Urteil des SozG Berlin vom 15.03.2017

SozG Berlin: diabetes mellitus, europäische union, arzneimittel, hauptsache, gefährdung, verordnung, anhörung, befangenheit, therapie, verwaltungsverfahren

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Gericht:
SG Berlin 79.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 79 KA 1907/06 ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 86b Abs 2 S 1 SGG, § 86b Abs
2 S 2 SGG, § 92 Abs 1 S 1 SGB
5, § 92 Abs 1 S 2 Nr 6 SGB 5, §
130a Abs 8 SGB 5
Einstweiliger Rechtsschutz - Anordnungsgrund - Notwendigkeit
zur Abwendung wesentlicher Nachteile - Rechtmäßigkeit des
Richtlinien-Beschlusses zu kurzwirksamen Insulinanaloga für
Diabetes mellitus Typ 2 - wirtschaftliche Gefährdung durch
Rabattverträge - Existenzbedrohung
Leitsatz
1) Wesentliche Nachteile im Sinne einer wirtschaftlichen Gefährdung als Anordnungsgrund
gemäß § 86 Abs 2 S 2 SGG liegen nicht vor, wenn ein Arzneimittelhersteller durch den
Abschluss von Rabattverträgen erreicht, dass circa 200.000 Patienten weiterhin mit
Insulinanaloga behandelt werden können. Der Nachteil von Rabattverträgen liegt
ausschließlich darin, dass ein Arzneimittelhersteller die von ihm vertriebenen Medikamente
nicht mehr zu dem Preis vertreiben kann, wie er es vorher in Deutschland getan hat; dies
allein bedroht nicht seine Existenz.
2) Das Verfahren des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen
(IQWiG) zur Bewertung des Insulinanalogas und dementsprechend die Bewertung durch den
Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) sind nicht zu beanstanden.
Tenor
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Die Kosten trägt die Antragstellerin.
Der Streitwert beträgt 1 Million Euro.
Gründe
I.
Die Antragsstellerin wendet sich mit dem vorliegenden Verfahren gegen den vom
Antragsgegner am 18. Juli 2006 bzw. 19. September 2006 gefassten Beschluss über die
Aufnahme kurzwirksamer Insulinanaloga zur Behandlung des Diabetes Mellitus Typ II in
die Anlage 10 der Arzneimittelrichtlinien und den damit verbundenen
Verordnungsausschluss sowie gegen den Beschluss vom 10. April 2008, mit dem die
Arzneimittelrichtlinie in Anlage 10 geändert wurde und nunmehr um den folgenden Satz
ergänzt wurde:
„Die gilt nicht für Patienten mit Allergie gegen den Wirkstoff Humaninsulin, bei denen
trotz Intensivierung der Therapie eine stabile adäquate Stoffwechsellage mit
Humaninsulin nicht erreichbar ist, dies aber mit kurzwirksamen Insulinanaloga
nachweislich gelingt, bei denen aufgrund unverhältnismäßig hoher Humaninsulindosen
eine Therapie mit kurzwirksamen Insulinanaloga im Einzelfall wirtschaftlicher ist.“
Die Antragstellerin ist pharmazeutische Unternehmerin und vertreibt unter anderem die
Arzneimittel H und H-M. Beide Arzneimittel sind zentral für die gesamte Europäische
Union zugelassen; dies bedeutet, dass die Zulassung von der Europäischen Kommission
erteilt worden ist. Die Antragstellerin ist laut Fachinformation beider Arzneimittel als
nationaler Vertriebspartner aufgeführt, d.h. die Antragstellerin vertreibt auf eigene
Rechnung die Arzneimittel H und H-M in Deutschland und führt deshalb auch den
Herstellerrabatt nach § 130 a SGB V an die gesetzlichen Krankenkassen ab. H und H-M
gehören zu den so genannten Insulinanaloga. Die Insulinanaloga sind gentechnologisch
hergestellte Arzneimittel, die auf Basis der Molekülstruktur des Humaninsulins durch
eine Modifikation der Aminosäuresequenz entwickelt wurden. Es handelt sich dabei um
ein dem Insulin ähnliches Molekül. Ziel der Insulinanaloga ist, dass diese schneller
resorbiert werden, als normales Insulin. Die Antragstellerin trägt vor, dass in
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resorbiert werden, als normales Insulin. Die Antragstellerin trägt vor, dass in
Deutschland ca. 200.000 Patienten mit Typ 2 Diabetes Mellitus auf Insulinanaloga
eingestellt worden sind.
