Urteil des SozG Bremen vom 11.09.2009

SozG Bremen: sexueller missbrauch, psychisches leiden, angriff, wahrscheinlichkeit, therapie, glaubhaftmachung, ermittlungsverfahren, stadt, beweismittel, berufungsschrift

Sozialgericht Bremen
Urteil vom 11.09.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Bremen S 3 VG 17/07
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ist ein Anspruch der Klägerin auf Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) i.V.m. dem
Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Die 1971 geborene Klägerin ist gelernte Bürokauffrau und war zuletzt als Verkäuferin tätig. Ihr
Rentenversicherungsträger hat ihr wegen ihrer psychischen Störungen im Dezember 2003 rückwirkend ab August
2001 Rente wegen voller Erwerbsminderung gewährt.
Am 31. Mai 2002 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung und gab an,
ihr psychisches Leiden sei Folge erlittenen sexuellen Missbrauchs in ihrer Kindheit ca. zwischen 1976 (5. Lebensjahr
der Klägerin) und 1983. Der Täter sei der Ehemann ihrer Cousine, G.R. (im Folgenden: G.R.), gewesen. Der
Missbrauch habe sich in A-Stadt, überwiegend in ihrem Elternhaus, ereignet. Schon damals habe sie ihrer Mutter
davon berichtet. Ihre Mutter sei 1999 verstorben. Etwa 2002 habe sie auch ihrem Vater von dem Geschehen erzählt,
der vorher nichts davon gewusst habe. Als 16-jährige habe sie wegen der Taten und ihrer daraus erwachsenden
Probleme den Psychiater Dr. FN. aufgesucht.
Eine Strafanzeige gegen G.R. erstattete die Klägerin am 24. Juni 2004. Die Beklagte zog die Ermittlungsakte bei, aus
der sich u.a. folgende Unterlagen ergaben:
1. Es wurde ein für das Sozialgericht Bremen zum Verfahren S 14 RA 82/02 erstelltes Gutachten des Psychiaters Dr.
U. vom 17. November 2003 beigezogen, in welchem er ausführte, bei der Klägerin bestehe das Vollbild einer
chronifizierten Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) mit stark ausgeprägter Bulimie, selbstverletztendem
Verhalten und Agoraphobie sowie Zwangshandlungen.
2. Die Klägerin selbst wurde am 09. September 2004 als Zeugin vernommen und schilderte verschiedene Übergriffe
durch G.R. zwischen ihrem fünften und zwölften Lebensjahr, wobei G.R. meist in ihr Kinderzimmer gekommen sei.
G.R. habe sie mehrfach an der Brust und am Po angefasst. Sie habe mehrfach seinen Penis in die Hand nehmen
müssen, und dann habe er "mitgeholfen", indem er seine Hand auf ihre Hand gelegt habe; es sei dann zum
Samenerguss gekommen. Einmal habe sich G.R. auch auf sie draufgelegt. Sie habe keine Erinnerung daran, ob G.R.
auch an ihre Scheide gefasst habe. Auch erinnere sie nicht, ob sie G.R. habe oral befriedigen sollen. Sie habe aber
bis heute noch nie Geschlechtsverkehr mit einem Mann haben können, woran auch ihre Ehe gescheitert sei. Auch sei
sie nicht in der Lage, sich gynäkologisch untersuchen zu lassen. Mit fünf Jahren habe sie schon ihrer Mutter davon
erzählt, was G.R. tue. Ihre Mutter habe ihr aber nicht geglaubt und ihr auch nicht richtig zugehört. Mit sieben Jahren
habe sie noch einmal versucht, mit der Mutter darüber zu reden, die aber gesagt habe, dass sie sich das alles
einbilde. Die Mutter habe sich das auch überhaupt nicht vorstellen können. Schließlich habe sie mit 16 Jahren der
Mutter noch einmal von den sexuellen Übergriffen erzählt. Diese habe aber nur gesagt, dass sie – die Klägerin –
psychische Probleme hätte und wohl zum Arzt müsste. Ihr Bruder sei bei diesem Gespräch dabei gewesen und habe
telefonisch einen Termin bei Dr. FN. vereinbart.
