Urteil des SozG Bremen vom 04.09.2009

SozG Bremen: treu und glauben, verwaltungsakt, rückforderung, verjährung, hinterbliebenenrente, altersrente, verwirkung, berufungsschrift, zukunft, auflage

Sozialgericht Bremen
Urteil vom 04.09.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Bremen S 8 R 252/08
Die Bescheide vom 30. November 2007 und 1. Juli 2008 werden insoweit aufgehoben, als von der Klägerin überzahlte
Renten-beträge wegen unterbliebener Einkommensanrechnung für den Zeitraum vom 1. Februar 1993 bis 31. März
2007 zurückgefor-dert werden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Beklagte hat der Klägerin deren
außergerichtliche Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Rückforderung überzahlter Rentenbeträge streitig.
Die Beklagte gewährte der am 21. Mai 1932 geborenen Klägerin mit Bescheid vom 9. Juni 1993 ab 1. Februar 1993
eine Hinterbliebenenrente. Anlässlich der Antragstellung hatte die Klägerin angegeben, dass sie von der damaligen
Landesversicherungsanstalt Oldenburg-Bremen eine Rente aus eigener Versicherung beziehe. Der Bescheid vom 9.
Juni 1993 ent-hielt folgenden Hinweis: "Ich habe zunächst auf die Durchführung der Einkommensanrech-nung gemäß
§ 97 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Sechstes Buch (SGB VI) verzich-tet, da Ihr monatliches Einkommen
zur Zeit den monatlichen Freibetrag nicht überschreitet bzw. nach § 314 Abs. 3 SGB VI im ersten Jahr nach dem
Tode des Versicherten die Vor-schriften über die Einkommensanrechnung nicht angewendet werden. Ich werde die
Einkom-mensanrechnung zu einem späteren Zeitpunkt nachholen. Dieser Bescheid gilt als Vor-schussbescheid im
Sinne von § 42 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I). Der Vor-schuss ist auf die Rente anzurechnen. Soweit
der Vorschuss die Rente übersteigt, ist er vom Empfänger zu erstatten (§ 42 Abs. 2 SGB I)".
Im Februar 2007 stellte die Beklagte fest, dass in der Vergangenheit keine Einkommensan-rechnung geprüft worden
sei. Auf Anfrage teilte die Deutsche Rentenversicherung Oldenburg-Bremen der Beklagten mit, dass sie der Klägerin
ab 1. Juni 1992 eine Altersrente gewähre. Die Beklagte stellte daraufhin fest, dass die Altersrente ab dem Zeitpunkt
der Gewährung der Hinterbliebenenrente bei der Prüfung einer etwaigen Einkommensanrechnung nicht berück-sichtigt
worden war. Sie ermittelte eine Überzahlung von EUR 3.126,29 und ab 1. Mai 2007 eine monatliche Rente von EUR
444,45. Dies teilte die Beklagte der Klägerin im März 2007 mit und kündigte eine Aufrechnung des überzahlten
Betrages gegen die monatliche Rente mit monat-lich EUR 200,- an. Die Klägerin machte daraufhin geltend, dass die
gezahlte Leistung verbraucht sei, da seit dem erstmaligen Rentenbescheid fast 14 Jahre vergangen seien. Mit
Bescheid vom 13. März 2007 stellte die Beklagte die Rente der Klägerin neu fest.
Mit Bescheid vom 30. November 2007, der Klägerin zugegangen am 3. Januar 2008, hob die Beklagte den Bescheid
vom 9. Juni 1993 mit Wirkung vom 1. Februar 1993 insoweit auf, als die Rente ab dem 1. Mai 2007 noch in Höhe von
EUR 444,45 zu zahlen und der für die Vergan-genheit überzahlte Betrag von insgesamt EUR 3.126,29 zu erstatten
sei. Rechtsgrundlage sei § 42 Abs. 2 SGB I. Danach seien Vorschüsse, soweit sie die zustehende Leistung
überstiegen, vom Empfänger zu erstatten. Hierauf sei die Klägerin im Bescheid vom 9. Juni 1993 ausdrück-lich
hingewiesen worden. Aufgrund der Berücksichtigung der Altersrente der Klägerin habe sich ab 1. Februar 1994 ein
geringerer Zahlbetrag ergeben. Der überzahlte Betrag für die Zeit vom 1. Februar 1994 bis 30. April 2007 von EUR
3.126,29 sei von der Klägerin zu erstatten.
