Urteil des SozG Berlin vom 14.08.2006

SozG Berlin: gefahr, unterbrechung, notlage, darlehen, nachforderung, ratenzahlung, heizung, vorbezug, ermessen, stromversorgung

Sozialgericht Berlin
Beschluss vom 14.08.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 37 AS 6803/06 ER
Der Antragsgegner wird verpflichtet, die Stromnachforderung in Höhe von 456,88 EUR als Darlehen zu übernehmen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin (Ast.) bezieht laufend Alg II sowie einen Zuschlag nach § 24 SGB II in Höhe von derzeit 65 EUR
(ab September 33 EUR).
Erstmals beantragte sie im Januar 2006 die darlehensweise Übernahme einer trotz regelmäßiger Entrichtung der
zweimonatigen Abschläge im Abrechnungszeitraum Dezember 2004 –Dezember 2005 entstandenen
Stromnachforderung von 761,49 EUR. Nach vergeblichem Hin- und Herverweis zwischen JobCenter und Sozialamt
(Ablehnungsbescheid des Sozialamtes vom 16.1.2006, Ablehnungsbescheid des Antragsgegners –Ag.- vom
1.2.2006) vereinbarte die Ast. mit dem Stromversorger eine Ratenzahlung. Wegen einer drastischen Erhöhung der
laufenden Abschlagsforderungen sah sich die Ast. nach dreimaliger Zahlung der vom Stromversorger vorgegebenen
Monatsrate von 75 EUR jedoch außerstande, neben der laufenden Stromrechnung auch noch die Tilgungsrate
aufzubringen. Nach Ankündigung einer Stromsperre zum 1.8.2006 wandte sich die Ast. daher mit Eilantrag vom
31.7.2006 an das Sozialgericht. Außerdem erneuerte sie ihren Antrag auf Gewährung eines Darlehens mit Schreiben
an den Ag. vom 1.8.2006.
Durch Überweisung eines Betrages von 100 EUR konnte die Ast. die angekündigte Stromsperre bislang abwenden.
Sie macht geltend, das Leben in einer toten, dunklen Wohnung nicht ertragen zu können. Sie habe die ihr zumutbaren
Möglichkeiten zur Selbsthilfe ausgeschöpft, darunter die Senkung des laufenden Abschlags auf 40 EUR monatlich,
nachdem sich herausgestellt habe, dass der unerwartet hohe Stromverbrauch in 2005 auf der inzwischen abgestellten
Fehlbedienung eines alten Warmwasserboilers beruhte.
Der Ag. hält dem Antrag entgegen, dass der Stromverbrauch durch ein unwirtschaftliches Verhalten verursacht
worden sei und die Ast. zumutbare Selbsthilfemöglichkeiten, wie z.B. den Wechsel des Stromanbieters nicht genutzt
habe. Überdies sei der Ablehnungsbescheid vom 1.2.2006 nicht angefochten worden.
II.
Der nach § 86 b Abs. 2 SGG zulässige Antrag ist auch begründet. Die Ast. hat Anspruch auf Gewährung eines
Darlehens zum Ausgleich der Stromnachforderung. Die Höhe der aktuellen Forderung hat das Gericht dem Schreiben
der Ast. vom 4.8.2006 entnommen (556,88 EUR Restforderung abzüglich der am 2.8.2006 gezahlten 100 EUR).
Die Bestandskraft des Ablehnungsbescheides vom 1.2.2006 steht dem nicht entgegen. Denn zum einen hatte der Ag.
dem Bescheid ein Schreiben beigefügt, in dem er bei Gefahr einer Stromsperre bei Erfüllung der im Schreiben
genannten Selbsthilfebemühungen die Prüfung der Übernahme eines Darlehns in Aussicht stellt, zum anderen hat die
Ast. am 1.8.2006 einen neuen Antrag gestellt. Dass zuvor das Sozialgericht angerufen wurde, macht den Antrag
wegen Bekräftigung der Ablehnungsentscheidung im Eilverfahren nicht unzulässig.
