Urteil des SozG Bremen vom 05.02.2009

SozG Bremen: getrennt lebender ehemann, pflege, niedersachsen, hauptsache, drucksache, gesetzgebungsverfahren, ernährung, anstalt, unterrichtung, schwellenwert

Sozialgericht Bremen
Beschluss vom 05.02.2009 (rechtskräftig)
Sozialgericht Bremen S 23 AS 153/09 ER
Die Antragsgegnerin wird im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflich-tet, der Antragstellerin zu 1) einen
Mehrbedarf wegen Alleinerziehung in der Zeit vom 23. Januar 2009 bis zum 31. Mai 2009 zu gewähren. Die
Leistungsgewährung erfolgt vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückfor-derung. Die Antragsgegnerin trägt die
notwendigen außergerichtlichen Kosten der An-tragsteller.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes um die Gewährung des Mehrbedarfs für
Alleinerziehende gem. § 21 Abs. 3 Nr. 1 SGB II, wobei alleine streitig ist, ob die Antragstellerin zu 1) allein für die
Pflege und Erziehung des Antragstellers zu 2) sorgt.
Die 1974 geborene Antragstellerin zu 1) ist die Mutter des 2007 geborenen Antragstellers zu 2). Bis Anfang November
2008 hatten beide mit dem Ehemann der Antragstellerin zu 1), dem Vater des Antragstellers zu 2) zusammen gelebt.
Nach der Trennung der Ehepartner zog die Antragstellerin zu 1) mit dem Antragsteller zu 2) am 3. November 2008 in
eine eigene Woh-nung und beantragte bei der Antragsgegnerin Leistungen nach dem SGB II.
Die Antragsgegnerin bewilligte den Antragstellern Leistungen zum Lebensunterhalt, aber kei-nen Mehrbedarf wegen
Alleinerziehung. Gegen den entsprechenden Bescheid vom 12. De-zember 2008 erhob die Antragstellerin zu 1) am 14.
Januar 2009 Widerspruch, zu dessen Begründung sie ausführte, ihr getrennt lebender Ehemann sei freiberuflich tätig
und betreue das Kind – den Antragsteller zu 2) - höchstens zwei Tage die Woche. Dies stehe nach der
Rechtsprechung des Sozialgerichts Oldenburg (Az. S 45 AS 1800/06 ER) der Gewährung des Mehrbedarfs nicht
entgegen. Die Gewährung scheide nur dann aus, wenn zwei Personen zu gleichen Teilen mit der Erziehung und
Pflege des Kindes betraut sind. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 20. Januar 2009
zurückgewiesen. Zur Begründung führte die Antragsgegnerin – ohne im Einzelnen auf die von der Antragstellerin zu 1)
zitierte Rechtspre-chung einzugehen - aus, der Ehemann der Antragsstellerin zu 1) betreue den Antragsteller zu 2) an
zwei Tagen in der Woche. Damit sei die Antragstellerin zu 1) nicht allein erziehend.
Hiergegen haben die Antragsteller am 23. Januar 2009 Klage erhoben und zugleich das Ge-richt um die Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes ersucht. Zur Begründung wiederholen sie das Vorbringen aus dem
Widerspruchsverfahren. Sie berufen sich auf die Rechtsprechung des Sozialgerichts Lüneburg (Az. S 24 AS 82/07)
sowie die Rechtsprechung des Oberverwal-tungsgerichts Lüneburg (FEVS 48, 24).
Die Antragsgegnerin ist dem Eilantrag entgegengetreten. Sie beruft sich zur Begründung auf den
Widerspruchsbescheid vom 20. Januar 2009.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und auf die Ver-waltungsakte der
Antragsgegnerin Bezug genommen.
II.