Hiergegen legte die Klägerin am 11. Februar 2008 Widerspruch ein.
Im Zuge der weiteren Bearbeitung führte die zuständige Sachbearbeiterin im Februar 2008 aus, dass eine Verjährung
auch 14 Jahre nach dem Vorschussbescheid wohl noch nicht ein-getreten sei. Sie schlug gemäß § 42 Abs. 3 SGB I
vor, die Forderung endgültig niederzu-schlagen. Es könne nicht angehen, dass ein Versicherter 14 Jahre auf eine
endgültige Ent-scheidung warten müsse. Er müsste zwischenzeitlich nach Treu und Glauben davon ausge-hen, dass
es sich hier um eine endgültige Entscheidung gehandelt habe. Der Zusatz im Vor-schussbescheid hätte auch so
gedeutet werden können, dass nach einem Jahr eine erneute Prüfung der Einkommensanrechnung erfolge und die
Beklagte sich nur melde, wenn eine Än-derung eingetreten sei.
Die Beklagte bot der Klägerin daraufhin vergleichsweise an, auf die Hälfte der Forderung zu verzichten und die
Restforderung in monatlichen Raten von EUR 50,- zu tilgen. Die Klägerin nahm das Vergleichsangebot nicht an und
erklärte sich lediglich zu einer Rückzahlung von EUR 47,78 für die Monate März und April 2007 bereit.
Mit Widerspruchsbescheid vom 1. Juli 2008 wies die Beklagte den Widerspruch als unbe-gründet zurück: nach § 42
Abs. 2 SGB I seien die Vorschüsse auf die zustehende Leistung anzurechnen. Soweit sie diese überstiegen, seien
sie vom Empfänger zu erstatten. § 50 Abs. 4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – SGB X – gelte entsprechend (§ 42
Abs. 2 SGB I). Für die Stundung, Niederschlagung und den Erlass des Erstattungsanspruchs gelte nach § 42 Abs. 3
SGB I § 76 Abs. 2 Sozialgesetzbuch - Viertes Buch (SGB IV). Nach § 50 Abs. 4 SGB X ver-jähre der
Erstattungsanspruch in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Verwaltungsakt nach Abs. 3
(Verwaltungsakt über die Feststellung des Erstattungsanspruchs) unanfechtbar geworden sei. Für die Hemmung, die
Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gälten die Vorschriften des Bürgerlichen
Gesetzbuches (BGB) sinn-gemäß. § 52 bleibe unberührt. Für die Berechnung der Verjährung sei der Zeitpunkt des
Ent-stehens des Erstattungsanspruches maßgebend. Der Erstattungsanspruch entstehe mit dem Zeitpunkt der
endgültigen Leistungsfeststellung. Die endgültige Leistungsfeststellung sei mit Bescheid vom13. März 2007 erfolgt,
so dass eine Verjährung noch nicht eingetreten sei.
Die Klägerin erhob am 28. Juli 2008 Klage, mit der sie sich weiterhin gegen die angefochte-nen Bescheide wehrt. Sie
macht geltend, dass die Rückforderung der überzahlten Rentenbe-züge durch Zeitablauf verwirkt sei.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,
die Bescheide vom 30. November 2007 und 1. Juli 2008 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,
die Klage abzuweisen.
Sie beruft sich im Wesentlichen auf die Begründungen der angefochtenen Bescheide.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhand-lung gemäß § 124 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.
Die die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten der Beklagten (2 Bände; Az. 123456) sowie die Gerichtsakte haben
dem Gericht vorgelegen. Soweit das Urteil darauf beruht, war der In-halt dieser Akten Gegenstand der Beratung.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und zum überwiegenden Teil begründet.