Mit Nachweis der Ankündigung einer Stromsperre seitens des Stromversorgers hat die Ast. einen Anordnungsgrund
hinreichend dargetan. Die Anfang August überwiesenen 100 EUR belassen die Stromschulden in einer Höhe, die den
Stromversorger nach seiner Handlungs-praxis nicht von einer Unterbrechung der Energieversorgung abhält.
Der Anordnungsanspruch ergibt sich entweder aus § 23 Abs. 1 SGB II oder § 22 Abs. 5 SGB II. Denn nach den
Angaben im Eilantrag, an denen zu zweifeln kein Anlass besteht, verfügt die Ast. über keine ausreichenden Mittel, um
die Stromnachforderung zeitnah ausgleichen zu können. Die daraus erwachsende Gefahr einer Stromsperre gibt der
Ast. einen Rechtsanspruch auf Übernahme der Restforderung:
Bei Ansatz von § 23 Abs. 1 SGB II ist der Anspruch darin begründet, dass im Hinblick auf den sehr knapp
angesetzten Regelsatzanteil für Haushaltsenergie an die in § 23 SGB II zur Gewährung eines Darlehens
vorausgesetzte "Unabweisbarkeit" des zu deckenden Zusatz-bedarfs kein allzu strenger Maßstab angelegt werden
darf; dies betrifft auch die Anstrengun-gen, vom Stromversorger eine Ratenzahlung zu Bedingungen zu bekommen,
die ein Hilfe-bedürftiger ohne Gefahr des Ausfalls einer (hohen) Rate erfüllen kann. Nach Aktenlage und plausibel
vorgetragener Sachverhaltsschilderung lässt sich keine Nachlässigkeit der Ast. im Umgang mit Haushaltsenergie
feststellen. Die Ast. hat sich auch ernsthaft und fortlaufend darum bemüht, die Nachforderung aus eigener Kraft zu
bewältigen.
Wertet man die Stromnachforderung trotz pünktlicher Zahlung der laufenden Abschläge dagegen als reine Schulden,
ist für eine Schuldtilgung zur Abwendung einer Stromsperre nach § 22 Abs. 5 SGB II ebenfalls der Antragsgegner
zuständig; denn der Ast. werden laufend Leistungen für Unterkunft und Heizung erbracht, so dass seit dem 1.4.2006
das JobCenter für die Beseitigung einer durch Schulden eingetretenen Notlage zuständig ist. Dass die Nachforderung
aus Zeiträumen vor dem 1.4.2006 stammt, ist unerheblich (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.6.2006 –
L 25 B 459/06 AS ER).
Weil die regelmäßige Versorgung mit Strom zu den unerlässlichen Mindestbedingungen menschenwürdigen Wohnens
gehört, stellt die Unterbrechung der Stromversorgung eine dem Verlust der Unterkunft vergleichbare Notlage dar (vgl.
auch dazu LSG Berlin-Brandenburg, a.a.O.).
Nach Erschöpfung der der Ast. zumutbaren Selbsthilfebemühungen kann der Ag. das ihm im Rahmen der
Darlehensgewährung nach § 22 Abs. 5 SGB II zustehende Ermessen nur durch Übernahme der Restforderung
sachgerecht ausüben (Ermessensreduktion auf Null). Dass sich die Ast. vorwerfbar unwirtschaftlich verhalten hat oder
gar ein solches Verhalten fortsetzen wird, ist unwahrscheinlich.
Die Modalitäten der Tilgung sind vom Ag. festzulegen. Hierbei dürfte die in § 23 Abs. 1 SGB II angesetzte
Maximalhöhe von 10% der Regelleistung auch für das Darlehen nach § 22 Abs. 5 SGB II den Höchstwert darstellen.
Im vorliegenden Fall bietet sich der Zugriff auf den Zuschlag nach Alg I-Vorbezug als zumutbare Tilgungsrate an.
Im Eilverfahren kann somit letztlich offen bleiben, ob der Anspruch auf § 23 Abs. 1 oder § 22 Abs. 5 SGB II beruht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.