Urteil des SozG Berlin vom 19.05.2008

SozG Berlin: falsche rechtsmittelbelehrung, wohnung, widerspruchsverfahren, ausführung, verwaltungsakt, behörde, form, beratung, amtshandlung, abrede

Sozialgericht Berlin
Gerichtsbescheid vom 19.05.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 107 AS 16031/07
Der Beklagte wird unter Abänderung des Widerspruchsbescheides vom 11. Juli 2007 verurteilt, die dem Kläger für das
Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid vom 29. November 2006 entstandenen notwendigen Kosten dem Grunde
nach zu erstatten. Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klageverfahrens zu
erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Vorverfahrenskosten.
Der 1984 geborene Kläger beantragte bei dem Beklagten am 20.01.2006 die Gewährung einmaliger Beihilfen für die
Erstausstattung der Wohnung gemäß § 22 Abs. 3 SGB II sowie § 23 Abs. 3 SGB II. Durch Bescheid vom 17.05.2006
wurde dem Antrag auf Erstausstattung teilweise in Höhe von 690,88 Euro entsprochen. Durch weiteren Bescheid vom
17.05.2006 wurde der Antrag auf Ersausstattung vom 20.01.2006 teilweise zurückgewiesen, da der Kläger aufgrund
seiner wirtschaftlichen Verhältnisse in der Lage sei, die Kosten hierfür in vollem Umfang aus eigenen Kräften und
Mitteln zu decken. Es sei bei einer Wohnungsbesichtigung festgestellt worden, dass ein Wohnzimmerschrank, eine
Wohnzimmerlampe, eine Korridorlampe, ein Küchentisch sowie eine Küchenlampe bereits vorhanden seien, so dass
für diese Gegenstände kein einmaliger Bedarf im Sinne von § 23 Abs. 3 SGB II anerkannt werden könne.
Gegen den Bescheid vom 17.05.2006 legte der Bevollmächtigte des Klägers unter dem 23.05.2006 Widerspruch ein.
Die teilweise Ablehnung der Übernahme der Erstausstattungskosten sei rechtswidrig, da die als bereits vorhanden
eingestuften Gegenstände erst nach Antragstellung am 20.01.2006 angeschafft worden seien. Die Anschaffung sei
mithilfe eines Darlehens durch die Mutter des Klägers, welches nur im Hinblick auf die erwartete Bewilligung der
Erstausstattung gewährt worden sei, erfolgt. Zudem sei die Schrankwand erst im Juni 2006 zu bezahlen gewesen,
worüber ein Beleg des Versandhauses B durch den Kläger eingereicht wurde.
Durch Bescheid vom 29.11.2006 bewilligte der Beklagte dem Kläger "auf seinen Antrag vom 23.05.2006" die Kosten
für die Erstausstattung der Wohnung (Schrankwand) in Höhe von 100,- Euro. Der Bescheid enthielt die Ausführung,
dass dem Antrag damit in vollem Umfang entsprochen worden sei; als Rechtsmittelbelehrung enthielt der Bescheid
den Hinweis auf die Zulässigkeit des Widerspruchs. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt des Bescheides vom
29.11.2006 Bezug genommen.
Durch Schreiben vom 04.12.2006, welches nicht in der Verwaltungsakte abgelegt ist, dessen Erhalt von dem Beklagte
jedoch auch nicht in Abrede gestellt worden ist, teilte der Bevollmächtigte des Klägers dem Beklagten mit, dass es
sich bei dem Bescheid vom 29.11.2006 um einen Teilabhilfebescheid zum Widerspruch vom 23.05.2006 gehandelt
haben dürfte und die Entscheidung über die weiteren Gegenstände noch ausstehe. Er forderte den Beklagten zur
Klarstellung und vollständigen Entscheidung über den Widerspruch vom 23.05.2006 bis zum 27.12.2006 auf. Eine
Reaktion des Beklagten erfolgte nicht.
Am 29.12.2006 erhob der Bevollmächtigte des Klägers Widerspruch gegen den Bescheid vom 29.11.2006 die
teilweise Ablehnung der Kostenübernahme für die Erstausstattung betreffend, da eine Bewilligung der
Erstausstattungskosten für die weiteren Gegenstände nicht erfolgt sei. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt des
Widerspruchs vom 29.12.2006 Bezug genommen.
Durch Bescheid vom 16.04.2007 bewilligte der Beklagte dem Kläger für die Erstausstattung der Wohnung 65,- Euro
und teilte mit, dass dem Antrag vom 23.05.2006 damit in vollem Umfang entsprochen worden sei. Das an den
Bevollmächtigten gerichtete Anschreiben vom 16.04.2007 enthielt die Ausführung, dass dem Widerspruch vom
23.05.2006 damit in vollem Umfang entsprochen worden sei und die Kosten des Widerspruchsverfahrens auf Antrag
erstattet würden, soweit sei notwendig und nachgewiesen seien.