3. G.R. wurde am 01. November 2004 als Beschuldigter vernommen. Er gab an, er sei entsetzt über das, was ihm
vorgeworfen werde. Er sei sich keiner Schuld bewusst. Er sei insbesondere nie mit der Klägerin allein in ihrem
Kinderzimmer gewesen. Er wisse überhaupt nicht, warum die Klägerin so etwas erzähle.
4. In einer Zeugenvernehmung vom 07. Oktober 2004 gab der Bruder der Klägerin an, er könne zu den von der
Klägerin geschilderten Vorfällen keine sachdienlichen Angaben machen. Er habe davon nichts mitbekommen, dass
G.R. in ihr Zimmer gegangen sein solle. Die Klägerin habe ihm auch nie etwas von diesen Vorfällen erzählt.
5. Eine Freundin der verstorbenen Mutter der Klägerin, Frau K., schilderte in ihrer Zeugenvernehmung vom 02. März
2005, sie könne sich nicht erinnern, dass die Mutter ihr etwas von sexuellen Übergriffen des G.R. an der Klägerin
erzählt habe. Sie wisse nur noch, dass die Mutter ihr einmal gesagt habe, dass sie Angst um die Klägerin habe und
dass G.R. der Grund sei. Mehr habe sie dazu aber nicht gesagt.
6. Das Ermittlungsverfahren wurde durch Verfügung vom 23. Mai 2005 gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.
Die Beklagte zog die ärztlichen Unterlagen des Rentenversicherungsträgers der Klägerin bei. Unter anderem befand
sich darin ein Bericht des Neurologen und Psychiaters Dr. PD. vom 03. Juli 2001 an das Arbeitsamt A-Stadt, worin
dieser ausführte, die Klägerin schildere bei ihm Erbrechen unter Stressbelastungen. Sie meine, alles läge wohl daran,
dass sie über den Tod der Mutter nicht hinwegkäme; sie könne sich oft an zurückliegende Dinge nicht erinnern und
vermute, dass dies möglicherweise mit einem Wunsch nach Verdrängung des Todes zusammenhängen könne.
Gegenüber der Beklagten gab der Bruder der Klägerin unter dem 28. Januar 2006 schriftlich an, er habe 1988 einen
Termin für seine Schwester bei Dr. FN. vereinbart, weil seine Mutter ihm erzählt habe, dass seine Schwester
psychische Probleme habe und weil seine Mutter keinen guten Psychologen gekannt habe. Eine klare Aussage der
Mutter, warum diese Behandlung unbedingt notwendig sei, habe sie ihm nicht gegeben. Auffälligkeiten oder Störungen
an seiner Schwester habe er damals nicht feststellen können. Beklagt habe sich seine Schwester früher nur
manchmal bei ihm, dass die Mutter sich nicht richtig um ihre Probleme kümmere. Sie habe aber 1988 weder ihm noch
seiner Frau etwas von den sexuellen Übergriffen erzählt. Erst vor etwa 2 ½ Jahren hätten sie von dieser Geschichte
erfahren.
Dr. FN. teilte der Beklagten mit Bericht vom 27. Januar 2006 mit, die Klägerin habe sich erstmals im Juni 1988 in
seiner Praxis vorgestellt. Damals habe eine Sexualproblematik bestanden, nachdem ein Cousin sich exhibitionistisch
gezeigt habe. Er habe eine Sexualproblematik bei neurotischer Fehlhaltung diagnostiziert und der Klägerin zu einer
Therapie geraten. Über all die Jahre habe das wohl eine Rolle gespielt. Er habe dann im Oktober 2001 die Klägerin
begutachtet, doch hätten sich diese Gespräche nicht auf den sexuellen Missbrauch bezogen.
Durch Bescheid vom 07. Februar 2006 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Gewährung von
Beschädigtenversorgung ab. Sie begründete dies damit, dass kein Nachweis für einen vorsätzlichen, rechtswidrigen
Angriff gegeben sei. Es gebe keine Zeugen, die die Taten bestätigen könnten.
Im Widerspruchsverfahren trug die Klägerin vor, zu dem Termin bei Dr. FN. 1988 habe sie auch ihr damaliger Freund,
L. J., begleitet. Ihm habe sie von dem sexuellen Missbrauch berichtet. Sie könne nicht behaupten, dass G.R. den
Beischlaf mit ihr vollzogen habe. Sie sei sich jedoch absolut sicher, dass dies der Fall gewesen sein müsse, da sie
sich keiner gynäkologischen Untersuchung – außer in Vollnarkose – unterziehen könne.
