Urteil des SozG Chemnitz vom 13.10.2005

SozG Chemnitz: gesetzliche vermutung, verschlechterung des gesundheitszustandes, nichteheliche lebensgemeinschaft, heirat, witwenrente, hinterbliebenenrente, tod, versorgung, urlaub, anfang

Sozialgericht Chemnitz
Urteil vom 13.10.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Chemnitz S 14 KN 129/03
Tatbestand:
Streitgegenständlich ist die Gewährung einer Witwenrente.
Die am ... 1943 geborene Klägerin begehrt die Zahlung einer Hinterbliebenenrente aus der Versicherung des am ...
2002 verstorbenen H.B ... Die Ehe mit dem am ... 1934 geborenen Versicherten wurde am 10. Januar 2002
geschlossen.
Mit Antrag vom 18. Februar 2002 beantragte die Klägerin Versichertensterbegeld und mit weiterem Antrag vom 1.
März 2003 die Zahlung einer Witwenrente nach § 46 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI). Das so genannte
Sterbegeld wurde in Höhe von 2.136,78 EUR gewährt. Den Antrag auf Witwenrente wies die Beklagte mit Bescheid
vom 17. Mai 2002 unter Hinweis auf § 46 Abs. 2a SGB VI zurück. Die am 10. Januar 2002 geschlossene Ehe habe
nicht mindestens ein Jahr bestanden, es lägen auch keine Gründe für die Widerlegung der Annahme einer
Versorgungsehe vor.
Im Widerspruch vom 17. Juni 2002 führte die Klägerin aus, dass sie seit elf Jahren in eheähnlicher Gemeinschaft mit
dem Verstorbenen gelebt habe, wobei die Lebenserhaltungskosten gemeinsam getragen worden seien. Daneben sei
zum Termin der Eheschließung am 10. Januar 2002 für keinen der Ehegatten abzusehen gewesen, dass der
Versicherte nur noch bis zum 17. Februar 2002 leben werde. Beide seien vielmehr der Auffassung gewesen, dass die
Ehe noch viele Jahre Bestand haben werde.
Mit Widerspruchsbescheid vom 30. Januar 2003 wies die Beklagte den Widerspruch unter Verweis auf die bereits im
Ablehnungsbescheid genannten Gründe zurück, das unter Vorbehalt gewährte Sterbegeld in Höhe von 2.136,78 EUR
wurde zurück gefordert.
Mit ihrer am 3. März 2003 beim Sozialgericht erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Zur
Begründung führt sie ergänzend aus, dass ihr keineswegs zum Zeitpunkt der Eheschließung am 10. Januar 2002
bewusst gewesen sei, dass der Versicherte bereits Mitte Februar versterben würde. Im Oktober 2001 hätten sie noch
einen gemeinsamen Urlaub in der Schweiz verbracht. Ihr sei zwar bekannt gewesen, dass ihr verstorbener Gatte
wegen einer Krebserkrankung im Krankenhaus Aue untersucht worden sei, eine Diagnose sei ihr jedoch nicht
mitgeteilt worden. Schließlich habe man nach der Entlassung des Versicherten aus dem Krankenhaus am 13.
Dezember 2001 gemeinsam Weihnachten und Silvester gefeiert, der Versicherte sei auch mit dem Auto gefahren.
Zwar habe die Hochzeit zu Hause stattgefunden, der Versicherte sei jedoch nicht bettlegerisch gewesen. Es habe
sich um eine ganz normale Hochzeit gehandelt. Eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Versicherten
sei erst Mitte Januar 2002 eingetreten. Sie habe nicht mit einem baldigen Ableben gerechnet. Darüber hinaus trägt die
Klägerin unter Vorlage einer Buchungsbestätigung vor, dass ein gemeinsamer Urlaub der Eheleute für September
2002 geplant gewesen sei.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 17. Mai 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.
Januar 2003 zu verurteilen, ihr Hinterbliebenenrente nach den gesetzlichen Vorschriften zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist sie wiederum auf die nach ihrer Auffassung nach nicht widerlegte Vermutung einer
Versorgungsehe nach § 46 Abs. 2a SGB VI.