Durch Widerspruchsbescheid vom 11.07.2007 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers vom 29.12.2006 gegen
den Bescheid vom 29.11.2006 als unzulässig zurück, da der Bescheid vom 29.11.2006 Gegenstand des
Widerspruchsverfahrens gegen den Bescheid vom 17.05.2006 gemäß § 86 SGG geworden sei. Die Kostenerstattung
wurde abgelehnt.
Am 16.07.2007 erhob der Kläger Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 11.07.2007, mit der er die Verurteilung
des Beklagten zur Übernahme der Kosten des Widerspruchsverfahrens gegen den Bescheid vom 29.11.2006 begehrt.
Der Beklagte sei aufgrund der fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung aus Veranlassungsgesichtspunkten zur Übernahme
der Kosten des Widerspruchs zu verurteilen, zumal der Kläger dem Beklagten vor Widerspruchserhebung mit dem
Schreiben vom 04.12.2006 noch 22 Tage Zeit gegeben habe, die falsche Rechtsmittelbelehrung zu korrigieren bzw.
klarzustellen, dass der Bescheid gemäß § 86 SGG Gegenstand des laufenden Widerspruchsverfahrens geworden und
deswegen ein separater Widerspruch nicht erforderlich sei. Das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 01.07.2003
(Az. L 11 RJ 514/03) sowie auch die Ausführungen des BSG im Urteil vom 18.01.2001, Az B 12 KR 42/00 R zu Ziffer
3 würden seine Auffassung stützen, dass die Widerspruchskosten aus Veranlassungsgesichtspunkten zu
übernehmen seien.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Beklagten unter Abänderung des Widerspruchsbescheides vom 11. Juli 2007 zu verurteilen, die dem Kläger für
das Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid vom 29. November 2006 entstandenen notwendigen Kosten dem
Grunde nach zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält an ihrer im Widerspruchsbescheid vertretenen Auffassung fest. Die zitierte Entscheidung des LSG Baden-
Württemberg gehe von einer abweichenden Sachlage aus; zudem werde auf das Urteil des BSG vom 18.12.2001, Az.
B 12 KR 42/00 verwiesen. Auch sei über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 29.11.2006 bereits durch den
Abhilfebescheid vom 16.04.2007 entschieden worden.
Die Beteiligten sind unter dem 20.11.2007 zu der beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid gemäß § 105
SGG angehört worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten
sowie die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet. Der Widerspruchsbescheid vom 11.07.2007 ist rechtswidrig und verletzt den
Kläger hinsichtlich der Entscheidung über die Tragung der Kosten des Widerspruchsverfahrens in seinen Rechten, da
der Kläger dem Grunde nach einen Anspruch auf die Erstattung der Kosten des Widerspruchs gegen den Bescheid
vom 29.11.2006 hat. Zwar sind die Voraussetzungen des § 63 Abs. 1 SGB X vorliegend nicht gegeben, denn der
Widerspruch des Klägers war nicht erfolgreich im Sinne des § 63 Abs. 1 SGB X, sondern unzulässig. Der Bescheid
vom 29.11.2006, mit dem die Bewilligung einer (weitergehenden) Wohnungserstausstattung gemäß § 23 Abs. 3 SGB
II abgelehnt worden ist, ist gemäß § 86 SGB X kraft Gesetztes Gegenstand des laufenden Widerspruchsverfahrens
gegen den Bescheid vom 17.05.2006 geworden. Denn mit dem Bescheid vom 17.05.2006 war bereits über die
Bewilligung der Erstausstattung sowie deren Höhe gemäß § 23 Abs. 3 Nr. 1 SGB II entschieden worden, so dass die
weiteren Bescheide diese Frage betreffend gemäß § 86 SGG Gegenstand des Widerspruchsverfahrens gegen diesen
Bescheid (Widerspruch vom 23.05.2006) geworden sind.