Die Beklagte hat auf Anforderung von L. J. eine schriftliche Auskunft vom 09. Februar 2007 erhalten, wonach er sich
weder an die Begleitung zu dem Arztbesuch noch an Erzählungen über einen sexuellen Missbrauch erinnern könne.
Durch Widerspruchsbescheid vom 21. Mai 2007 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.
Dagegen richtet sich die am 22. Juni 2007 erhobene Klage, mit welcher die Klägerin ihr Begehren auf Anerkennung
ihrer psychischen Störungen als Schädigungsfolge und Gewährung von Berufsschadensausgleich und
Beschädigtenversorgung nach einem Grad der Schädigungsfolge (GdS) von 100 weiterverfolgt. Zur Begründung hat
sie vorgetragen, ihre Hausärztin habe bereits 2003 festgestellt, dass die psychischen Störungen Folge von sexuellem
Missbrauch in der Kindheit seien. Die im Rentenverfahren erstellten Gutachten hätten ihre Unfähigkeit zu einer
Beziehung zu Männern und ihren Ekel vor Sexualität bestätigt. Auch die Aussage der Frau K. im Ermittlungsverfahren
stütze ihre Angaben.
Auf Grund einer Beweisanordnung gem. § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat die Diplom-Psychologin C. ein
Glaubhaftigkeitsgutachten vom 31. Januar 2009 erstellt, nachdem sie am 22. Oktober 2008 und am 26. Januar 2009
die Klägerin aussagepsychologisch untersucht hat. Die Sachverständige hat im Wesentlichen ausgeführt, ihre
Untersuchungsfragestellung sei, ob die Angaben der Aussageperson über die inkrminierten Handlungen aus
aussagepsychologischer Sicht als mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert klassifiziert werden könnten.
Hierbei seien die Teilfragestellungen der Aussagetüchtigkeit (kognitive Grundvoraussetzungen der Aussageperson),
der Aussagezuverlässigkeit (Abwesenheit von Störungen in den internen und externen Rahmenbedingungen der
Aussageentwicklung, z.B. suggestive Befragungseinflüsse) und der Aussagequalität (Merkmale erlebnisfundierter
Schilderungen) untersuchungsleitend. Die Klägerin sei auf Grund ihrer intellektuellen und kommunikativen Fähigkeiten
als aussagetüchtig einzuschätzen. Bei der Aussagezuverlässigkeit sei zu berücksichtigen, dass sich die Klägerin
nach eigenen Angaben intensiv gedanklich mit den in Frage stehenden Vorfällen beschäftige, insbesondere auch
durch allnächtliche Träume in den Jahren zumindest von 1999 bis 2003. Hier liege ein massives
Beeinflussungspotential vor. Wie stark zwischenzeitliche gedankliche Prozesse eine Aussage verändern könnten,
zeige sich beispielsweise an der Deutungsverschiebung, die die Klägerin hinsichtlich der Rolle ihrer Mutter
vorgenommen habe. Während die Klägerin 2003 und 2004 angegeben habe, die Mutter habe die Vorwürfe nicht
wahrhaben wollen, habe sie in ihrer aussagepsychologischen Exploration im Oktober 2008 angegeben, sie sei fest
überzeugt, dass die Mutter "da mit drin gehangen" habe, dass sie es gewusst habe, dass sie von G.R. dafür Geld
bekommen habe. Dieser Überzeugung sei sie schon immer gewesen. Hier werde deutlich, wie infolge intensiver
gedanklicher Beschäftigung mit der Rolle der Mutter die Erinnerung an erwartungswidrige Erfahrungen möglicherweise
in Richtung größerer Stimmigkeit verzerrt worden sei, was mit dem rekonstruktiven Charakter des menschlichen
Gedächtnisses erklärbar sei. Auch die von der Klägerin geschilderten lebhaften und intensiven Flashbacks könnten
nicht als genaue Erinnerungen an früher Erlebtes angesehen werden. In der Fachliteratur seien Fälle von Flashback-
"Erinnerungen" beschrieben von Personen, die selbst keine Opfer oder Augenzeugen eines traumatischen
