Urteil des SozG Berlin vom 02.04.2017

SozG Berlin: vorverfahren, vorbefassung, gerichtsverfahren, verwaltungsverfahren, vertretung, vergleich, form, vergütung, minderung, link

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Gericht:
SG Berlin 164.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 164 SF 1112/09 E
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 2 Abs 2 S 1 RVG, Nr 2401 RVG-
VV, Nr 2503 Abs 1 RVG-VV, Nr
2503 Abs 2 RVG-VV, Nr 3103
RVG-VV
Sozialgerichtliches Verfahren - Rechtsanwaltsvergütung -
vorprozessual entstandene Geschäftsgebühr im Rahmen der
Beratungshilfe - keine Anrechnung auf Verfahrensgebühr für
das anschließende gerichtliche Verfahren
Leitsatz
1. Das Betreiben eines Geschäfts, welches über die Geschäftsgebühr nach Nr 2503 RVG-VV
zur vergüten ist, kann auch in der Vertretung in einem sozialgerichtlichen Vorverfahren
liegen.
2. Der Gebührentatbestand der Nr 3103 RVG-VV ist eine Spezialvorschrift für die
Berücksichtigung der Vorbefassung eines Rechtsanwaltes in einem dem gerichtlichen
Verfahren vorausgehenden Verwaltungs- oder Vorverfahren, wobei diese als lex spezialis der
Anwendung der Anrechnungsvorschrift der Nr 2503 Abs 2 RVG-VV vorgeht und eine
kumulative Anwendung ausschließt. Wird danach ein Rechtsanwalt im Rahmen der
Beratungshilfe in einem sozialrechtlichen Vorverfahren tätig, so ist die dort verdiente
Geschäftsgebühr der Nr 2503 RVG-VV nicht auf die Verfahrensgebühr nach Nr 3103 VV-RVO
des anschließenden gerichtlichen Verfahrens anzurechnen.
3. Die Gebührentatbestände der Nrn. 2401 und 3103 RVG-VV stellen
"Sondergebührentatbestände dar, die im sonstigen Gebührenrecht in dieser Form nicht
vorkommen.
Gründe
I.
Mit Beschluss vom 25. Juli 2005 wurde der Klägerin im Klageverfahren Prozesskostenhilfe
unter Beiordnung der Erinnerungsführerin bewilligt.
Unter dem 15.01.2008 beantragte die Erinnerungsführerin die Gewährung eines
Vorschusses iSd § 47 RVG. Dabei machte sie folgende Gebühren und Auslagen geltend:
Außerdem gab die Erinnerungsführerin an, unter dem 29.03.2005 einen Betrag von
97,44 EUR (brutto) für Beratungshilfe aus der Landeskasse erhalten zu haben.
Mit Beschluss vom 18.01.2008 setzte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle den zu
gewährenden Vorschuss auf den Betrag von 184,45 EUR fest. Dieser Betrag setzt sich
wie folgt zusammen:
Zur Begründung führte die Urkundsbeamtin aus, nach Nr. 2603 II VV RVG sei die
Geschäftsgebühr nach Nr. 2603 VV RVG (70,00 €) zur Hälfte auf ein sich anschließendes
Gerichtsverfahren anzurechnen. Demnach sei hier ein Betrag von 35,00 EUR auf die
Verfahrensgebühr anzurechnen.
Dagegen richtet sich die Erinnerung. Die Beratungshilfe sei für das Vorverfahren gewährt
worden. Nach § 17 Nr. 1 RVG handele es sich bei dem Vorverfahren einerseits und dem
Klageverfahren andererseits jeweils um verschiedene Angelegenheiten. Eine Anrechnung
dürfe nicht erfolgen, da für das sozialgerichtliche Klageverfahren zwei verschiedene
Gebührentatbestände für die Verfahrensgebühr vorgesehen seien, nämlich die
Gebührentatbestände der Nrn. 3102 VV RVG und 3103 VV RVG. Durch die Anrechnung
der Gebühr aus der Beratungshilfe würde eine doppelte Gebührenkürzung vollzogen.
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II.
Die zulässige Erinnerung ist begründet.
Nach § 47 Abs. 1 RVG kann der Rechtsanwalt wegen seiner Vergütung einen Anspruch
gegen die Staatskasse für entstandene Gebühren und Auslagen fordern. Über den
bereits festgesetzten Betrag hinaus hat die Erinnerungsführerin Anspruch auf Zahlung
eines weiteren Vorschusses in Höhe von 41,65 EUR.
