Urteil des SozG Bremen vom 16.04.2009

SozG Bremen: eintritt des versicherungsfalles, erwerbsunfähigkeit, rente, berufskrankheit, gutachter, telefonist, zustand, minderung, erwerbsfähigkeit, hauswart

Sozialgericht Bremen
Urteil vom 16.04.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Bremen S 5 U 87/06
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen Berufskrankheit 4103 streitig.
Der am 07. Mai 1932 geborene Kläger hat eine Lehre als Heizungsbauer von 1949 bis 1952 absolviert. Von 1957 bis
1968 war er Maschinenbauer und ab 01. April 1974 bis 1988 Hauswart. Seit 2004 ist er in Pflegestufe I und ab 2005 in
Pflegestufe II. Außerdem sind die Merkzeichen B und G seit 2003 anerkannt.
Am 15. November 2004 erstattete Frau Dr. RR. eine Anzeige über Verdacht auf Vorliegen von Asbestose und
Pleuramesotheliom. Einem Bericht von Dr. L. vom 20. November 2004 zufolge war ein Pleuramesotheliom
unwahrscheinlich. Die Beklagte holte daraufhin ein Gutachten ein von Frau Dr. RR., die am 28. April 2005 eine
Multimorbidität feststellte und eine pleurale Asbestose ab 09. November 2004 diagnostizierte. Hierfür veranschlagte
sie eine MdE von 20 v. H. Sie wies aber darauf hin, dass bei Eintritt des Versicherungsfalles völlige
Erwerbsunfähigkeit vorgelegen habe und der Kläger seit 1988 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit beziehe. Die
Beklagte anerkannte daraufhin mit Bescheid vom 07. Juni 2005 die Berufskrankheit 4103
(Asbeststaublungenerkrankung oder durch Asbeststaub verursachte Erkrankung der Pleura), lehnte jedoch die
Gewährung einer Rente mit der Begründung ab, dass zum Zeitpunkt des Versicherungsfalles völlige
Erwerbsunfähigkeit vorgelegen habe.
Hiergegen erhob der Kläger am 16. Juni 2005 Widerspruch. In einer weiteren Stellungnahme vom 03. August 2005
wies Frau Dr. RR. darauf hin, dass der Kläger schon 1988 und 1995 Herzinfarkte erlitten habe. Aufgrund einer
Stellungnahme des Hausarztes B. K. vom 01. Februar 2006 änderte Dr. RR. ihre Auffassung und kam zu dem
Ergebnis, dass eine massive Verschlechterung erst nach dem 09. November 2004 eingetreten sei. Durch
Widerspruchsbescheid vom 07. Juli 2006 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner am 11. Juli 2006 erhobenen Klage. Er ist der Auffassung, dass zum
Zeitpunkt des Versicherungsfalles (09. November 2004) noch nicht eine völlige Erwerbsunfähigkeit vorgelegen habe,
weswegen ihm die Beklagte eine Rente gewähren müsse.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 07. Juni 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
07. Juli 2006 zu verurteilen, dem Kläger aufgrund der anerkannten Berufskrankheit Nr. 4103 eine Rente auf
unbestimmte Zeit nach einer MdE von mindestens 20 v. H. ab 9. November 2004 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Auffassung, dass die angefochtenen Bescheide nicht zu beanstanden seien.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens von Prof. Dr. F. nach Aktenlage. Dieser kam mit
seinem kardiologischen Gutachten vom 18. Juli 2008 zu der Auffassung, dass der Kläger möglicherweise noch als
Pförtner oder Telefonist hätte tätig sein können und somit nicht völlige Erwerbsunfähigkeit vorgelegen habe. Auf
dieses Gutachten wird Bezug genommen.
Dem Gericht lagen weiter vor die Beklagtenakte (). Auf ihren Inhalt und den der Gerichtsakte, welche Gegenstand der
mündlichen Verhandlung waren, wird im Übrigen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig, sie ist jedoch nicht begründet.
Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 02.05.2001 - B 2 U 24/00 R -) ist die Bemessung des
Grades der MdE, also die aufgrund § 56 Abs. 2 SGB VII durch eine Schätzung vorzunehmende Festlegung des
konkreten Umfangs der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens
ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens), "eine tatsächliche
Feststellung, die das Gericht gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des
Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft" (BSGE 4, 147, 149; BSG Urteil vom 23. April 1987 - 2 RU 42/86 - HV-Info
1988, 1210 und zuletzt Urteil vom 27. Juni 2000 - B 2 U 14/99 R - SozR 3-2200 § 581 Nr. 7, jeweils mwN). Neben der
Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Versicherten ist dabei die Anwendung medizinischer
sowie sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen
auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens erforderlich.
Als Ergebnis dieser Wertung ergibt sich die Erkenntnis über den Umfang der dem Versicherten versperrten
Arbeitsmöglichkeiten. Hierbei kommt es stets auf die gesamten Umstände des Einzelfalles an (BSG zuletzt Urteil
vom 19. Dezember 2000 - B 2 U 49/99 R -). Bei BKen richtet sich die MdE - wie bei den Unfallfolgen - einerseits nach
der Schwere des noch vorhandenen akuten Krankheitszustands (BSGE 47, 249, 252 = SozR 5670 Anlage 1 Nr. 5101
Nr. 3) sowie andererseits nach dem Umfang der dem Erkrankten verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem
gesamten Gebiet des Erwerbslebens (BSG Urteil vom 29. April 1980 - 2 RU 60/78 - HVBG RdSchr. VB 137/81 vom
25. Juni 1981; BSG SozR 5677 Anlage 1 Nr. 46 Nr. 3; BSG SozR 2200 § 581 Nr. 22). Die Beurteilung, in welchem
Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten oder des an einer BK Erkrankten durch die Folgen
des Unfalls oder durch die BK beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Bei der
Beurteilung der MdE sind aber auch die zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie von
dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen
Erfahrungssätze zu beachten, die zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend sind, aber Grundlage für eine
gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis bilden und einem ständigen
Wandel unterliegen (vgl. BSG SozR 2200 § 581 Nrn. 23 und 27; BSG SozR 3-2200 § 581 Nr. 5; BSG Urteil vom 19.
Dezember 2000, aaO; Brackmann/Burchardt, SGB VII, § 56 RdNr. 71)."
Unter Beachtung dieser Grundsätze ist die Kammer, wie die Beklagte, zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger
im Zeitpunkt des Versicherungsfalles (09. November 2004) völlig erwerbsunfähig war. Wie Prof. Dr. F. in seinem
Gutachten vom 18. Juli 2008 ausführlich dargelegt hat, besteht bei dem Kläger seit 1988 eine schwere koronare
Zweigefäßerkrankung mit einer nicht anhaltenden ventrikulären Tachykardie mit eingeschränkter linksventrikulärer
Funktion, initial mit einer Ejektionsfraktion von 30 bis 35 % im Verlauf unter antikongestiver Therapie und Steigerung
der Ventrikelfunktion auf ca. 40 % mit aneurysmatischer Aufweitung des Apex sowie verkalktem Ventrikelthrombus.
Weiter hatte der Kläger 1988 und 1995 einen Vorderwand- und ein Hinterwandinfarkt erlitten. Außerdem besteht ein
Zustand nach rezidivierenden Apoplexen 2000, Reapoplex 2001 mit initialer Hemiparese links, Armbetonung sowie
Facialisparese links (im Verlauf rückläufige Symptomatik), Reapoplex 08/02, linkshämisphärisch mit Hemiplegie
rechts, sensomotorische Aphasie, Sprachstörungen, Einschränkungen der Feinmotorik des rechten Armes (nach
Rehabilitation nur noch geringe Koordinationsstörung des rechten Armes sowie komplette Rückbildung der
Sprachstörung), Zustand nach Blasenkarzinom 2005 mit TUR-Blase, bekannter COPD mit Emphysem, absolute
Arrhythmie bei Vorhofflimmern, Karotissklerose der Arteria carotis interna links 50 % und eine Hyperlipoproteinämie.