Der Anspruch des Klägers auf die Erstattung der Kosten des Widerspruchs folgt jedoch aus dem sozialrechtlichen
Herstellungsanspruch. Dieser von der Rechtsprechung entwickelte Anspruch ist auf Vornahme einer Amtshandlung
zur Herstellung des Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Versicherungsträger die ihm aus dem
Versicherungsverhältnis erwachsenden Pflichten, insbesondere zur Betreuung und Beratung, ordnungsgemäß
wahrgenommen hätte (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. SozR 1200 § 14 Nr. 9, SozR 1300 § 44 Nr. 13, Urteil
vom 29. Oktober 1991, Az. 13/5 RJ 38/89). Grundlage dieses Anspruchs ist § 14 Satz 1 SGB I. Die Pflichtverletzung
des Beklagten besteht darin, dass er den Bescheid vom 29.11.2006 mit einer sachlich unzutreffenden
Rechtsbehelfsbelehrung versehen hat. Denn entgegen der Rechtsmittelbelehrung ist der Bescheid vom 29.11.2006 –
wie ausgeführt- gemäß § 86 SGG Gegenstand des laufenden Widerspruchsverfahrens geworden. Der Beklagte hat
damit gegen die in § 36 SGB X normierte Pflicht verstoßen, den durch einen schriftlichen Verwaltungsakt
beschwerten Beteiligten über den Rechtsbehelf, die hierfür zuständige Behörde, deren Sitz, die einzuhaltende Frist
und die Form schriftlich zu belehren. Die Pflicht erstreckt sich insbesondere auch darauf, dem Bescheidadressaten
eine inhaltlich zutreffende Rechtsbehelfsbelehrung zu erteilen. Dem Kläger ist aufgrund dieser Pflichtverletzung ein
Schaden entstanden, da er durch die unzutreffende Rechtsbehelfsbelehrung dazu veranlasst wurde, seinen
Bevollmächtigten mit der Einlegung des darin angegebenen Rechtsbehelfs zu beauftragen, wodurch
Honoraransprüche entstanden sind. Die Zubilligung eines Kostenerstattungsanspruchs ist in derartigen Fällen
angesichts der Schwierigkeit bei der (direkten oder analogen) Anwendung des § 86 SGG sowie der umfangreichen, zu
dieser Problematik ergangenen Rechtsprechung interessengerecht. Die Kammer folgt damit der Auffassung des LSG
Baden-Württemberg vom 01.07.2003 zum Aktenzeichen L 11 RJ 514/03, deren Gründe sie nach eigener Prüfung für
zutreffend erachtet. Entgegen der nicht weiter begründeten Ausführungen des Beklagten handelt es sich bei dem
durch das LSG Baden-Württemberg entschiedenen Fall auch nicht um einen solchen mit einer nicht vergleichbaren
Sachlage. Nach Auffassung der Kammer sind vielmehr die maßgeblichen Tatsachen (Widerspruch aufgrund und
entsprechen einer falschen Rechtsmittelbelehrung, die § 86 bzw. § 96 SGG außer Acht lässt) mit der hiesigen
Fallkonstellation durchaus vergleichbar. Der Kostentragungspflicht des Beklagten nach dem sozialrechtlichen
Herstellungsanspruch aus Veranlassungsgesichtspunkten steht auch nicht entgegen, dass für den Bevollmächtigten
des Klägers ohne Zweifel erkennbar gewesen wäre, dass die Rechtbehelfsbelehrung fehlerhaft gewesen sei und er
zutreffend von einer Anwendbarkeit des § 86 SGG ausgegangen wäre. Denn der Bevollmächtigte des Klägers hat dem
Beklagten mit Schreiben vom 04.12.2006 seine Rechtsauffassung zur Frage des § 86 SGG dargelegt und ihn unter
Fristsetzung um Klarstellung vor Ablauf der Widerspruchsfrist aufgefordert. Insofern hat der Beklagte die Einlegung
des Widerspruchs auch durch die -trotz der fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung- nicht erfolgte Reaktion auf diese Bitte
um Klarstellung veranlasst. Dem Bevollmächtigten war es unter Haftungsgesichtspunkten bei dieser Sachlage nicht
zuzumuten, auf seine Rechtsauffassung zu vertrauen und auf die Einlegung des Rechtsbehelfs zu verzichten.
Soweit sich die Beklagte zudem auf das Urteil des BSG vom 18.12.2001, Az. B 12 KR 42/00 R beruft, vermag das
Gericht diesem eine Stützung der Argumentation des Beklagten nicht zu entnehmen. Vielmehr sprechen die
Ausführungen des BSG in diesem Urteil –wie der Bevollmächtigte des Klägers zutreffend ausführt- eher für die
Ansicht des Beklagten. Denn unter Ziffer 3. des Urteils (Rz. 14) führt das BSG aus, dass die dortige Beklagte
aufgrund fehlerhafter Rechtsmittelbelehrungen die Einlegung der Widersprüche durch den Kläger verursacht und
insofern die Kosten für die Widerspruchsverfahren zu tragen habe.
Auch das Argument des Beklagten, dass über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 29.11.2006 bereits durch
den Abhilfebescheid vom 16.04.2007 entschieden worden sei, vermag das Gericht nicht von einer abweichenden
Kostentragungspflicht zu überzeugen. Eine Abhilfeentscheidung würde lediglich zur Unzulässigkeit des Widerspruchs
führen (die, wie bereits ausgeführt, ohnehin vorlag), jedoch nicht der Kostentragungspflicht aus Veranlassungsgründen
aufgrund des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs entgegenstehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt den Erfolg der Rechtsverfolgung.