Die Antragstellerin ist der Auffassung, dass die Beschlüsse des Antragsgegners
rechtswidrig seien. Sie führt aus, dass der Verordnungsausschluss Artikel 3 und 12
Grundgesetz verletze. Außerdem seien die Voraussetzungen der
Ermächtigungsgrundlage nach § 92 Abs. 1 Satz 1 SGB V nicht erfüllt. Die Entscheidung
bezüglich des Ausschlusses von Insulinanaloga sei fehlerhaft zu Stande gekommen. Es
habe keine Anhörung zum Berichtsplan durch das IQWiG stattgefunden. Außerdem liege
die Besorgnis der Befangenheit der Entscheidungsträger beim IQWiG vor, die
Transparenzrichtlinie 98/105/EWG sei nicht beachtet worden. Außerdem habe der
Antragsgegner nicht zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen des
Verordnungsausschusses angehört. Darüber hinaus verstoße die Bewertung durch den
Antragsgegner gegen allgemein anerkannte Erkenntnisse der medizinischen
Wissenschaft. Weiterhin seien die Interessen der zu behandelnden chronisch Kranken
nicht berücksichtigt. Es sei außerdem so, dass die wissenschaftliche Bewertung durch
das IQWiG nicht zutreffend sei und insgesamt die Entscheidung unverhältnismäßig sei.
Der Antragsgegner habe allein wegen der Preisunterschiede zu dem Mittel des
Verordnungsausschlusses gegriffen. Dies sehe das SGB V so nicht vor.
Es sei zwar richtig, dass Rabattverträge mit allen großen Krankenkassen abgeschlossen
worden seien, die Marktverdrängung werde dadurch aber nicht verhindert. Es gebe einen
realen Verlust von circa 10 Millionen Euro von Oktober 2006 bis Februar 2007. Dieser
Verlust errechne sich aufgrund des Preisrückgangs durch die Rabattverträge. Außerdem
seien auch die Mengen der Verordnung durch die Beschlüsse des Antragsgegners
zurückgegangen. Durch die Abänderung des Beschlusses habe sich eine zusätzliche
Beeinträchtigung der Antragstellerin ergeben, denn bisher hätten sich die Ausnahmen in
der Begründung befunden, so dass der Arzt auf der Grundlage des § 31 Abs. 1 Satz 4
SGB V mit besonderer Begründung abweichen konnte. Nunmehr hat der Arzt die
Möglichkeit in weiteren Fällen zu verordnen, so dass die gering geschätzte
Ausnahmequote der Rabattverträge nicht mehr richtig und diese Vertragskalkulation
praktisch nicht änderbar sei.
Dem ist der Antragsgegner entgegengetreten. Er ist der Auffassung, dass ein
Anordnungsgrund nicht gegeben sei. Nach § 130 a Abs. 8 SGB V sei die Möglichkeit zum
Abschluss von Rabattverträgen und somit die Verordnungsfähigkeit der Präparate von
Anbeginn an hergestellt gewesen. Allein die Tatsache, dass das Analoginsulin auf dem
Preisniveau des Humaninsulins abgesenkt werden müsse, ließe nicht die
Rechtswidrigkeit der Beschlüsse folgen. Da die Antragstellerin solche Rabattverträge mit
allen großen Krankenkassen abgeschlossen habe, bestehe keine Gefahr, dass sie aus
dem Markt verdrängt werde. Sie habe auch einen Umsatzeinbruch nicht glaubhaft
gemacht. Ein Anordnungsanspruch sei für den Antragsgegner auch nicht erkennbar, da
das Verfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden sei. Es sei auch eine Anhörung
erfolgt und der Antragsgegner habe sich mit den Stellungnahmen und den Argumenten
des IQWiG auseinander gesetzt. Dementsprechend sei auch materiell-rechtlich kein
Anspruch zu erkennen. Aus der Nutzungsbewertung des IQWiG ergebe sich, dass
kurzwirksame Insulinanaloga bei Typ 2 Diabetes im Vergleich zum Humaninsulin keinen
therapeutischen Zusatznutzen hätten, so dass die Bewertung nicht habe positiv
ausfallen können. Selbst wenn man davon ausginge, dass bei Entscheidungsträgern des
IQWiG Befangenheit vorgelegen habe, hätte dies keine Auswirkungen, da kein
Verwaltungsverfahren bei dem IQWiG durchgeführt werde, sondern erst durch die
Umsetzung der Bewertung durch den Antragsgegner ein Verwaltungsverfahren in Gang
gesetzt werde, da erst dessen Entscheidungen Außenwirkungen haben. Außerdem habe
der Antragsgegner keine Zweifel an der unparteiischen Tätigkeit des IQWiG. Der
Antragsgegner weist außerdem darauf hin, dass auch die Rechtsprechung des BSG
generell von Phase 3 Studien ausgehe. Dies basiere auf dem herrschenden
Bewertungsmaßstab des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V.
Die Beigeladenen haben sich dem Vortrag des Antragsgegners angeschlossen.