Das Gericht hat bei der Deutschen Rentenversicherung Bund eine Auskunft über die zu erwartenden
Rentenanwartschaften der Klägerin eingeholt und den behandelnden Hausarzt des verstorbenen Gatten der Klägerin,
Herrn Dipl.-Med. R. als sachverständigen Zeugen vernommen.
Die Verwaltungsakten der Beklagten wurden beigezogen. Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand
wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
I.
Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 17. Mai 2002 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 2003 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin
hat gegenüber der Beklagten nach § 46 Abs. 1 SGB VI Anspruch auf Zahlung einer Witwenrente nach dem Tod des
versicherten Ehegatten.
Nach Überzeugung der Kammer liegt der Ausschlussgrund der Versorgungsehe nach dem zum 1. Januar 2002 in
Kraft getretenen § 46 Abs. 2a des SGB VI nicht vor. Nach dieser Vorschrift haben Witwen oder Witwer keinen
Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente, wenn die Ehe nicht mindestens ein Jahr bestanden hat, es sei denn, dass
nach den besonderen Umständen des Falls die Annahme nicht gerechtfertigt ist, dass es der alleinige oder
überwiegende Zweck der Heirat war, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen. Die vom
Gesetzgeber vermutete Versorgungsabsicht kann durch objektive Umstände dahingehend widerlegt werden, dass bei
Gesamtabwägung aller Umstände der Versorgungszweck nicht ausschließliches oder überwiegendes Motiv für die
Eheschließung war.
An einer solchen ausschließlichen oder überwiegenden Versorgungsabsicht fehlt es nach Überzeugung der Kammer
aufgrund folgender Erwägungen:
1. Die langjährige Beziehung der Klägerin mit dem Verstorbenen steht einem alleinigen oder überwiegenden
Versorgungsgedanken entgegen.
Die seit elf Jahren bestehende nichteheliche Lebensgemeinschaft belegt, dass die Partner eine eigenverantwortliche
Beziehung aufgebaut haben, die gerade nicht auf gegenseitige Versorgungsansprüche ausgerichtet war. So ist die im
Jahre 1943 geborene Klägerin nach wie vor berufstätig und erzielt ein monatliches Bruttoentgelt von ca. 1500,- EUR,
während der verstorbene Versicherte bereits seit Mitte der 90er Jahre im Altersrentenbezug war. Eine solche
eigenständig ausgerichtete Versorgungspraxis erschüttert die vom Gesetzgeber aufgestellte Vermutung, der alleinige
oder überwiegende Zweck der Heirat liege in der Versorgung.
Das Gericht verkennt dabei keineswegs, dass aufgrund des nahen zeitlichen Zusammenhanges zwischen der Heirat
und dem Tod eines Ehegatten der Eindruck entstehen kann, die zusätzliche Zahlung einer Hinterbliebenenrente habe
eine Rolle für den Entschluss zur Heirat gespielt.
Aber selbst bei unterstellter Richtigkeit dieser Annahme wird die gesetzliche Vermutung dadurch keineswegs
bestätigt. Die Vorschrift schließt einen Anspruch nach ihrem Wortlaut nämlich nicht bereits dann aus, wenn der
Versorgungsgedanke oder zumindest die Aussicht für den überlebenden Teil, zusätzliche Mittel zum Lebensunterhalt
zur Verfügung zu haben im Mitbewusstsein eines oder beider Ehegatten vorhanden war. Der ausschließliche oder
überwiegende Versorgungszweck erfordert mehr als einen bloßen Vermögensvorteil. Eine eigene Versorgung liegt erst
dann vor, wenn der überlebende Teil im wesentlichen auf die Hinterbliebenenzahlung zur Bestreitung seines
Lebensunterhalts angewiesen wäre.
