Urteil des SozG Bremen vom 18.11.2009

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Sozialgericht Bremen
Beschluss vom 18.11.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Bremen S 26 AS 1898/09 ER
I. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu
erstatten. II. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwältin G. für das
Antragsver-fahren wird abgelehnt.
Gründe:
I. Der am 24.11.1971 geborene erwerbsfähige Antragsteller beansprucht von der Antragsgeg-nerin laufende Leistungen
zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II). Die Antragsgegnerin
lehnt dies bislang aufgrund übersteigenden Vermögens ab.
Am 09.04.2009 beantragte er - soweit ersichtlich erstmals - bei der Antragsgegnerin wohl nach einem
Auslandsaufenthalt Arbeitslosengeld II. Mit Schreiben vom selben Tag forderte die Antragsgegnerin beim Antragsteller
weitere Unterlagen, einzureichen bis spätestens 10.05.2009, nach.
Am 08.05.2009 sprach der Antragsteller bei der Antragsgegnerin vor und bat um Erläuterung des
Mitwirkungsschreibens. Ein Termin konnte ihm erst für den 19.05.2009 gegeben werden. Aus diesem Grund bat der
Antragsteller um Verlängerung der Frist zur Mitwirkung bis zum 19.05.2009.
Gleichwohl versagte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 11.05.2009 Leistungen ab An-tragstellung ganz, weil
notwendige Unterlagen nicht vorgelegt worden seien.
Ausweislich der bei der Antragsgegnerin eingereichten Vermögensnachweise verfügt der An-tragsteller neben Bargeld
in geringer Höhe noch über
1. eine beitragsfrei gestellte fondsgebundene Lebensversicherung (Nr. 767311) bei der OB., die bereits ursprünglich
einem Verwertungsverbot unterlag. Versicherungsschutz besteht ab Beitragsfreiheit nur noch in Höhe einer
beitragsfreien Todesfallleistung. 2. Vermögenswirksame Leistungen in Gestalt eines X.-Fonds (Depotnummer AXX).
Der Gesamtwert zum 06.05.2009 betrug 7.562,88 Euro.
Mit Bescheid vom 23.06.2009 lehnte die Antragsgegnerin die Gewährung von Leistungen aufgrund fehlender
Hilfebedürftigkeit ab. Gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 1 SGB II bestehe lediglich ein Grundfreibetrag in Höhe von 5.550,00
Euro (37 Jahre x 150,00 Euro) zuzüglich eines Freibetrages in Höhe von 750,00 Euro nach § 12 Abs. 2 Nr. 4 SGB II.
Die Vermögenswirksa-men Leistungen in Höhe von 7.562,88 Euro überstiegen demnach den Gesamtfreibetrag in
Höhe von 6.300,00 Euro. Von dem übersteigenden Vermögen könne er 95 Tage seinen Be-darf decken.
Mit Schreiben vom 14.09.2009 beantragte der inzwischen anwaltlich vertretene Antragsteller die Überprüfung der
Bescheide vom 11.05.2009 und vom 24.06.2009 sowie zugleich die Ge-währung von Leistungen rückwirkend zum
09.04.2009. Der Verwertung der vermögenswirk-samen Leistungen stünde § 12 Abs. 3 Nr. 6 SGB II entgegen. Die
Verwertung zum jetzigen Zeitpunkt sei offensichtlich unwirtschaftlich. Der Investmentfonds habe im Verlauf eines
Jah-res seinen Verkehrswert um fast 50 % reduziert (von 13.044,95 Euro zum 07.12.2007 auf 7.270,12 Euro zum
12.12.2008). Zum 13.10.2009 habe der Gegenwert des Investmentkontos 9.526,78 Euro betragen.
Mit Bescheiden vom 23.09.2009 teilte die Antragsgegnerin mit, dass die ursprünglichen Be-scheide rechtmäßig seien.
Mit Schreiben vom 29.09.2009 legte der Antragsteller hiergegen Widerspruch ein.
Am 12.10.2009 hat er zudem den vorliegenden Eilantrag gestellt. Es liege faktische Woh-nungslosigkeit vor. Derzeit
würde er noch bei seiner Mutter wohnen, da er ohne Leistungszu-sage durch die Antragsgegnerin keine Wohnung
anmieten könne. Auch sei er nicht kranken-versichert. Er wolle eine Verwertung des Investmentfond unbedingt
verhindern, denn die Leis-tungen dienten als Rücklage für die Altersvorsorge. Der Vertrag bestehe seit 1992.
Er beantragt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewäh-ren.
Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag abzulehnen.
Sie bezweifelt bereits das Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses, weil der Antragsteller es - nach Verwertung
seiner vermögenswirksamen Leistungen - durch erneute Antragstellung selber in der Hand habe, sich zu helfen. Im
Übrigen fehlte am Vorliegen eines Anordnungs-grundes. Der Eilantrag sei nach Ablauf des eigentlich vorgesehen
Bewilligungszeitraums ge-stellt.