Ereignisses, aber Ersthelfer oder Angehörige gewesen seien. Man müsse davon ausgehen, dass sich Flashbacks
häufig aus einer Mischung aus realen und befürchteten oder vorgestellten Ereignissen zusammensetzten. Die von der
Klägerin geschilderte intensive, jahrelang wiederholte gedankliche Beschäftigung mit vermeintlichen
Erinnerungsbildern führe somit zu einer Reihe potentiell aussageverfälschender Mechanismen. Jeder Abruf einer
Erinnerung bewirke eine Neu-Einspeicherung unter den jeweiligen Abrufbedingungen. Hierbei könnten sich
Hinweisreize mit den gespeicherten Fragmenten einer Episode verbinden. Zudem führe die wiederkehrende
Beschäftigung dazu, dass die vermeintlichen Erinnerungsbilder zunehmend vertraut, lebhaft und leicht abrufbar
würden, was die subjektive Annahme fördere, dass die mentalen Bilder tatsächliche Erinnerungen seien. Besonders
problematisch sei es, wenn vermeintlich wiederentdeckte Erinnerungen erst im Laufe wiederholter
Erinnerungsbemühungen entstanden seien. So habe die Klägerin über ihre Prozessbevollmächtigte im März 2006
angegeben, sie könne nicht behaupten, dass G.R. den Beischlaf mit ihr vollzogen habe, schließe dies aber aus ihrer
Unfähigkeit zu gynäkologischen Untersuchungen. In den aussagepsychologischen Explorationen im Oktober 2008 und
Januar 2009 habe die Klägerin dann angegeben, inzwischen sei in der Traumatherapie im März 2008 durch eine
"Imaginationsübung" die Erinnerung "hochgekommen", dass es auch zum Geschlechtsverkehr gekommen sei. Zur
Aussagegeschichte müsse somit zusammenfassend festgestellt werden, dass Bedingungen vorgelegen hätten, die
eine fehlerhafte Aussage begünstigt haben könnten. Die Qualität der Aussage der Klägerin sei nur schwach
ausgeprägt. Es fänden sich keine speziellen Qualitätsmerkmale, die geeignet seien, auf einen Erlebnisbezug zu
verweisen. In der Aussage der Klägerin fänden sich diverse Inkonstanzen, die gedächtnispsychologisch durch
konstruktives Schließen von Erinnerungslücken sowie eine jeweils unterschiedliche Bedeutungszuschreibung
fragmentarischer Erinnerungsstücke erklärbar seien und eine besondere Skepsis gegenüber der Aussage
begründeten. Die Negativbeeinflussungen der Aussage müssten nicht durch die Klägerin bewusst erfolgt sein,
sondern könnten auch auf unbewussten autosuggestiven oder suggestiven Prozessen beruhen. Die Aussage der
Klägerin könne aus aussagepsychologischer Sicht nicht als glaubhaft klassifiziert werden.
Die Klägerin hat gegen dieses Gutachten eingewandt, dass es nicht anerkannt werden könne. Der Gutachterin sei
bekannt gewesen, dass die Klägerin, die an einer PTBS mit dissoziativer Störung leide, sich während der
Begutachtung in stationärer Behandlung in der Ameos-Klinik befunden habe. Patienten mit dieser Diagnose könnten
sich an Geschehnisse nicht immer in gleicher Weise erinnern und diese wiedergeben. Dass es zu Abweichungen
komme, sei Folge der psychischen Beeinträchtigung und könne nicht gegen die Glaubhaftigkeit der Aussage
sprechen. Außerdem sei sie zu dem zweiten Termin bei der Sachverständigen einbestellt gewesen lediglich mit der
Aufforderung, zwei Unterschriften für die Schweigepflichtsentbindung zu leisten. Von der Exploration sei sie dann
überrascht worden.
Die Klägerin beantragt,
1. den Bescheid vom 7. Februar 2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21. Mai 2007 aufzuheben.
2. festzustellen, dass eine posttraumatische Belastungsstörung, Adipositas, Bulimie, Schlafstörungen,
Zwangshandlungen, Selbstverletzungen, sexuelle Störungen und Agoraphobie Schädigungsfolgen im Sinne des § 1
OEG sind.