Die von Dr. RR. gebrauchte Diagnose einer Multimorbidität bestätigt dieses Krankheitsbild. In Anbetracht dieser
medizinischen Befunde hatte das Gericht die Auffassung des Gutachters zu überprüfen, dass der Kläger noch leichte
körperliche und geistige Tätigkeiten z. B. als Pförtner, Telefonist oder ähnliches hätte durchführen können.
Abgesehen davon, dass der Kläger mit diesem Gesundheitsbild keinen Arbeitsplatz finden würde, ist die Kammer
auch davon überzeugt, dass bei diesem verbliebenen Leistungsvermögen eine Tätigkeit von auch nur 3 Stunden
täglich dem Kläger im November 2004 nicht möglich war. Die von dem Gutachter herangezogenen GdB-Werte von 80
v. H. sind in diesem Zusammenhang nicht zu berücksichtigen. Die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft
folgt anderen Grundsätzen als die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit in der Unfallversicherung. Da der
Kläger auch die Merkzeichen B und G seit 2003 anerkannt bekommen hat und auch schon damals in Pflegestufe I
eingruppiert war, erscheint es für die Kammer ausgeschlossen, dass der Kläger noch ein Restleistungsvermögen
hatte, mit dem er in der Lage gewesen wäre auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens noch eine
Arbeitsmöglichkeit zu finden. Das vom Gutachter herangezogene Kriterium, dass der Kläger alleine angeln könne und
da eine Ergometrie von 75 Watt in 11/03 festgestellt worden sei, reicht nach Überzeugung der Kammer nicht aus, hier
noch von einer Resterwerbsfähigkeit zu sprechen. Die Kammer konnte nicht der Stellungnahme von Dr. K. vom 01.
Februar 2006 folgen, der eine Kassierertätigkeit in einem Museum oder auf einem Parkplatz angesprochen hatte.
Auch auf die weiteren Ausführungen von Herrn K., dass der Kläger erwerbsfähig gewesen sei, werde unterstützt durch
die Tatsache, "dass er seinerzeit bis ca. Mitte 2005 noch in seinem Feriendomizil etwa 25 km vom Wohnort entfernt,
sich über mehrere Tage sogar ohne Begleitung durch die Ehefrau aufhalten konnte und seinem Hobby, dem Angeln,
nachgehen konnte", konnte sich die Kammer nicht stützen. Denn derselbe Arzt hatte gegenüber dem Versorgungsamt
Bremen am 03. November 2003 mitgeteilt, dass beim Kläger wegen des zusätzlich bestehenden chronischen
Vorhofflimmerns weiterhin Makumarmedikation bestünde. "Ansonsten ist im Verlauf des letzten Jahres doch eine
Verschlechterung eingetreten bezüglich der körperlichen Belastbarkeit, der Gangunsicherheit mit Schwindelattacken
auf dem Boden der Karotisstenose. Die notwendigen Gänge in meine Praxis komme hauptsächlich zur Kontrolle der
Quickwerte kann Herr A. nur noch in Begleitung seiner Ehefrau zurücklegen." In Anbetracht der medizinischen
Befunde, wie sie sich aus der Akte ergeben und von der Beklagten dokumentiert sind, ist die Kammer davon
überzeugt, dass der Kläger auch im Zeitpunkt des Versicherungsfalles November 2004 erwerbsunfähig war und ein
Restleistungsvermögen nicht mehr vorgelegen hat. Demzufolge waren die angefochtenen Bescheide nicht zu
beanstanden und die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.