Unstreitig kommt vorliegend hinsichtlich der Verfahrensgebühr der Gebührentatbestand
der Nr. 3103 VV RVG zur Anwendung, da die Erinnerungsführerin für die Klägerin bereits
im Vorverfahren, also einem weiteren der Nachprüfung des Verwaltungsakts dienenden
Verwaltungsverfahren tätig war. Der verminderte Gebührenrahmen greift ein, weil die
Vorbefassung im Vorverfahren die Tätigkeit der Prozessbevollmächtigten im
Klageverfahren vereinfacht.
Eine Anrechnung der Geschäftsgebühr nach Nr. 2503 VV RVG (früher 2603 VV RVG) auf
die Verfahrensgebühr nach Nr. 3103 VV RVG scheidet jedoch aus.
Der Gebührentatbestand der Nr. 2503 VV RVG (früher Nr. 2603 VV RVG) bestimmt die
hälftige Anrechnung der Geschäftsgebühr aus der Beratungshilfe auf die Gebühren für
ein anschließendes gerichtliches oder behördliches Verfahren. Voraussetzung ist
demnach, dass der Rechtsanwalt aufgrund bewilligter Beratungshilfe für den
Rechtsuchenden tätig geworden ist, mithin ein Geschäft betrieben hat, denn bloße Rats-
und Auskunftserteilung genügen für die Anwendbarkeit des Gebührentatbestandes der
Nr. 2503 VV RVG regelmäßig nicht. Mithin kann das Betreiben eines Geschäfts, welches
sodann über die Geschäftsgebühr nach Nr. 2503 VV RVG zu vergüten ist, auch in der
Vertretung in einem sozialgerichtlichen Vorverfahren liegen.
Hieraus ergibt sich jedoch, dass der Rechtsanwalt, der für den unbemittelten Mandanten
im Rahmen der Beratungshilfe ein Vorverfahren führt, ohnehin bereits gegenüber dem
Rechtsanwalt, der für die Vertretung im Vorverfahren Gebühren nach Nr. 2400 bzw. 2401
VV RVG liquidiert, schlechter gestellt ist, wie der Vergleich der Gebührenrahmen der
Gebührentatbestände der Nrn. 2400 und 2401 sowie Nr. 3103 VV RVG einerseits mit der
Festgebühr der Nr. 2503 Abs. 1 und 2 sowie Nr. 3103 VV RVG andererseits ergibt.
Hinzukommt, dass die im Vorverfahren verdiente Geschäftsgebühr nach Nr. 2400 VV
RVG nicht auf die Verfahrensgebühr nach Nr. 3103 VV RVG angerechnet wird (auch nicht
zur Hälfte), sondern die Erleichterungen durch die Vorbefassung des Rechtsanwaltes
werden ausschließlich über den niedrigeren Gebührenrahmen der Nr. 3103 VV RVG
berücksichtigt.
Eine andere Sichtweise ergibt auch nicht der Vergleich zu den nach § 197a SGG
kostenpflichtigen Verfahren, in denen keine Beitragsrahmengebühren, sondern
Wertgebühren entstehen. In diesen Fällen kommt trotz Vorbefassung des Rechtsanwalts
im vorangegangenen Verwaltungs- und/oder Vorverfahren beim nachfolgenden
Gerichtsverfahren kein niedrigerer Satzrahmen bei der Gebührenbestimmung zur
Anwendung, sondern die allgemeinen, unverminderten Gebühren nach den Nrn. 3100
und 3101 bzw. 3104 und 3105 VV RVG. Eine Minderung dieser Gebühren wegen der
Vorbefassung des Rechtsanwalts im vorangegangenen Verwaltungsverfahren wird
entweder durch hälftige Anrechnung der im Verwaltungsverfahren verdienten
Geschäftsgebühr nach der Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG vorgenommen (soweit keine
Geschäftsgebühr nach Nr. 2503 VV RVG verdient worden ist) oder eben durch hälftige
Anrechnung der nach Nr. 2503 Abs. 1 VV RVG verdienten Geschäftsgebühr bei
Beratungshilfe. Durch diese hälftige Anrechnung wird bewirkt, dass die Vorbefassung des
Rechtsanwalts gebührenrechtlich Berücksichtigung findet, weil eine Gleichbehandlung
des Rechtsanwalts, der unmittelbar und nur einen Prozessauftrag erhält, mit dem
Rechtsanwalt, der zunächst außergerichtlich tätig war, nicht zu rechtfertigen ist (vgl. BT-
Drs. 15/1971 S. 209, zu Vorbemerkung 3 Abs. 4). Hieraus folgt, dass der Gesetzgeber
die vorgerichtliche Befassung und Honorierung des Rechtsanwaltes (etwa in einem
Verwaltungsverfahren) in einem nachfolgenden, dadurch für ihn weniger aufwändigen