3. die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Beschädigtenversorgung nach einem GdS von 100 seit dem 1. Mai 2002
sowie Berufsschadensausgleich zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält den angefochtenen Bescheid für zutreffend und bezieht sich auf eine vorgelegte versorgungsärztliche
Stellungnahme vom 05. Mai 2009.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird Bezug genommen auf die Prozessakte und die Verwaltungsakten
der Beklagten. Diese Unterlagen haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Zu Recht hat die Beklagte den Antrag der Klägerin abgelehnt.
Ein Anspruch auf Versorgung nach dem OEG setzt gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG voraus, dass der
Anspruchsberechtigte infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere
Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr einen gesundheitlichen Schaden erlitten hat. Diese Voraussetzungen
können vorliegend nicht festgestellt werden.
Der tätliche Angriff i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG muss in vollem Umfang erwiesen sein. Fehlt es an diesem
Nachweis, so geht dies im Rahmen der objektiven Beweislast zu Lasten des Antragstellers. Im vorliegenden Fall ist
ein rechtswidriger tätlicher Angriff des G.R. gegen die Klägerin ist nicht feststellbar:
Für einen solchen Angriff fehlt jeder Nachweis. Der G.R. selbst hat die Tatvorwürfe bestritten. Unmittelbare Tatzeugen
sind nicht vorhanden. Die Mutter der Klägerin ist verstorben, der Vater soll nach ihren eigenen Angaben nichts von
den Geschehnissen gewusst haben. Der Bruder der Klägerin hat ebenfalls sowohl im Ermittlungsverfahren als auch
gegenüber der Beklagten angegeben, zur damaligen Zeit nichts bemerkt oder erfahren zu haben und erst etwa Mitte
2003 von seiner Schwester unterrichtet worden zu sein. Auch der frühere Freund der Klägerin, L. J., hat keine
Erinnerungen an zeitnahe Berichte der Klägerin. Der Bericht des Dr. FN. vom 27. Januar 2006 ist ebenfalls nicht zur
Nachweisführung geeignet. Abgesehen davon, dass Dr. FN. mit der Diagnose einer neurotischen Fehlhaltung
möglicherweise auch ein schädigungsfremdes, aber zur Erkrankung der Klägerin gehörendes Element aufgezeigt hat,
kann auf Grund seiner Angaben lediglich davon ausgegangen werden, dass die Klägerin ihm ein einziges Mal von
einer exhibitionistischen Handlung berichtet hat. Taten, wie sie die Klägerin bei ihrer Vernehmung vom 09. September
2004 geschildert hat, waren nicht Gegenstand des Gesprächs, wie die Klägerin überhaupt auch bei der späteren
Begutachtung 2001 mit Dr. FN. überhaupt das Thema sexueller Übergriffe nicht angesprochen hat. Die Schilderungen
der Zeugin K. deuten zwar an, dass sich die Mutter der Klägerin in irgendeiner Weise im Zusammenhang mit G.R.
Sorgen um die Klägerin gemacht hat, rechtfertigen aber keine zwingenden Rückschlüsse auf die behaupteten
sexuellen Übergriffe. Sorgen der Mutter um die Klägerin im Zusammenhang mit G.R. wären beispielsweise auch
denkbar, wenn sich die Klägerin in eine nach Ansicht der Mutter völlig unbegründete Abneigung gegen G.R.
hineingesteigert gehabt hätte.
Schließlich kann auch aus dem Krankheitsbild der Klägerin nicht hergeleitet werden, dass sie entsprechend ihrer
eigenen Beschreibung Opfer sexueller Übergriffe durch den G.R. geworden sein muss. Zwar wird in der medizinischen
Literatur diskutiert, dass ein sexueller Missbrauch als Kind in einer großen Anzahl von Fällen zu einer Erkrankung an
einer PTBS oder dissoziativen Identitätsstörung führt. Auch eine solche – hier unterstellte - Wahrscheinlichkeit
hinsichtlich des Kausalzusammenhangs würde aber nicht die Notwendigkeit einer vollen richterlichen Überzeugung
von der Erfüllung des objektiven Tatbestandsmerkmals "eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs" gerade
im Falle der Klägerin zu ersetzen. Denn es gibt durchaus auch Fälle von PTBS und dissoziativer Identitätsstörung
gibt, die nicht mit einem sexuellen Missbrauch in Zusammenhang stehen. Hinzu kommt, dass nicht vom
Krankheitsbild, also von den Schädigungsfolgen, her auf den Angriff als Versorgungstatbestand zurückgeschlossen
werden darf. Allein die Möglichkeit, dass ein Missbrauch im Kindesalter zu derartigen Krankheitsbildern führen kann,
reicht nicht aus, den Beweis als geführt anzusehen, der angeschuldigte Angriff habe so tatsächlich stattgefunden.