Der Rückforderungsanspruch ist nicht verjährt. Nach § 42 Abs. 2 SGB I sind die Vorschüsse auf die zustehende
Leistung anzurechnen. Soweit sie diese übersteigen, sind sie vom Emp-fänger zu erstatten. § 50 Abs. 4 SGB X gilt
entsprechend. Hiernach verjährt der Erstattungs-anspruch in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der
Verwaltungsakt nach Abs. 3 unanfechtbar geworden ist (Satz 1). Nach § 50 Abs. 3 Satz 1 ist die zu erstattende
Leistung durch schriftlichen Verwaltungsakt festzusetzen. Der Verwaltungsakt im Sinne des § 50 Abs. 3 SGB X ist
der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 30. November 2007, der noch nicht unanfechtbar geworden ist.
Der Rückforderungsanspruch ist jedoch verwirkt.
Verwirkung liegt vor, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung eines Anspruchs längere Zeit verstrichen ist und
besondere Umstände hinzutreten, aufgrund derer die verspätete Gel-tendmachung gegen Treu und Glauben verstößt.
Die Verwirkung ist ein Sonderfall der unzu-lässigen Rechtsausübung. Der Verstoß gegen Treu und Glauben liegt in der
illoyalen Verspä-tung der Geltendmachung des Rechts. Das ist namentlich der Fall, wenn der Schuldner aus dem
Verhalten des Gläubigers hat entnehmen müssen, dass dieser den Anspruch nicht mehr geltend machten wolle, wenn
er also mit dem Anspruch nicht mehr zu rechnen brauchte (vgl. Palandt u. a., Bürgerliches Gesetzbuch – BGB -,
Kommentar, 65. Auflage, München 2006, § 242 BGB. Rdnr. 87).
Der ursprüngliche Bescheid vom 9. Juni 1993 über die Gewährung einer Hinterbliebenenrente enthält zwar den
Hinweis, dass es sich um eine Zahlung von Vorschüssen handele und diese bei einer späteren Prüfung einer
Einkommensanrechnung ggfs. auf die endgültige Rente an-zurechnen seien. Eine Prüfung, ob eine
Einkommensanrechnung vorzunehmen sei, erfolgte jedoch erst 14 Jahre später. Nach einem so langen Zeitraum
musste die Klägerin nicht mehr mit einer Einkommensanrechnung und einer Rückforderung überzahlter Rentenbeträge
rech-nen. Sie durfte darauf vertrauen, dass die Beklagte eine Einkommensanrechnung geprüft und etwaige
Rückforderungsansprüche nicht bestanden. Die Beklagte hat die Klägerin auch zu keinem Zeitpunkt während der
gesamten 14 Jahre darauf hingewiesen, dass eine Überprü-fung noch erfolge. Offensichtlich war die Akte bei der
Beklagten "in Vergessenheit" geraten.
Ein Vertrauen auf die Richtigkeit der ursprünglichen Rentenhöhe konnte allerdings nur mit Wirkung für die
Vergangenheit entstehen. Die Klägerin hat keinen Anspruch darauf, dass eine Einkommensanrechnung auch für die
Zukunft nicht in Betracht kommt. Die Rückforderung überzahlter Rentebeträge für die Monate März und April 2007 ist
daher nicht zu beanstanden.
Der Klage war daher in überwiegendem Umfang stattzugeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
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Rechtsmittelbelehrung:
Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden.
Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim Landessozialgericht Nie-dersachsen-
Bremen, Georg-Wilhelm-Straße 1, 29223 Celle oder bei der Zweigstelle des Landessozial-gerichts Niedersachsen-
Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen schriftlich oder mündlich zur Nieder-schrift des Urkundsbeamten der
Geschäftsstelle einzulegen.
Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Monatsfrist bei dem
Sozialgericht Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen
schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.
Die Berufungsschrift muss innerhalb der Monatsfrist bei einem der vorgenannten Gerichte eingehen. Sie soll das
angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begrün-dung der Berufung dienenden
Tatsachen und Beweismittel angeben.
Ist das Urteil im Ausland zuzustellen, so gilt anstelle der oben genannten Monatsfrist eine Frist von drei Monaten.
Der Berufungsschrift und allen folgenden Schriftsätzen sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.