantragt worden.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG, Urteil vom 19.03.2002, Az. B 1 KR 37/00 R) kommt die
Verordnung eines Medikaments und damit die Leistungspflicht der Krankenkasse in einem von der Zulassung nicht
umfassten Anwendungsgebiet nur in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden
(lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine
andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. auf Grund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem
betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Damit letzteres angenommen
werden kann, müssen For-schungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die
betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn entweder 1. die Erweiterung
der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber
Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch
relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder 2. außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene
Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen
Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zu-lassen und auf Grund deren in den
einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraus-sichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht.
Diese Voraussetzungen liegen hier vor. 1. Die Brustkrebserkrankung der Antragstellerin ist unstreitig eine
schwerwiegende Erkrankung, die lebensbedrohlich sein oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigen
kann. 2. Wirksame Therapiealternativen, die das Auftreten von Rezidiven im gleichen Maße vermeiden und damit die
Überlebenschancen der Antragstellerin verbessern würden, sind von der Antragsgegnerin bzw. ihrem MDK lediglich
pauschal benannt worden (Strahlentherapie, antihormonelle Therapie, Chemotherapie, verschiedene zugelassene
Arzneimittel). Nach überzeugender Darstellung durch Herrn Dr. T. im Kurzgutachten vom 24.04.2006 gibt es bei der
Antragstellerin aber keine Therapiealternativen. Herr Dr. T. gab an, dass eine Chemotherapie erfolgt sei. Eine weitere
adjuvante Therapiemaßnahme mit Verabfolgung von Antihormonen scheide aus, da die Tumorzellen keine
entsprechenden Hormonrezeptoren tragen. Dies indiziere sogar schon, dass die Antragstellerin erhöht rezidivgefährdet
sei. 3. Zudem besteht aufgrund verschiedener Studien die begründete Aussicht auf Behandlungserfolg, selbst wenn
deren wissenschaftliche Qualität vom MDK und der Antragsgegnerin in Zweifel gezogen wurde. Es würde indes die -
im Rahmen vorläufigen Rechtsschutzes und ohne sachverständige Mithilfe dem Gericht eingeräumten - Möglichkeiten
sprengen, in dieser medizinwissenschaftlichen Auseinandersetzung Position zu beziehen. Es sei nur erwähnt, dass
selbst der MDK im Gutachten vom 10.02.2006 zu dem Ergebnis kommt, dass aufgrund der momentan publizierten
Erkenntnisse eine begründete Aussicht bestehe, dass mit Trastuzumab (Herceptin) bei adjuvanter Anwendung
voraussichtlich ein kurativer Behandlungserfolg erzielt werden könne, ohne dass dies endgültig belegt sei.
Insbesondere bei Patientinnen mit einer Hochrisiko - Fallkonstellation bestehe unabweisbar ein Bedarf für eine über
die Wirksamkeit der derzeit verfügbaren Standardtherapie hinausgehende adjuvante Behandlung. Daraus resultierend
stellt der MDK – orientiert an den Vorgaben der Studien - Voraussetzungen auf, unter denen der behandelnde Arzt
Herceptin auf Kassenrezept verordnen könnte, die aber hier nicht vorlägen. Im Gutachten vom 13.03.2006 kommt er
dann zu dem Ergebnis, dass die Studien mit der hier vorliegenden Situation nicht vergleichbar und Langzeitnebenwir-
kungen nicht bekannt seien. Festzuhalten bleibt, dass die Erweiterung der Zulassung von Herceptin für die adjuvante
Therapie jedenfalls beantragt wurde und die Ergebnisse (zu-mindest Zwischenergebnisse) von Phase III – Studien
vorliegen, genannt sei nur die HERA - Studie. Danach liegt die Verringerung des Rezidivrisikos bei ca. 50 %. Eine
Ablehnung der Herceptin – Therapie durch die Antragsgegnerin lediglich mit der Begründung einer fehlenden
Verordnung auf Kassenrezept kann schon im Hinblick auf § 29 BMV – Ä, Ziff. 9 AMR und die Regressgefahr des
behandelnden Arztes nicht überzeugen. Vielmehr ist Hauptgrund für die vorliegende Streitigkeit doch der Zeitpunkt,
wann bei der Antragstellerin die Chemotherapie durchgeführt wurde. Schlüssig und nachvollziehbar legt Herr Dr. T.