Im Ergebnis geht das Gericht daher davon aus, dass eine bestehende elfjährige Lebensgemeinschaft mit eigener
wirtschaftlicher Absicherung vor der Eheschließung nicht alleinig den gesetzlich vermuteten Versorgungscharakter
widerlegen kann, aber ein in die Gesamtabwägung gegen diese Vermutung einzubeziehender Umstand ist, sofern die
Beteiligten ihre Lebensführung finanziell erkennbar eigenständig ausgestaltet haben.
2. Ein weiterer zu berücksichtigender Faktor ist die Tatsache, dass die Klägerin im Zeitraum Ende Dezember 2001 bis
Mitte Januar 2002 nach ihrer überzeugenden Darstellung und dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht mit einem
plötzlichen Tod des Versicherten rechnete.
a) Zwar waren der Klägerin die Umstände des stationären Aufenthaltes bekannt, sie hat jedoch nachvollziehbar
dargelegt, dass sie bis zur erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Versicherten Ende
Januar/Anfang Februar 2002 nicht mit einem baldigen Ableben gerechnet hat. Anhand der objektiven Umstände und
der Einvernahme des sachverständigen Zeugen scheint dies für die Kammer auch glaubhaft. So hat die Klägerin
dargelegt, dass noch im Oktober 2001 ein gemeinsamer Urlaub in der Schweiz verbracht wurde und der Kläger nach
Entlassung aus dem Klinikum Aue mit ihr ein ganz normales Weihnachtsfest gefeiert habe und auch mit dem PKW
gefahren sei.
Der behandelnde Hausarzt des Verstorbenen, Herr Dipl.-Med. R. hat weiter angegeben, dass er weder den
Verstorbenen noch die Klägerin auf ein alsbaldiges Ableben hingewiesen habe. Er hat hierzu nachvollziehbar
ausgeführt, dass er seine Aufgabe als Arzt darin sehe, die verbleibende Zeit seines Patienten schmerzfrei und so
angenehm wie möglich zu gestalten. Der sachverständige Zeuge erklärte weiter, dass der verstorbene Versicherte
ausweislich des ihm vorliegenden Entlassungsberichtes bei subjektivem Wohlbefinden aus dem Krankenhaus
entlassen wurde. Ob der Versicherte dort über seine Lebenserwartung aufgeklärt wurde, könne er nicht sagen. Die
Aussage des sachverständigen Zeugen deckt sich in sofern auch mit den Angaben der Klägerin, die im Termin zur
mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, dass beide Ehegatten nichts vom baldigen des Versicherten in ihr
Bewusstsein aufgenommen haben.
b) Nach Auffassung der Kammer wäre es hier auch denkbar, dass sich die Klägerin und/oder ihr verstorbener Gatte
einem möglichen Tod bewusst verschlossen haben. Der sachverständige Zeuge führte hierzu aus, dass er es in
seiner Zeit als Arzt durchaus häufig erlebe, dass der Erkrankte und die nahen Angehörigen sichere Krankheitszeichen
verdrängen und weiterhin bis zuletzt an eine Genesung glauben.
c) Daneben wäre selbst positive Kenntnis von der schweren Erkrankung nicht ausreichend, um die Vermutung einer
Versorgungsehe unwiderlegbar zu verhindern. Ausschlaggebend ist insoweit nicht in jedem Falle wie schwer der
Versicherte zum Zeitpunkt der Eheschließung erkrankt war, denn nicht in allen derartigen Fällen muss der
Versorgungszweck alleiniger oder überwiegender Zweck der Heirat gewesen sein. Auch in diesen Fällen können
andere Beweggründe für die Heirat im Vordergrund stehen (vgl. hierzu VwGH Baden-Württemberg, Beschluss v. 10.
Februar 2003, Az: 4 S 2782/02 für die entsprechende beamtenrechtliche Regelung des § 19 Abs. 1
Besamtenversorgungsgesetz).