Gerichtsverfahren gebührenmindernd berücksichtigen wollte und zwar bei Ansatz von
Wertgebühren durch die prinzipiell hälftige Anrechnung der vorgerichtlich verdienten
Geschäftgebühr auf die Gebühren im Gerichtsverfahren und bei Ansatz von
Betragsrahmengebühren durch einen verminderten Gebührenrahmen im
Gerichtsverfahren. Damit lässt es sich jedoch nicht vereinbaren, wenn ausschließlich bei
Ansatz von Betragsrahmengebühren und einer vorgerichtlichen Vergütung im Wege der
Beratungshilfe eine doppelte Minderung der Gebühren im Gerichtsverfahren sowohl
durch Anrechnung der hälftigen vorgerichtlichen Beratungshilfegebühr als auch durch
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durch Anrechnung der hälftigen vorgerichtlichen Beratungshilfegebühr als auch durch
einen niedrigeren Gebührenrahmen erfolgt (so mit überzeugender Begründung
Beschluss des SG Dresden vom 27.02.2009, Az.: S 24 SF 180/08 R/F,
www.sozialgerichtsbarkeit.de). Von daher gelangt die Kammer zu dem Schluss, dass der
Gebührentatbestand der Nr. 3103 VV RVG eine Spezialvorschrift für die Berücksichtigung
der Vorbefassung eines Rechtsanwaltes in einem dem gerichtlichen Verfahren
vorausgehenden Verwaltungs- oder Vorverfahren ist, wobei diese als lex spezialis der
Anwendung der Anrechnungsvorschrift der Nr. 2503 Abs. 2 VV RVG vorgeht und eine
kumulative Anwendung ausschließt (so auch Sozialgericht Aachen, Beschluss vom
27.02.2009, Az.: S 9 AS 42/08, www.sozialgerichtsbarkeit.de). Ergebnisgleich positioniert
sich das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen in dem Beschluss vom 18.03.2008,
Az.: L 1 B 21/07 AL, www.sozialgerichtsbarkeit.de.
Soweit unter Berufung auf die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (vgl.
etwa Beschluss vom 30. 04. 2008, Az.: III ZB 8/ 08 m. w. N.) vertreten wird, dass nach
dem eindeutigen Wortlaut eine entstandene Geschäftsgebühr nach Nr. 2503 VV RVG
unter der Voraussetzung, dass es sich um denselben Gegenstand handelt, teilweise auf
die spätere Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens anzurechnen sei und dass
der Gebührentatbestand der Nr. 2503 VV RVG weder auslegungsfähig noch
auslegungsbedürftig sei (so Thüringer Landessozialgericht, Beschluss vom 16.01.2009,
Az.: L 6 B 255/08 SF, www.sozialgerichtsbarkeit.de), kann die Kammer dem nicht
beitreten, denn die Entscheidung berücksichtigt nicht, dass die Gebührentatbestände
der Nrn. 2401 und 3103 VV RVG „Sondergebührentatbestände“ darstellen, die im
sonstigen Gebührenrecht in dieser Form nicht vorkommen, wie die Kammer oben
ausführlich dargelegt hat.
Diese Entscheidung steht dem Beschluss der Kammer vom 13.02.2009 zum Verfahren
S 164 SF 126/09 E nicht entgegen, denn einerseits war in dem vorgenannten Verfahren
die Anrechnung nach Nr. 2503 VV RVG nicht streitgegenständlich und andererseits lag
dem Kostenstreit ein Untätigkeitsklageverfahren zugrunde, bei welchem nach ständiger
Rechtsprechung der Kammer hinsichtlich der Verfahrensgebühr von dem
Gebührentatbestand der Nr. 3102 VV RVG auszugehen ist, nicht hingegen von dem der
Nr. 3103 VV RVG, so dass schon aus diesem Grunde eine Divergenz nicht besteht. Die
Anrechnung der hälftigen Geschäftsgebühr der Nr. 2503 VV RVG auf die
Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 VV RVG ist nach Ansicht der Kammer nicht
ausgeschlossen.
Eine Beschwerde gegen diese Entscheidung ist nicht statthaft, § 178 SGG, vgl.
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20.06.2008, L 1 B 60/08 SF AL;
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 08.05.2009, L 8 B 190/08 SF.
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