zunächst die Voraussetzungen dar, unter denen in Übereinstimmung mit den "großen" Krankenkassen entsprechend
den Studien Herceptin "off – label – use" eingesetzt wird. Demnach müssen vorliegen: der Nachweis von Herceptin –
Rezeptoren im Tumor – Gewebe (hier Her – 2 – Score: 3+), ein fortgeschrittener Fall bzw. ein erhöhtes Risiko für eine
Entwicklung von Metastasen (Lymphknotenbefall, erhöhtes Kerngrading), Zustand nach zuvor erfolgter adjuvanter
Chemotherapie, Alter unter 60 Jahre und Beginn der Her-ceptintherapie spätestens drei Monate nach Ende der
Chemotherapie bzw. nach Ende der Bestrahlung. Diese Voraussetzungen sind den MDK – Gutachten auch teilweise
so zu ent-nehmen. Im Ergebnis war bei der Antragstellerin lediglich die Chemotherapie nicht stu-dienkonform adjuvant
(postoperativ), sondern neoadjuvant (präoperativ, primär) verabfolgt worden, worin Herr Dr. T. und der MDK im
Ergebnis übereinstimmen. Dies allein kann aber letztlich nicht dazu führen, dass der Antragstellerin die Herceptin –
Therapie nicht gewährt wird. Eine adjuvante Behandlungssituation nach Operation (und Bestrahlung) lag auch hier vor.
Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, die die grundrechtlichen
Belange der Antragstellerin umfassend in die Abwägung einbe-zieht, wenn eine vollständige Aufklärung der Sach- und
Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist. In den Beschlüssen vom 12.05.2005 (Az. 1 BVR 469/05) und vom
06.12.2005 (Az. 1 BVR 347/98) steht nach Auffassung des BVerfG die Wahrung der Würde des Men-schen im
Vordergrund. Vor allem unter Berücksichtigung der jüngsten Entscheidung des BVerfG vom 06.12.2005 hat die
Antragstellerin einen Anspruch auf die Herceptin - Thera-pie.
Das BVerfG hat am 06.12.2005 entschieden, dass es mit den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit
dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar ist, einen gesetzlich Krankenversicherten,
dem für seine Beiträge die notwendige Krankheitsbehandlung gesetzlich zugesagt wurde, aber für dessen
lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard ent-
sprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm ge-wählten, ärztlich angewandten
Behandlungsmethode auszuschließen und ihn auf eine Fi-nanzierung der Behandlung außerhalb der gesetzlichen
Krankenversicherung zu verweisen, wenn eine auf Indizien gestützte, nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf
Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Denn der Schutz des Einzelnen
in Fällen von Krankheit ist in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundge-setzes eine Grundaufgabe des Staates.
Dieser ist der Gesetzgeber dadurch nachgekommen, indem er durch Einführung der gesetzlichen
Krankenversicherung als öffentlich - rechtli-cher Pflichtversicherung für den Krankenschutz eines Großteils der
Bevölkerung Sorge getragen und die Art und Weise der Durchführung dieses Schutzes geregelt hat. Mit dieser
Versicherungsform wird auch einkommensschwachen Bevölkerungsteilen ein voller Kran-kenversicherungsschutz zu
moderaten Beiträgen ermöglicht.
Zwar erging diese Entscheidung zur Leistungspflicht der Krankenkasse im Bereich neuer Behandlungs- und
Untersuchungsmethoden. Für den Einsatz von Arzneimitteln über die Zulassung hinaus kann jedoch nichts anderes
gelten, da auch dies keine schulmedizinische Behandlungsmethode darstellt. So hat auch das BSG im Rahmen einer
Revision am 04.04.2006 entschieden, dass die vom BVerfG entwickelten Grundsätze zum Anspruch von Versicherten
auf ärztliche Behandlung mit nicht allgemein anerkannten Methoden sinngemäß auch auf den Bereich der
Arzneimittelversorgung zu übertragen seien, soweit ausfüllungsbedürftige Versorgungslücken bestünden (vgl. BSG,
Urteil vom 04.04.2006, Az. B 1 KR 7/05 R im Terminbericht Nr. 19/06 vom 05.04.2006). Die vom BVerfG aufge-
stellten Kriterien liegen bei der Antragstellerin vor. Es liegt durch die Brustkrebserkran-kung eine lebensbedrohliche
oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vor. Allge-mein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende
Behandlungsmethoden sind aus-geschöpft. Es besteht eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder
wenigs-tens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf durch Verringerung des Rezidivrisikos
um bis zu 50 % gemessen an den vorliegenden Studien. Um die Notwendigkeit der Krankenbehandlung mit einem
nicht in Deutschland zugelasse-nen, aus dem Ausland importierten Arzneimittel über die bisherige BSG –
Rechtsprechung hinaus bejahen zu können, hat das BSG am 04.04.2006 weitere Voraussetzungen aufge-stellt, die
erfüllt sein müssen: Vor der Behandlung muss eine Nutzen- / Risiko- Analyse, allgemein und speziell bezogen auf den
konkreten Versicherten, stattfinden. Die fachärztli-che Behandlung muss den Regeln der ärztlichen Kunst
entsprechend durchgeführt und ausreichend dokumentiert werden. Angesichts zu befürchtender Gefahren und
Nebenwir-kungen ist eine ausdrückliche Zustimmung des Versicherten zur beabsichtigten Behand-lung /
Arzneimittelverabreichung nach entsprechender vorheriger ärztlicher Aufklärung erforderlich (vgl. BSG vom
04.04.2006 a. a. O.). Vorliegend scheinen auch diese Voraus-setzungen erfüllt zu sein. Da die Entscheidung jedoch
relativ neu und noch nicht veröffent-licht ist, konnte diesbezüglich kein Vortrag durch die Antragstellerin erfolgen. Die
Prüfung dieser Voraussetzungen sollte daher der abschließenden Entscheidung im Hauptsachever-fahren vorbehalten
bleiben. Auch dies im vorliegenden Verfahren noch abzuklären, war aufgrund der gebotenen Eile nicht möglich, obwohl
das Kurzgutachten des Herrn Dr. T. schon sehr ausführlich war.