Der Bevollmächtigte der Antragstellerin beantragt,
bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens vorläufig den
Beschluss der Antragsgegnerin vom 18. Juli 2006/19. September 2006 in der Fassung
des Beschlusses vom 10. April 2008 zum Verordnungsausschluss der Insulinanaloga in
der Anlage 10 zu den Arzneimittelrichtlinien aufzuheben,
hilfsweise festzustellen, dass der Beschluss der Antragsgegnerin vom 18. Juli 2006 /
19. September 2006 in der Fassung des Beschlusses vom 10. April 2008 zum
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19. September 2006 in der Fassung des Beschlusses vom 10. April 2008 zum
Verordnungsausschuss der Insulinanaloga in der Anlage 10 zu den Arzneimittelrichtlinien
rechtswidrig ist.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Anträge zurückzuweisen.
II.
Der zulässige Antrag ist nicht begründet.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines
vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine
solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (2. Alternative).
Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass ein
Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund vorliegen. Im vorliegenden Verfahren ist
schon ein Anordnungsgrund nicht erkennbar. Bei der so genannten Regelungsanordnung
ist der Anordnungsgrund die Notwendigkeit zur Abwendung wesentlicher Nachteile. Es
soll vermieden werden, dass der Antragsteller vor vollendete Tatsachen gestellt wird,
bevor er wirksam Rechtsschutz erlangen kann. Wesentliche Nachteile im Sinne von Abs.
2 Satz 2 liegen dann vor, wenn bei der Interessenabwägung nach den Umständen des
Einzelfalles für den Betroffenen nicht zumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache
abzuwarten.
Nach Auffassung der Kammer ist hier der Antragstellerin zuzumuten, die Entscheidung
in der Hauptsache abzuwarten, auch wenn bis zur Rechtskraft einer Entscheidung in der
Hauptsache noch einige Zeit vergehen kann. Die Antragstellerin hat durch den
Abschluss der Rabattverträge erreicht, dass die nach ihren Angaben circa 200.000
Patienten weiterhin mit Insulinanaloga behandelt werden können. Demzufolge ist nicht
zu befürchten, dass der Marktanteil der Antragstellerin wegbricht. Einziger Nachteil der
Rabattverträge ist, dass die Antragstellerin die von ihr vertriebenen Medikamente nicht
mehr mit dem Preis vertreiben kann, wie sie es vorher in Deutschland getan hat. Die
Kammer kann jedoch nicht erkennen, dass durch diese Tatsache die Antragstellerin in
ihrer Existenz bedroht ist. Es mag zwar richtig sein, dass die Antragstellerin aufgrund
dessen einige Arbeitsplätze in Deutschland aufgeben muss, aber allein dies führt nicht
zu einer Existenzbedrohung der Antragstellerin, die hier Berücksichtigung finden würde.
Sie hat insofern ihren Vortrag selbst auch dahingehend konkretisiert, dass sie nicht
glaubhaft machen kann, dass die Einstellung des Forschungsstandortes H und die damit
zusammenhängenden Entlassungen Folge der ersten Beschlüsse des Antragsgegners
sind. Allein die Tatsache, dass die Antragstellerin Verluste hinnehmen muss, kann aber
nicht zu der hier begehrten einstweiligen Anordnung führen. Auch die Tatsache, dass die
Antragstellerin nicht mit allen Krankenkassen Rabattverträge hat, kann unberücksichtigt
bleiben, da sie selbst vorgetragen hat, dass sie mit allen großen Krankenkassen diese
Rabattverträge abgeschlossen hat, so dass das Gros der mit Insulinanaloga behandelten
Patienten darunter fällt. Außerdem ist durch die neue Beschlusslage vom 10. April 2008
eine weitere Klarstellung bezüglich der Verordnungsfähigkeit des Insulinanaloga
gegeben, so dass für weitere Patienten eine Verordnung des Insulinanaloga schon aus
diesem Grunde ermöglicht wird. Die Kammer ist der Auffassung, dass die Antragstellerin
nicht glaubhaft machen konnte, dass eine wirtschaftliche Gefährdung für sie bestehen
würde und aus diesem Grunde bereits der Anordnungsgrund hier zu verneinen war.
Darüber hinaus ist auch der Anordnungsanspruch nach Auffassung der Kammer nicht
erfüllt. Die Beschlüsse des Antragsgegners vom 18. Juli 2006 / 19. September 2006 und
10. April 2008 sind nicht offensichtlich rechtswidrig. Die Kammer konnte nicht feststellen,
dass das Verfahren des IQWiG zur Bewertung des Insulinanalogas zu beanstanden
gewesen wäre und dementsprechend die Bewertung durch den Antragsgegner
fehlerbehaftet oder sogar willkürlich vorgenommen worden wäre. Vielmehr ist die von der
IQWiG vorgenommene Auswahl der Studien nachvollziehbar. Auch die dementsprechend
von dem Antragsgegner erfolgte Bewertung ist nicht zu beanstanden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a SGG in Verbindung mit § 154 VwGO.
Der Streitwert richtet sich nach dem wirtschaftlichen Interesse der Antragstellerin an
diesem Verfahren unter Beachtung der Vorläufigkeit der hier begehrten einstweiligen
Regelung. Danach war der Streitwert entsprechend den Angaben der Antragstellerin auf
1 Million Euro festzusetzen.
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