Ein vorsätzlicher, rechtswidriger Angriff des G.R. lässt sich auch nicht gem. § 6 Abs. 3 OEG i.V.m. dem Gesetz über
das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) feststellen. Nach § 15 KOVVfG sind die Angaben
eines Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, dann
wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen sind oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner
Hinterbliebenen verloren gegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des
Falles glaubhaft erscheinen. Wenngleich nach ihrem Wortlaut diese Vorschrift auf den Verlust von Unterlagen abstellt,
so wird sie doch in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung auch dann angewandt, wenn andere Beweismittel (z.B.
Zeugen) nicht vorhanden sind (BSGE 65, 123 bis 126). Auch dann aber ist Voraussetzung, dass die Angaben des
Antragstellers "nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen". Diese Voraussetzung liegt im Fall der Klägerin
nicht vor.
Glaubhaft ist der Vortrag eines schädigenden Ereignisses dann, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür
spricht, dass sich die beschriebenen Vorgänge entsprechend den Behauptungen der Antragsteller zugetragen haben
(vgl. Beschlüsse des BSG vom 10. August 1989 - 4 BA 94/89 - und 08. August 2001 - B 9 V 23/01 B mit weiteren
Nachweisen). Selbst wenn der Beweismaßstab der "Glaubhaftmachung" im Vergleich zum Vollbeweis und der
Wahrscheinlichkeit der im Sozialrecht "mildeste" Maßstab ist (Beschluss des BSG vom 08. August 2001 - B 9 V
23/01 - Leitsatz 2), setzt die Glaubhaftmachung voraus, dass eine von mehreren in Betracht kommenden
Sachverhaltsalternativen am wahrscheinlichsten ist und unter Berücksichtigung aller Umstände keine erheblichen
Bedenken gegen die Richtigkeit der behaupteten Ereignisse bestehen (vgl. BSG a. a. O.). "Wie bei den anderen
Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, die Beweisanforderungen zu erfüllen, und ist
das Gericht grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht" (BSG a. a. O. Rn. 5 unter
Hinweis auf die Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung - § 128 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Im Falle der Klägerin überwiegen die Zweifel an der Richtigkeit der behaupteten Taten so weitgehend, dass von einer
Glaubhaftmachung dieser Ereignisse unter Berücksichtigung aller Umstände - insbesondere des wechselhaften
Vortrages der Klägerin, der wissenschaftlich anerkannten Maßstäbe der Glaubhaftigkeitsbeurteilung und der
Erkenntnisse der Aussagepsychologie - nicht ausgegangen werden kann.
Für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit des Klagevorbringens gelten im Bereich der Opferentschädigung dieselben
Maßstäbe, die auch bei der Würdigung von Zeugenaussagen zu beachten sind. Dazu zählen insbesondere die
wissenschaftlichen Grundsätze der Aussagepsychologie, die der Bundesgerichtshof - BGH - hinsichtlich der
Bewertung von Zeugenaussagen fordert (vgl. hierzu: Urteil des BGH vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98 mit zahlreichen
wissenschaftlichen Nachweisen aus der Aussagepsychologie). Hiernach ist zunächst die inhaltliche Konsistenz der
Aussage zu prüfen, also die Plausibilität der Aussage in sich ohne Berücksichtigung weiterer Faktoren. Sodann ist die
Konstanz der Aussage von erheblicher Bedeutung. Die Konstanzanalyse erfasst das Aussageverhalten einer Person
insgesamt, insbesondere auch aussageübergreifende Qualitätsmerkmale, die sich aus dem Vergleich von Angaben
über denselben Sachverhalt zu unterschiedlichen Zeitpunkten ergeben (a. a. O. Rn. 26 f). Hinzu kommt die
Aussagegenese (Entstehung und Entwicklung der Aussage). Schließlich erfordert eine Kompetenzanalyse die
Bewertung der persönlichen Kompetenz der darstellenden Personen, insbesondere der allgemeinen und sprachlichen
intellektuellen Leistungsfähigkeit sowie der tatbezogenen Kenntnisse der Betroffenen. Schließlich kann im Rahmen
der Motivationsanalyse geprüft werden, ob die Darstellung von fremdbestimmten und zweckgerichteten Beweggründen
beeinflusst sein kann (a. a. O. Rn. 28).