Der gem. § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Antrag auf einstweilige Anord-nung ist zulässig und
begründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige
Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn
eine solche Regelung zur Abwendung we-sentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Die Gewährung
einstweiligen Rechtsschutzes setzt einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund voraus (vgl. Meyer-
Ladewig, SGG, 7. Auflage 2002, § 86b Rn. 27, 29). Ein materieller Anspruch ist im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren nur einer summarischen Überprüfung zu unterziehen; hierbei muss der Antragsteller glaubhaft
machen, dass ihm aus dem Rechtsverhältnis ein Recht zusteht, für das wesentliche Gefahren drohen (Meyer-
Ladewig, aaO, Rn. 29, 36). Der Anordnungsgrund setzt Eilbedürftigkeit voraus, dass heißt, es müssen erhebliche
belastende Auswirkungen des Verwaltungshandelns schlüssig dargelegt und glaubhaft gemacht werden. Dabei muss
die Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheinen, § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG. Dies bedeutet
zugleich, dass nicht alle Nachteile zur Geltendmachung vorläufigen Rechtsschutzes berechtigen. Bestimmte
Nachteile müssen hingenommen werden (Binder in Hk-SGG, 2003, § 86 b Rn. 33). Es kommt damit darauf an, ob ein
Abwarten bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache hingenommen werden kann. Ob dies der Fall ist, be-misst sich
an den Interessen der Antragssteller und der öffentlichen sowie gegebenenfalls weiterer beteiligter Dritter. Dabei
reichen auch wirtschaftliche Interessen aus (vgl. Binder, a.a.O.).
1. Es liegt ein Anordnungsanspruch vor. Die Antragstellerin zu 1) hat nach summarischer Prü-fung der Sach- und
Rechtslage Anspruch auf die Gewährung des Alleinerziehendenmehrbe-darfs gem. § 21 Abs. 3 Nr. 1 SGB II. Diese
Vorschrift bestimmt, dass für Personen, die mit einem oder mehreren minderjährigen Kindern zusammen leben und
allein für deren Pflege und Erziehung sorgen, ein Mehrbedarf in Höhe von 36 vom Hundert der Regelleistung anzu-
erkennen ist, wenn sie mit einem Kind unter sieben Jahren oder mit zwei Kindern unter sech-zehn Jahren zusammen
leben.
Diese Voraussetzungen sind erfüllt.
a) Die Antragstellerin zu 1) lebt mit dem Antragssteller zu 2) – einem minderjährigen Kind un-ter sieben Jahren –
zusammen.
b) Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin ist – jedenfalls nach der im Eilverfahren vor-zunehmenden
vorläufigen Prüfung – auch das Erfordernis der alleinigen Pflege und Sorge erfüllt.
aa) Diese Voraussetzung ist nicht nur dann gegeben, wenn kein anderer an der Pflege und Sorge teilnimmt. Sie kann
vielmehr auch dann gegeben sein, wenn keine nachhaltige Unter-stützung durch andere vorliegt (Landessozialgericht
Hamburg, Beschl. v. 26. September 2005 – L 5 B 196/05 ER; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschl. v.
13. Mai 2008, L 9 AS 119/08 ER, zit. nach juris, Rn. 17)). Die Frage, wann die Mitwirkung eines Dritten an der Pflege
und Erziehung von Kindern wesentlich oder unwesentlich ist, bestimmt sich auch nach dem Zweck des
Mehrbedarfszuschlags, der vom Gesetz selbst nicht näher beschrieben wird, wohl aber im Gesetzgebungsverfahren
Ausdruck gefunden hat (Landessozialgericht Nieder-sachsen-Bremen, Beschl. v. 13. Mai 2008, L 9 AS 119/08 ER,
zit. nach juris, Rn. 17). Da nach dem Willen des SGB II-Gesetzgebers die Vorschrift in § 21 SGBII an die
entsprechen-den Vorschriften im BSHG inhaltlich anknüpfen sollte (vgl. BT-Drucksache 15/1516, Seite 57 zitiert nach
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27.Juli 2007, L13 AS50/07 ER auch zum Folgenden), kann insoweit auf
die Motive zum 4. Änderungsgesetz des BSHG vom 21.Juni 1985 (vgl. BT-Drucksache 10/3079) zurückgegriffen
werden (Landessozialgericht Nie-dersachsen-Bremen, Beschl. v. 13. Mai 2008, L 9 AS 119/08 ER, zit. nach juris, Rn.
