Urteil des SozG Bremen vom 26.06.2009

SozG Bremen: aufschiebende wirkung, freiheitsentziehung, vollzug, aufenthalt, anhörung, stadt, geldstrafe, erwerbsfähigkeit, rechtsgrundlage, unterbringung

Sozialgericht Bremen
Beschluss vom 26.06.2009 (rechtskräftig)
Sozialgericht Bremen S 26 AS 1118/09 ER
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers (S 26 AS 1119/09) gegen den Aufhebungsbescheid vom
15.05.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.06.2009 wird angeordnet. Die außergerichtlichen Kosten
des Antragstellers hat die Antragsgegnerin zu erstatten. II. Dem Antragsteller wird für das Antragsverfahren rückwir-
kend Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiord-nung von Rechtsanwalt YI. bewilligt.
Gründe:
1. Der am 16.08.1985 geborene Antragsteller wendet sich gegen eine Leistungseinstellung aufgrund eines
Aufenthaltes in einer Justizvollzugsanstalt (JVA). Zuvor bezog er von der An-tragsgegnerin laufende Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Zuletzt mit Bescheid vom
30.01.2009 in Gestalt des Ände-rungsbescheides vom 10.02.2009 bewilligte die Antragsgegnerin für den Zeitraum
01.02.2009 bis 31.07.2009 monatliche Leistungen in Höhe von 641,00 Euro.
Am 13.04.2009 trat der Antragsteller in der JVA A-Stadt eine Ersatzfreiheitsstrafe an. Die Ent-lassung soll
voraussichtlich am 10.07.2009 erfolgen.
Mit Schreiben vom 15.05.2009 erhielt der Antragsteller Gelegenheit, bis zum 01.06.2009 zu einer beabsichtigten
Erstattung bereits gewährter Leistungen für den Zeitraum 13.04.2009 bis 31.05.2009 Stellung zu nehmen. Mit
Bescheid vom selben Tag hob sie ihre Bewilligungsent-scheidung für den Zeitraum ab dem 13.04.2009 ganz auf.
Mit Schreiben vom 08.06.2009, am Folgetag bei der Antragsgegnerin eingegangen, legte der inzwischen anwaltlich
vertretene Antragsteller Widerspruch gegen "den Aufhebungs- und Er-stattungsbescheid vom 15.5.2009" ein. Er
verweist unter Berufung auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts A-Stadt darauf, dass die Voraussetzungen
eines Leistungsaus-schlusses bei einer Ersatzfreiheitsstrafe nicht vorlägen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 11.06.2009 wies die Antragsgegnerin den Widerspruch mit der Begründung zurück,
auch eine Ersatzfreiheitsstrafe nach § 43 StGB führe zu einem Leis-tungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II.
Am 16.06.2009 hat der Antragsteller den vorliegenden Eilantrag gestellt und zugleich Klage erhoben (S 26 AS
1119/09), die noch anhängig ist. Die Antragsgegnerin ist dem Eilantrag unter Verweis auf ihre Ausführungen im
Verwaltungsverfahren entgegen getreten.
Die Leistungsakten der Antragsgegnerin (21402BG0033955 - 2 Bände) haben dem Gericht vorgelegen.
2. Der Antrag bedarf der Auslegung. Maßstab ist § 123 SGG in entsprechender Anwendung. Danach entscheidet das
Gericht über den erhobenen Anspruch, ohne an die Fassung des Antrages gebunden zu sein. Der Antrag des
Antragstellers ist zusammen mit der Begründung der Antragsschrift zu sehen. Danach begehrt er, die aufschiebende
Wirkung der Klage gegen einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 15.05.2009 anzuordnen. Nach den dem
Gericht vorliegenden Unterlagen ist ein Erstattungsbescheid bisher nicht erlassen. Dem Er-lass dieses Bescheides
diente das Anhörungsschreiben. Unter dem 15.05.2009 findet sich alleine ein Aufhebungsbescheid (der anscheinend
ohne vorherige Anhörung erging). Das Ge-richt geht im Übrigen davon aus, dass der nahezu gleich lautende
Aufhebungsbescheid vom 14.05.2009 durch den Aufhebungsbescheid vom 15.05.2009 aufgehoben wurde. Der Antrag
des Antragstellers ist deshalb in dem Sinne auszulegen, dass die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den
Aufhebungsbescheid vom 15.05.2009 in Gestalt des Widerspruchsbeschei-des vom 11.06.2009 angeordnet werden
soll. Einem Widerspruch gegen einen Erstattungs-bescheid würde ohnehin aufschiebende Wirkung zukommen. Denn
er fällt nicht unter die Re-gelung des § 39 Nr. 1 SGB II.
Der so verstandene und nach §§ 86a Abs. 2 Nr. 4, 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG in Verbin-dung mit § 39 Nr. 1 SGB II
statthafte Antrag ist begründet. Ein Antrag auf Anordnung der auf-schiebenden Wirkung gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1
Nr. 2 SGG ist begründet, wenn das private Interesse des Klägers, den Vollzug des Bescheides bis zur Entscheidung
im Hauptsachever-fahren auszusetzen, gegenüber dem öffentlichen Interesse an dessen sofortiger Vollziehung
überwiegt. Die aufschiebende Wirkung einer Klage ist in der Regel bereits dann anzuordnen, wenn sich der
angefochtene Bescheid als offensichtlich rechtswidrig erweist (vgl. nur OVG Bremen, Beschl. v. 10.10.2008 - S2 B
458/08 -). Anderenfalls bedarf es einer umfassenden Interessenabwägung.