Das Gericht hat die Leistungsakte der Antragsgegnerin beigezogen. Wegen der weiteren Ein-zelheiten wird auf deren
Inhalt und den Inhalt der Gerichtsakte, insbesondere im Hinblick auf die beiden gerichtlichen Hinweisschreiben vom
04.11.2009 und vom 11.11.2009, verwiesen.
II. Der nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Antrag auf Erlass einer einst-weiligen Anordnung ist
zulässig, aber unbegründet.
Soweit die Antragsgegnerin den Antrag bereits wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses für unzulässig hält, folgt
dem das Gericht nicht. Auf die Ausführungen im gerichtlichen Hin-weisschreiben vom 04.11.2009 wird insoweit
verwiesen.
Voraussetzung für den Erlass der begehrten Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG ist neben einer
besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung (Anordnungsgrund) ein An-spruch des Antragstellers auf die begehrte
Regelung (Anordnungsanspruch). Anordnungs-grund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs.
2 Satz 3 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung -ZPO-).
Nach der im Eilverfahren nur möglichen vorläufigen Einschätzung besteht zurzeit kein Leis-tungsanspruch des
Antragstellers nach § 19 Satz 1 SGB II, weil der Antragsteller nach § 9 Abs. 1 Nr. 2 SGB II nicht hilfebedürftig ist.
Denn hilfebedürftig ist nach dieser Vorschrift nur, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus
eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern und
die er-forderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen
erhält.
Ob der Antragsteller bereits deshalb nicht hilfebedürftig ist, weil er gemäß § 9 Abs. 5 SGB II von seiner Mutter
unterstützt wird, kann an dieser Stelle dahinstehen. Insoweit fehlt es an An-gaben des Antragstellers.
Jedenfalls aber schließt das zu berücksichtigende Vermögen Hilfebedürftigkeit aus. Die An-tragsgegnerin hat den
Vermögensfreibetrag gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 4 SGB II zutreffend mit 6.300,00 Euro berechnet. Dem
steht zurzeit (vgl. § 12 Abs. 4 Satz 2 und 3 SGB II) gegenüber ein Vermögen in Form des Investmentfonds in Höhe
von 9.434,74 Euro (110,8926 Anteile x einem Anteilspreis von heute in Höhe von 85,08 Euro; abrufbar unter
www.xxxxxx.de). Solange der Antragsteller den übersteigenden Betrag von derzeit 3.134,74 Euro (abzüglich
eventueller Verkaufsgebühren) nicht für seinen Lebensunterhalt eingesetzt hat, steht dies seiner Hilfebedürftigkeit
dauerhaft entgegen. Darauf hinzuweisen ist, dass es - entgegen der Ausführungen der Prozessbevollmächtigten des
Antragstellers zuletzt im Schriftsatz vom 16.11.2009, in denen nach einer gerichtlichen Nachfrage der Investa-Fonds
und die Versicherung bei der OB. vermischt werden - alleine um den Fonds bei der X. geht. Es ist nicht ersichtlich,
wie die Versicherung bei der OB. für den Lebensunterhalt eingesetzt werden könnte. Dies wird auch von der
Antragsgegnerin nicht behauptet.
Soweit der Antragsteller der Ansicht ist, der Verkauf des Fonds sei offensichtlich unwirtschaft-lich, überzeugt dies das
Gericht nicht. Nach § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 SGB II sind Sachen oder Rechte nicht als Vermögen zu berücksichtigen,
soweit ihre Verwertung offensichtlich unwirt-schaftlich ist oder für den Betroffenen eine besondere Härte bedeuten
würde.
Eine offensichtliche Unwirtschaftlichkeit liegt dann vor, wenn der zu erzielende Gegenwert in einem deutlichen
Missverhältnis zum wirklichen Wert des zu verwertenden Vermögensge-genstandes steht (vgl. BSG, Urteil vom
15.04.2008 - B 14 AS 27/07 R - unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung zur Arbeitslosenhilfe: BSG, Urteil vom
17.10.1990 - 11 RAr 133/88 -, Urteil vom 25.04.2002 - B 11 AL 69/01 R -). Umgekehrt ist offensichtliche
Unwirtschaftlichkeit der Vermögensverwertung nicht gegeben, wenn das Ergebnis der Verwertung vom wirklichen Wert
nur geringfügig abweicht (vgl. BSG, Urteil vom 15.04.2008 - B 14 AS 27/07 R -). Hin-sichtlich der Wirtschaftlichkeit
der Verwertung ist auf das ökonomische Kalkül eines rational handelnden Marktteilnehmers abzustellen. Dafür ist ein
Vergleich zwischen Verkehrswert und Substanzwert vorzunehmen (vgl. BSG, a. a. O.). Dabei ist der Substanzwert
grundsätzlich zunächst der Wert der eingezahlten Beträge (vgl. BSG, Urteil vom 15.04.2008 - B 14 AS 27/07 -).