17). Da-nach war es tragende Erwägung, den Mehrbedarfszuschlag für Alleinerziehende einzuführen, dass bei
Personen, die auf sich allein gestellt sind und für die Pflege und Erziehung ihres Kin-des auf Hilfe nicht zurückgreifen
können, ein höherer Bedarf für den im Regelsatz erfassten notwendigen Lebensunterhalt entsteht. Denn aufgrund des
Umstandes, dass dieser Perso-nenkreis zeitlich durch die alleinige Erziehung und Pflege des Kindes stärker
beansprucht ist als Personen, die eine entsprechende Unterstützung erfahren, führt dies erfahrungsgemäß dazu, dass
für die Ernährung ein höherer Bedarf anfällt, da sie aufgrund der höheren zeitli-chen Beanspruchung durch die
Beaufsichtigung des Kindes nicht die Zeit haben, preisbe-wusst einzukaufen, und stattdessen die nächstgelegene,
nicht unbedingt preisgünstigste Ein-kaufsmöglichkeit nutzen müssen. Ferner ging der Gesetzgeber davon aus, dass
höhere Auf-wendungen zur Kontaktpflege und zur Unterrichtung in Erziehungsfragen entstehen, weil es eine
mitbetreuende Person nicht gibt und deshalb häufiger externer Rat in Betreuungs-, Ge-sundheits- und
Erziehungsfragen benötigt wird.
bb) Dieses Verständnis der Vorschrift steht auch mit dem Wortlaut der Vorschrift im Einklang. Unter Alleinerziehenden
werden nicht nur solche Personen verstanden, die sich ausschließ-lich um ihre Kinder kümmern, sondern auch
solche, die ganz überwiegend alleine für die Pfle-ge und Erziehung einstehen müssen.
cc) Dementsprechend kommt es für die Gewährung des Mehrbedarfs darauf an, wie erheblich die Mitwirkung bei
Erziehung und Pflege ist (Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 13. Mai 2008, L 9 AS 119/08 ER,
zit. nach juris, Rn. 18). Sofern die Mitwirkung le-diglich zwei Tage in der Woche umfasst, bestehen die den
Mehrbedarf rechtfertigenden Ein-schränkungen der Lebensführung fort, weil der den Mehrbedarfszuschlag in Anspruch
neh-mende Elternteil in den wesentlichen Zeiten der Woche anderen Verpflichtungen nicht (z. B. Behördengänge,
Arztbesuche) oder nur eingeschränkt (Einkäufe) nachgehen kann (Landes-sozialgericht Niedersachsen-Bremen,
Beschl. v. 13. Mai 2008, L 9 AS 119/08 ER, zit. nach juris, Rn. 18).
dd) Nichts anderes folgt daraus, dass die entsprechende Verwaltungsanweisung der Bundes-anstalt für Arbeit (21.8
der Verwaltungsanweisung vom 23. Mai 2008) bestimmt, dass ein An-spruch auf Mehrbedarf nicht besteht, wenn sich
das Kind wechselseitig bei beiden Elternteilen aufhält. In diesem Fall erfolgt nach der Verwaltungsanweisung die
Pflege und Erziehung des Kindes gemeinsam, wenn auch räumlich getrennt. Der Tatbestand der alleinigen Sorge und
Erziehung liegt damit nach der Verwaltungsanweisung nicht vor. Das Gericht ist an diese in-terne
Verwaltungsanweisung nicht gebunden.
ee) Daraus folgt, dass im vorliegenden Fall die zwei Tage je Woche bestehende Mithilfe bei der Betreuung des
Antragsstellers zu 2) – jedenfalls nach im Eilverfahren vorzunehmender vorläufiger Würdigung – als so unwesentlich
anzusehen sind, dass sie den Mehrbedarf nicht ausschließen.
2. Es ist auch ein Anordnungsgrund gegeben. Den Antragstellern ist nicht zumutbar, auf den Ausgang des
Klageverfahrens verwiesen zu werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.
Der Beschluss ist unanfechtbar, § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG. Die Antragsgegnerin ist mit (126,00 Euro mal 4,25 Monaten,
also insgesamt) 535,50 Euro beschwert. Der Schwellenwert für die Beschwerde liegt bei 750,00 Euro.