Urteil des SozG Braunschweig vom 04.05.2009

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Sozialgericht Braunschweig
Urteil vom 04.05.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Braunschweig S 14 U 60/06
Der Bescheid des Beklagten vom 27. Oktober 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 2006 wird
aufgehoben. Es wird festgestellt, dass das Unfallereignis des Klägers vom 13. Februar 1999 ein Versicherungsunfall
gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 13 a SGB VII ist. Der Beklagte erstattet dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen
Kosten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über das Vorliegen eines Versicherungsfalls.
Am Samstag, den 13. Februar 1999 fand in der Gaststätte "I." in J., K., eine Musikveranstaltung statt. Es traten zwei
Gruppen auf – "L." und "M.". Die Besucher, Anhänger der Oldie-Punk-Szene und zum Teil Skinheads, waren
überwiegend deutsche Staatsangehörige. Ein größerer Teil befand sich innerhalb der Gaststätte. Auch auf dem
Gehweg und der Straße vor der Gaststätte hielt sich regelmäßig eine Vielzahl von Besuchern auf.
Zwischen den Gästen der Musikveranstaltung und überwiegend türkischen Staatsangehörigen ist es im Verlaufe des
Abends zu Auseinandersetzungen gekommen, die zu einer Massenschlägerei mit mehreren Verletzten und nicht
unerheblichen Sachschäden eskalierte.
Der am 13. Mai 1966 geborene Kläger mit türkischer Staatsangehörigkeit arbeitete am 13. Februar 1999 bis circa
23:00 Uhr in der Gaststätte seines Schwagers, dem "N." in der O. in J ... Ausweislich der schriftlichen Bestätigung
des Inhabers dieser Gaststätte vom 17. August 2005 war der Kläger im Jahre 1999 dort als Küchenhilfe auf Probe
beschäftigt und sollte fest eingestellt werden. Hierzu kam es jedoch nicht. Seit dem 1. Februar 2007 bezieht der
Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung von der Deutschen Rentenversicherung.
Der Kläger wollte nach dieser Arbeit in die Wohnung seines Schwagers in die P. in J., um diesen dort zu besuchen.
Hierbei handelt es sich um einen Weg in entgegen gesetzter Richtung zum eigenen Wohnsitz des Klägers; der direkte
Heimweg beträgt 0,9 km, der Weg zur Wohnung des Schwagers in anderer Himmelsrichtung 2,4 km.
Auf dem Weg dorthin kam er an der Gaststätte "I." vorbei. Eine Schlägerei war in diesem Zeitpunkt noch nicht im
Gange. Vielmehr hatten sich viele Personen erregt unterhalten und es wurde herumgeschubst. In dieser
Menschenansammlung erkannte der Kläger unter anderem seinen Neffen Q., der sich in Begleitung eines anderen
Jungen befand. Da er wissen wollte, was sein Neffe dort mache, bewegte er sich auf die Gruppe zu. Die Situation war
bereits angespannt. Auf Grund der Schubsereien befürchtete der Kläger, dass seinem Neffen etwas zustoßen könnte.
Der Kläger sagte bei seinem Hinzutreten sinngemäß: "Was ist denn hier los, lasst die Jungen zufrieden!" Ihm wurde
daraufhin sofort eine zersplitterte Flasche an den Kopf geworfen. Nach dem Flaschenwurf kam es zu einer Schlägerei.
In Folge dieses Flaschenwurfes erlitt der Kläger eine Bulbusverletzung des linken Auges. Trotz notfallmäßiger
Behandlung in der Augenklinik des R. konnte die Sehfähigkeit nicht wiederhergestellt werden. Es besteht ein Zustand
nach Prothesenversorgung links sowie eine Lidfehlstellung. Seither kamen psychologische Beeinträchtigungen hinzu.
Der mutmaßliche Täter, circa 17 Jahre alt, kurze stoppelige Haare, Bomberjacke zum Tatzeitpunkt, konnte nicht
ermittelt werden. Mit Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Braunschweig vom 20. August 1999,
Aktenzeichen 100 UJs 34758/99, wurde das Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung eingestellt.
Am 20. Dezember 1999 beantragte der Kläger die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem
Opferentschädigungsgesetz. Mit rechtskräftigem Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 27. August 2004,
Aktenzeichen S 12 VG 19/00, wurde dem Kläger aufgrund des streitigen Ereignisses eine Beschädigtenversorgung
seit Februar 1999 auf Dauer nach einer MdE in Höhe von 30 vom Hundert gewährt.
Am 25. April 2004 wand sich das verurteilte Land an den Beklagten und machte vorsorglich einen
Erstattungsanspruch geltend. Gegenüber dem Land teilte der Beklagte mit Schreiben vom 24. November 2004 mit,
dass ein Versicherungsfall nicht vorliege.
Am 6. September 2005 wandte sich der Kläger an den Beklagten direkt und machte Ansprüche nach dem SGB VII
auf Grund des angeschuldigten Ereignisses geltend. Mit Bescheid vom 27. Oktober 2005 lehnte der Beklagte die
Anerkennung des Ereignisses vom "14. Februar 1999" – hierbei dürfte es sich um ein redaktionelles Versehen
handeln – als Versicherungsfall ab. Der Widerspruch des Klägers hiergegen wurde mit Widerspruchsbescheid vom 19.
April 2006 zurückgewiesen.