3. Dass die Ehegatten noch im Dezember 2001 nicht von einem kurzfristigen tödlichen Verlauf der Erkrankung
ausgingen, bestätig auch die von der Klägerin vorgelegte Buchungsbestätigung für einen gemeinsamen Urlaub im
September 2002 (Blatt 37 der Akte). Schließlich führte der sachverständige Zeuge auch hinsichtlich einer Prognose
zum Versterbenszeitpunkt aus, dass er erst ab Ende Januar/Anfang Februar durch die auftretenden
Wasseransammlungen in den Beinen und die Gelbverfärbung den baldigen Tod hätte erkennen können. Anfang Januar
2002 wäre demgegenüber nur eine Prognose zur voraussichtlichen Dauer möglichen gewesen, da es auch Menschen
gibt, die sich zwischenzeitlich wieder stabilisieren.
4. Schließlich spricht auch die Tatsache einer ausreichenden eigenen Versorgung der Klägerin im vorliegenden Fall
gegen die Vermutung einer Versorgungsehe. Zwar ist eine ausreichende eigene Versorgung nicht per se geeignet, die
gesetzliche Vermutung der Versorgungsehe zu widerlegen, sie ist jedoch ebenso wie die bereits oben genannten
Umstände nach Auffassung des Gerichts ein wichtiges Indiz für die Widerlegbarkeit der Vermutung (vgl. hierzu SG
Würzburg, Urteil vom 15. September 2004, S 8 RJ 697/02; SG Koblenz, Urteil vom 14. September 2005, S 6 KNR
16/05, beide veröffentlicht in Juris). Nach Auskunft des für die Klägerin zuständigen Rentenversicherungsträgers hat
diese nach dem Stand Juli 2005 eine eigene Anwartschaft auf Altersrente nach Vollendung des 65. Lebensjahres in
Höhe von 838,72 EUR. Die zuletzt vom verstorbenen Versicherten bezogene Altersrente hatte einen Zahlbetrag von
1068,39 EUR, mithin ist der zu erwartende Witwenrentenanspruch auch unter Berücksichtigung von
Anrechnungsvorschriften wesentlich geringer als die eigene erarbeitete Altersversorgungsleistung. Mit anderen Worten
ist die Klägerin finanziell auf den Hinterbliebenenanspruch durch eine eigene Versorgung nicht angewiesen, die sich
aus dem Anspruch auf Hinterbliebenenrente ergebenden zusätzlichen Einkünfte sind nicht so hoch, dass der
ausschließliche oder überwiegende Zweck der Heirat darin lag, diese Einkünfte zu vereinnahmen.
Die sonstigen Voraussetzungen des § 46 SGB VI liegen vor und stehen zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit,
so dass weitere Ausführungen hiezu entbehrlich sind.
5. Im Ergebnis der vorzunehmenden Gesamtabwägung ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass die
gesetzliche Vermutung einer ausschließlich oder überwiegend aus Versorgungsgründen geschlossenen Ehe in der
Zusammenschau aller objektiv feststellbaren Umstände wiederlegt ist und die Ehe der Klägerin ihrem Wesen nach auf
Dauer geschlossen wurde. Dies folgt zwar nicht schon aus den für sich allein betrachtet möglicherweise nicht
ausreichenden Faktoren. In der Gesamtschau mag es auch durchaus auch sein, dass die Ehegatten oder auch nur
ein Ehegatte ein zusätzliches Einkommen für den überlebenden Teil in seine Motivation zur Eheschließung
mitaufgenommen hatte, ein solches Mitbewusstein eines oder beider Ehegatten steht der Widerlegbarkeit der
Vermutung aber nicht entgegen.
Die angefochtenen Bescheide der Beklagten waren daher aufzuheben. Mit dem Anspruch auf Witwenrente entfällt
auch die Verpflichtung der Klägerin, den als Vorschuss gezahlten Betrag von 2.136,78 EUR für das so genannte
Sterbevierteljahr an die Beklagte zurück zu zahlen.
II.
Die Kostenentscheidung folgt der Entscheidung zur Hauptsache, § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Zulässigkeit
der Berufung ergibt sich aus den §§ 143, 144 Abs. 1 SGG.