Der Aufhebungsbescheid ist offensichtlich rechtswidrig. Die Voraussetzungen für eine Aufhe-bung nach § 48 Abs. 1
Satz 2 SGB X liegen nicht vor. Dem Bescheid lässt sich bereits nicht entnehmen, auf welchen Aufhebungstatbestand
sich die Entscheidung stützt (Nr. 4?). Es be-stehen aber auch Bedenken gegen seine formelle Rechtmäßigkeit, weil
eine Anhörung vor der Aufhebung unterblieben ist. Nach Aktenlage wäre sie auch nicht § 24 Abs. 2 Nr. 3 SGB X
entbehrlich gewesen, weil eine entsprechende Erklärung des Antragstellers erst am 02.06.2009 (Bl. 78 der
Leistungsakte) bei der Antragsgegnerin einging. Ohnehin setzt ein Ab-sehen von einer Anhörung nach § 24 Abs. 2
SGB X eine Ermessensentscheidung voraus, die entsprechend zu dokumentieren ist.
Im Übrigen kann die Aufhebung auch deswegen keinen Bestand haben, weil eine sich leis-tungsrechtlich auswirkende
Änderung nicht eingetreten ist. Der Antragsteller ist vor und nach seinem Haftantritt leistungsberechtigt nach dem
SGB II.
§ 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II steht dem nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift erhält Leistungen nach dem SGB II nicht,
wer sich in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung aufhält. Eine
Ersatzfreiheitsstrafe, die nach § 43 StGB an die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe tritt, ist keine
Freiheitsentziehung im Sinne dieser Vorschrift.
Das Verwaltungsgericht A-Stadt - 3. Kammer für Sozialgerichtssachen - hat mit Gerichtsbe-scheid vom 08.04.2009
(S3 K 2721/07) ausgeführt:
Für den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid fehlt es an einer Rechtsgrundlage. Ins-besondere vermögen auch die
Ausschlussgründe des § 7 Abs. 4 SGB II den Bescheid nicht zu rechtfertigen. Nach § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II erhält
u. a. keine Leistungen nach dem SGB II, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist. Nach Satz 2 dieser
Vorschrift ist dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug
richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichge-stellt. Die Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe stellt keinen
Aufenthalt in einer Einrich-tung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung dar. Dabei ist darauf
abzustellen, ob im konkreten Fall die Freiheitsentziehung richterlich angeordnet war und nicht darauf, ob die
Einrichtung allgemein (auch) dem Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung dient. Dies ergibt sich
unzweifelhaft aus der Gesetzesbegründung (vgl. BT Drs. 16/1410, Bl. 20). Also ist hier maßgeblich, dass eine
Ersatzfreiheitsstrafe gemäß § 459 StPO nicht auf richterliche Anordnung, sondern auf Anordnung der
Vollstreckungsbehörde vollstreckt wird. Die Freiheitsentziehung ist auch nicht deswegen bereits richterlich
angeordnet, weil der Ersatzfreiheitsstrafe eine durch ein Gericht verhängte Geldstrafe zugrunde lag. Das Gericht hat
gerade keine Freiheitsentziehung für erforderlich erachtet. Eine solche Unterscheidung zwischen richterlich
angeordneter Freiheitsentziehung und ei-ner Freiheitsentziehung auf Anordnung der Vollstreckungsbehörde hat auch
Sinn, weil Ersatzfreiheitsstrafen in der Regel nur wenige Wochen dauern und der Betroffene da-her weiterhin seine
regelmäßigen Kosten, namentlich für Unterkunft und Heizung, tra-gen muss. Dementsprechend wird auch in der
Gesetzesbegründung der Vollzug einer Ersatzfreiheitsstrafe nicht als Ausschlussgrund genannt (ebenso bereits:
Beschluss des VG Bremen vom 18.07.2008, Az.: S1 V 1933/08 m. w. N.).
Dieser Rechtsprechung schließt sich die Kammer an und weist nur ergänzend auf Folgendes hin: Insbesondere der
Regelung des § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1 SGB II, wonach der Leistungs-sauschluss bei Aufenthalt in einer stationären
Einrichtung nicht greift bei einer nur wenige Monate andauernden Unterbringung in einem Krankenhaus, lässt sich
entnehmen, dass der Gesetzgeber einen Trägerwechsel (SGB XII) bei einem kurzen Zeitraum fehlender faktischer
Erwerbsfähigkeit vermeiden wollte. Einer solchen Ausnahmevorschrift bei Haftaufenthalten hätte es insoweit nur
bedurft, wenn auch die Ersatzfreiheitsstrafe zu einem Leistungssaus-schluss führen würde. Denn Freiheitsstrafen von
unter sechs Monaten darf das Gericht grundsätzlich nicht verhängen (§ 47 Abs. 1 StGB). Auch dies spricht dafür,
dass eine (regel-mäßig) kurze Ersatzfreiheitsstrafe nicht zu einem Leistungssausschluss führt. Soweit dies in den
Hinweisen der Bundesagentur anders gesehen wird (Ziffer 7.37b zu § 7), überzeugt dies das Gericht nicht.
Zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht keinen Anlass gesehen hat, den Antrag auf Anordnung der
aufschiebenden Wirkung insoweit abzulehnen, als der Antragsteller in der JVA Vollverpflegung erhält. Der
Aufhebungsbescheid der Antragsgegnerin stützt sich darauf nicht. Darüber hinaus bestehen erhebliche Bedenken, ob
eine solche Anrechnung zulässig wäre (vgl. nur BSG, Urt. v. 16.12.2008 - B 4 AS 9/08 R -; BSG, Urt. 18.06.2008 - B
14 AS 22/07 R -).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.