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass, wenngleich die Beachtung des Wirtschaftlich-keitsgebots nach § 12
Abs. 1 SGB V nicht zu beanstanden ist und ein verfassungsrechtli-cher Anspruch auf bestimmte Leistungen der
Krankenbehandlung nicht besteht, das Inte-resse des Einzelnen im Sinne der verfassungsgerichtlichen
Rechtsprechung den Vorrang verdient, wenn im Rahmen der Folgenabwägung das Risiko einer generell
lebensbedrohli-chen Krankheit und die Möglichkeit zur deutlichen Erhöhung der Heilungschancen gegen die rein
finanziellen Interessen der Versichertengemeinschaft abzuwägen sind. Anderen-falls wäre zu befürchten, dass bei
nicht zeitgerechter Aufnahme der Therapie die Heilungs-chancen der Antragstellerin ganz erheblich beeinträchtigt
werden. Dagegen kann die An-tragsgegnerin nicht mit Aussicht auf Erfolg einwenden, die mit der Verabreichung von
Herceptin verbundenen Risiken sprechen entscheidend gegen den Einsatz dieses Mittels zu Lasten der gesetzlichen
Krankenversicherung. Zwar ist einzuräumen, dass die Langzeit-wirkungen des Medikaments noch nicht ausreichend
bewertet werden können, andererseits lässt das im Verhältnis zu anderen Brustkrebspatientinnen besonders hohe
Risiko der An-tragstellerin nicht die Möglichkeit offen, auf weitere Erkenntnisse zu warten. Die während der
Behandlung mit Herceptin nicht regelmäßig, aber in verschiedenen Fällen auftretenden Folgen für die
Herzleistungsfähigkeit lassen sich grundsätzlich durch engmaschige inter-nistisch - kardiologische Mitbetreuung
minimieren, im schlimmsten Fall ist es möglich, das Medikament ärztlicherseits abzusetzen.
Einen Anordnungsgrund hat die Antragstellerin glaubhaft gemacht. Eilbedürftigkeit ist angesichts des Krankheitsbildes
gegeben, da längeres oder gar mehrjähriges Abwarten bis zu einer Hauptsacheentscheidung das Risiko der
bestehenden Krebserkrankung oder die Möglichkeit einer Neuerkrankung an anderen Organen bis hin zur
Lebensgefährdung stei-gern, mithin wesentliche Nachteile für die Gesundheit mit sich bringen könnte. Zudem musste
– entsprechend den vorliegenden Studien - spätestens drei Monate nach Ende der Bestrahlungstherapie mit der
ersten Herceptingabe begonnen werden, wie sich aus dem Gutachten des Herrn Dr. T. nachvollziehbar ergibt. Auf die
wirtschaftlichen Verhältnisse der Antragstellerin kommt es im Rahmen des Anordnungsgrundes nicht an, wenn man
die Rechtsprechung des BSG und BVerfG zugrunde legt.
Hinsichtlich der begehrten Kostenerstattung für die vergangenen Behandlungen fehlt es allerdings an einem
Anordnungsgrund. Hier liegt keine Eilbedürftigkeit vor. Die Hauptsa-cheentscheidung kann abgewartet werden.
Wesentliche Nachteile sind nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG entsprechend. Die völlige Kostentragungs-pflicht der Antragsgegnerin
beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO in Verbindung mit § 202 SGG. Die
Antragstellerin begehrte mit dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung zwar auch die Erstattung der schon
entstandenen Kos-ten für die Herceptingabe am 10.02.2006, wofür ein Anordnungsgrund fehlt. Diese Zuviel-forderung
war aber in Anbetracht dessen, dass es sich um eine einjährige Therapie mit dreiwöchentlicher Herceptingabe handelt,
verhältnismäßig geringfügig und hat keine bzw. nur geringfügig höhere Kosten veranlasst. Der Regelungsinhalt des §
92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ist dem Sozialrecht auch nicht fremd, da gemäß § 197 a Abs. 1 Satz 1 2. Hs. § 155 Abs. 1 Satz
3 VwGO entsprechende Anwendung findet, der dem § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ähnelt.