Unter Berücksichtigung dieser Kriterien bestehen gegen die Glaubhaftigkeit der Aussage der Klägerin erhebliche
Bedenken im Hinblick auf ihre Entstehungsgeschichte und die in gravierenden Teilen fehlende Konstanz. Wie die
Sachverständige C. zu Recht hervorgehoben hat, liegen zwischen den behaupteten Taten und ersten Angaben der
Klägerin im Antrag auf Beschädigtenversorgung bereits 26 bis 19 Jahre, und es folgten weitere Jahre, in denen sich
die Klägerin – im Rahmen ihrer Therapie und im Rahmen des Ermittlungs- und des vorliegenden Verfahrens –
gedanklich intensiv mit dem Verhalten des G.R. und der Rolle ihrer Mutter beschäftigt und in Träumen und
Flashbacks durchlebt hat. Zur Überzeugung der Kammer liegt hierin nicht nur eine potentielle Gefahr, unbewusst
Erinnerungen zu verzerren oder zu ergänzen oder Traumbilder als Erlebtes zu empfinden. Tatsächlich hat sich diese
Gefahr im Falle der Klägerin auch realisiert, wie sich insbesondere an ihrer Darstellung der Rolle ihrer Mutter und der
"hochgekommenen" "Erinnerung" an einen Geschlechtsverkehr deutlich zeigt. Wenn die Klägerin, die ursprünglich
davon berichtet hat, ihre Mutter habe die Vorwürfe nicht wahrhaben können, nunmehr sicher "weiß", dass die Mutter
alles gewusst und sogar von G.R. Geld dafür bekommen habe, wenn sie darüber hinaus ihre zunächst nur als
Schlussfolgerung geäußerte Vermutung, es müsse auch zum Geschlechtsverkehr gekommen sein, nach einer
"Imaginationsübung" in der Traumatherapie in ein festes "Erinnerungs"bild verwandelt hat, so haben hier – ohne dass
der Klägerin eine bewusste Unwahrheit unterstellt werden könnte – eigene Gedankenbeschäftigung und fremde
Suggestion in der Therapie zu einer Veränderung geführt, die die Aussage nicht als unverfälscht und fehlerfrei
erscheinen lassen können. Dabei ist zu betonen, dass gerade in diesen beiden gravierenden Aussagepunkten sich die
Veränderung bereits in der ersten Exploration bei der Sachverständigen findet und nicht erst in dem zweiten Termin,
von dem sich die Klägerin – in der Meinung, nur eine Unterschrift leisten zu sollen – überrumpelt gefühlt hat. Allein
schon auf Grund dieses Verfälschungsmoments kann zur Überzeugung der Kammer die Aussage der Klägerin nicht
als glaubhaft angesehen werden. Hinzu kommen die diversen weiteren Inkonstanzen, welche die Sachverständige C.
im Einzelnen schlüssig aufgeführt hat.
Die Klage musste daher erfolglos bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtsmittelbelehrung:
Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden.
Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim Landessozialgericht Niedersachsen-
Bremen, Georg-Wilhelm-Straße 1, 29223 Celle oder bei der Zweigstelle des Landessozialgerichts Niedersachsen-
Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der
Geschäftsstelle einzulegen.
Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Monatsfrist bei dem
Sozialgericht Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen
schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.
Die Berufungsschrift muss innerhalb der Monatsfrist bei einem der vorgenannten Gerichte eingehen. Sie soll das
angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung der Berufung dienenden
Tatsachen und Beweismittel angeben.
Ist das Urteil im Ausland zuzustellen, so gilt anstelle der oben genannten Monatsfrist eine Frist von drei Monaten.
Der Berufungsschrift und allen folgenden Schriftsätzen sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.