Der Kläger hat am 22. Mai 2006 Klage erhoben. Mit Beschluss der Kammer vom 8. September 2008 hat das Gericht
die Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel & Gaststätten zum Verfahren beigeladen. Diese hat mit Bescheid vom 7.
Oktober 2008 ebenfalls das Vorliegen eines Versicherungsfalls abgelehnt. Der Kläger hat die gegen die Beigeladene
gerichtete Klage in der mündlichen Verhandlung vom 4. Mai 2009 zurückgenommen.
Der Kläger beantragt weiterhin,
1. den Bescheid des Beklagten vom 27. Oktober 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 2006
aufzuheben und 2. sein Unfallereignis vom 13. Februar 1999 als Versicherungsfall festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Außer der Gerichtsakte haben der den Kläger betreffende Verwaltungsvorgang des Beklagten sowie die beigezogene
Verfahrensakte des Sozialgerichts Braunschweig, Aktenzeichen S 12 VG 19/00, vorgelegen und waren Gegenstand
der mündlichen Verhandlungen und Entscheidungsfindung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und
des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Akten sowie die Sitzungsniederschriften vom 1.
August 2008 sowie insbesondere vom 4. Mai 2009 ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist gegenüber dem Beklagten begründet.
Das Unfallereignis des Klägers vom 13. Februar 1999 ist ein Versicherungsfall gemäß §§ 7 Abs. 1, 1. Alternative, § 8
Abs. 1 i. V. m. § 2 Abs. 1 Nr. 13 a SGB VII. Die Tenorierung erfolgte insoweit etwas unglücklich; gleichwohl erscheint
sie nicht missverständlich; § 2 Abs. 1 Nr. 13 a SGB VII begründet den Versicherungsschutz kraft Gesetzes für die
Tätigkeit des Klägers zum Zeitpunkt der von ihm erlittenen Körperverletzung. Es liegt ein Versicherungsfall im Sinne
eines Arbeitsunfalls vor. Der Bescheid des Beklagten vom 27. Oktober 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 19. April 2006 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Die dritte Alternative des § 2 Abs. 1 Nr. 13 a SGB VII ist einschlägig. Der Kläger wollte am späten Abend des 13.
Februar 1999 seinen Neffen Q. aus einer erheblichen gegenwärtigen Gefahr für dessen Gesundheit retten. Das
Verwandtschaftsverhältnis des Klägers zu seinem Neffen ist hierbei unschädlich. Seine Handlungstendenz war
eindeutig auf die Rettung des Neffen gerichtet. Die aufgeheizte Stimmung am Unfallort, bereits gekennzeichnet durch
Pöbeleien und Schubsereien, entwickelte sich dramatisch. Es war aus Sicht des Klägers nicht ausgeschlossen, dass
Gefahren für die körperliche Integrität seines Neffen bestanden. Eine gegenwärtige Gefahr für dessen Gesundheit ist
festzustellen. Bei der Ansprache der Gruppe durch den Kläger wurde dieser Opfer des Flaschenwurfs. Bereits auf
dem Weg zu seinem Neffen stand der Kläger unter Versicherungsschutz.
Der Hilfeleistungstatbestand im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 13 a SGB VII setzt ein aktives Handeln zu Gunsten eines
Dritten voraus. Hierzu kann bereits ein verbaler Eingriff ausreichen, um den Tatbestand der Hilfeleistung zu erfüllen.
Zur versicherten Tätigkeit gehört auch der Weg zur Rettungshandlung; im Unterschied zu nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB
VII als Beschäftigte oder nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII als Unternehmer freiwillig Versicherten gehört bei den nach §
2 Abs. 1 Nr. 13 a SGB VII als Retter aus einer erheblichen gegenwärtigen Gefahr versicherten Personen der Weg zur
Rettungshandlung schon zu der versicherten Tätigkeit selbst und ist nicht nur eine ihr vorgelagerte Tätigkeit; ab der
Wahrnehmung der Notlage und dem Entschluss zu helfen beginnt die Rettungshandlung, und der Weg zu der Person
in der erheblichen gegenwärtigen Gefahr für ihre Gesundheit ist hierdurch geprägt; dieser Weg bildet mit der
Rettungshandlung einen einheitlichen Lebensvorgang und unterscheidet sich von daher grundsätzlich von den Wegen
anderer Versicherter zu oder im Rahmen ihrer versicherten Tätigkeit; dies gilt auch für die Betriebswege zum Beispiel
als Beschäftigter, weil es bei diesen im Regelfall einer besonderen Eilbedürftigkeit aufgrund der erheblichen
gegenwärtigen Gefahr mangelt, während eine solche Eilbedüftigkeit den Weg des Versicherten nach § 2 Abs. 1 Nr. 13
a SGB VII geradezu prägt (siehe Bundessozialgericht, Urteil vom 12. Dezember 2006, Aktenzeichen B 2 U 39/05 R).
Der Kläger nahm die für seinen Neffen gefährliche Situation wahr und hat sich in vorbildlicher Weise dazu
entschlossen, diesen aus der Gefahrensituation zu befreien. Zu Recht versuchte der Kläger, zunächst mündlich
deeskalierend einzuwirken, was bedauerlicher Weise scheiterte. Auf dem Weg in die Gefahrenzone ist er Opfer des
Flaschenwurfs geworden. Dieses Hinzutreten war bereits Bestandteil der Rettungshandlung, die ihrerseits eine
versicherte Tätigkeit im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 13 a SGB VII ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Die Berufung ist zulässig, § 143 SGG.