Der Substanzwert konnte im Eilverfahren nicht abschließend geklärt werden. Auch nach ge-richtlicher Nachfrage hat
der Antragsteller lediglich erklärt, seit dem 01.04.1992 einen Betrag in Höhe von monatlich 78,00 Euro eingezahlt zu
haben. Nach dem vorgelegten (und nicht unterschriebenen) Vertrag mit der X. (Blatt 26 der Gerichtsakte) handelte es
sich aber um 78,00 DM. Ob der Antragsteller diesen Betrag durchgehend bezahlt hat, ist dem Gericht nicht bekannt.
In diesem Fall hätte der Antragsteller inzwischen um die 16.500,00 DM (= 8.436,32 Euro) eingezahlt. Damit hätte er
zum jetzigen Verkehrswert immer noch Gewinn gemacht. Zu berücksichtigen war aber auch, dass die Bescheinigung
der X. vom 13.10.2009 lediglich einen "kumuliert eingezahlten Betrag" in Höhe von 5.253,11 Euro ausweist. Zudem
ergab sich aus dem vorgelegten Vertrag, dass der Einzahlungszeitraum lediglich sechs Jahre beträgt. Dass der Wert
des in der Risikoklasse 3 (von höchstens 4) eingestuften Investmentfonds 2007 noch einmal deutlich höher war, ist
dagegen nicht weiter von Belang. Denn es ist nicht Aufgabe der Grundsicherung für Arbeitssuchende, einen Gewinn
"zu retten". Die Härteklausel des § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 SGB II dient vielmehr alleine dem Zweck, Antragsteller vor
übermäßigen Verlusten zu schützen. Dafür ist nichts dargelegt. Es ist auch sonst nichts ersichtlich.
Zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass die Verwertung des Investmentfonds auch keine beson-dere Härte für den
Antragsteller bedeutet. Wann von einer "besonderen Härte" im Sinne des § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 SGB II auszugehen
ist, richtet sich nach den Umständen des Einzel-falles, wobei maßgebend nur außergewöhnliche Umstände sein
können, die nicht durch die ausdrücklichen Freistellungen über das Schonvermögen (§ 12 Abs. 3 Satz 1 SGB II, § 7
Abs. 1 Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung) und die Absetzungsbeträge nach § 12 Abs. 2 SGB II erfasst
werden (vgl. BSG, Urteil vom 16.05.2007 - B 11b AS 37/06 R -). Nach den Ge-setzesmaterialien kommt eine
besondere Härte zum Beispiel in Betracht, "wenn ein erwerbes-fähiger Hilfsbedürftiger kurz vor dem Rentenalter seine
Ersparnisse für die Altersvorsorge einsetzen müsste, obwohl seine Rentenversicherung Lücken wegen selbständiger
Tätigkeit aufweist" (vgl. BT-Drucks. 15/1749 S. 32, in Bezug genommen in: BSG, Urteil vom 16.05.2007 - B 11b AS
37/06 R und Urteil vom 14.05.2008 - B 14 AS 27/07 R -). Erforderlich sind danach außergewöhnliche Umstände, die
dem Betroffenen ein deutlich größeres Opfer abverlangen als eine einfache Härte und erst recht als die mit der
Vermögensverwertung stets verbundenen Einschnitte (vgl. BSG, Urteil vom 14.05.2008 - B 14 AS 27/07 R -). Dass im
Fal-le des Antragstellers solche außergewöhnliche Umstände vorliegen, hat er nicht dargelegt. Es ist auch sonst nicht
ersichtlich. Soweit sich der Antragsteller darauf beruft, der Fonds diene als Rücklage für die Altersvorsorge, reicht
dies nicht aus. Denn insoweit ist zu berücksichtigen, dass gerade der Bereich der Altersvorsorge in § 12 Abs. 2 Satz
1 Nr. 2, 3, Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB II bereits umfassend geregelt wurde.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
II. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwältin G. für das
Antragsverfahren wird abgelehnt, da die Voraussetzungen für die Gewährung nicht vorliegen. Das Verfahren hat keine
hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 114 Satz 1 ZPO).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde statthaft. Sie ist binnen eines Monats nach Zustellung beim
Sozialgericht Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen, schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten
der Geschäftsstelle einzulegen.
Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist bei dem Landessozial-gericht
Niedersachsen-Bremen, Georg-Wilhelm-Straße 1, 29223 Celle oder der Zweigstelle des Lan-dessozialgerichts
Niedersachsen-Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten
der Geschäftsstelle eingelegt wird.
gez. Dr. Harich Richter