Urteil des SozG Aurich vom 15.02.2006

SozG Aurich: freibetrag, anspruch auf bewilligung, nichteheliche lebensgemeinschaft, verfassungskonforme auslegung, familie, zuschuss, eltern, drucksache, gemeinde, zusammenleben

Sozialgericht Aurich
Urteil vom 15.02.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Aurich S 15 AS 107/05
1. Der Bescheid des Beklagten vom 18.04.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 02.06.2005 wird
aufgehoben, die Bescheide vom 09.05., 06.06., 20.06. und 23.06.2005 werden abgeändert. 2. Der Beklagte wird
verurteilt, die den Klägern für den Zeitraum 01.05. bis 31.10.2005 erbrachten Leistungen als Zuschuss zu bewilligen.
3. Der Beklagte hat den Klägern die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob den Klägern Leistungen nach dem SGB II darlehensweise oder als Zuschuss
zu gewähren sind.
Die Kläger haben 5 Kinder (G., geb. 06.10.1987, H., geb. 27.02.1989, I., geb. 09.01.1991, J., geb. 18.05.1992, K.,
geb. 09.11.1994) und beantragten im Jahre 2004 Leistungen bei der Bundesagentur für Arbeit nach dem SGB II. Die
Arbeitsagentur bewilligte den Klägern zunächst bis einschließlich 30.04.2005 Arbeitslosengeld II. Auf den Folgeantrag
aus März 2005 hin lehnte die Gemeinde L. mit Bescheid vom 18.04.2005 die Bewilligung weiterer Leistungen über den
30.04.2005 hinaus ab. Zur Begründung führte sie aus, die Kläger verfügten neben ihrem selbst genutzten
Hausgrundstück über weitere vier Grundstücke und überschritten damit den Vermögensfreibetrag, so dass sie nicht
bedürftig seien. Die Kläger legten dagegen Widerspruch ein und führten zur Begründung aus, von den Grundstücken
sei lediglich eins bebaubar, im Übrigen handele es sich um Wiesen- bzw. Ackerland. Gleichzeitig beantragten die
Kläger beim Sozialgericht Aurich die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes (S 15 AS 45/05 ER). In einem
Erörterungstermin erklärte sich der Beklagte bereit, zunächst darlehensweise Leistungen zu erbringen, woraufhin
beide Beteiligten das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes für erledigt erklärten.
In Ausführung dieser Vereinbarung bewilligte der Beklagte den Klägern mit Bescheid vom 09.05.2005 bzw. 06.06.2005
monatliche Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum 01.05. bis 31.10 in
Höhe von 802,00 Euro. Mit Widerspruchsbescheid vom 02.06.2005 wies er den Widerspruch der Kläger gegen den
Bescheid der Gemeinde L. vom 18.04.2005 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte der Beklagte aus, die
Grundstücke hätten insgesamt einen Wert von 30.622,00 Euro, hinzu käme ein Bausparvertrag mit einem Wert von
5.249,22 Euro. Die Vermögensgegenstände lägen insgesamt über dem Freibetrag von 23.450,00 Euro, so dass die
Kläger im Ergebnis nicht bedürftig seien.
Mit zwei Bescheiden vom 20.06.2005 erhöhte der Beklagte den Leistungsbetrag für den Zeitraum 01.05. bis
31.10.2005 auf 1.569,00 Euro und mit Bescheid vom 23.06.2005 auf 1.684,00 Euro monatlich, wobei es bei der
darlehensweisen Leistung verblieb.
Mit der dagegen gerichteten Klage tragen die Kläger vor, der Beklagte habe es unterlassen für die minderjährigen
Kinder jeweils einen Freibetrag in Höhe von 4.100,00 Euro zu berücksichtigen. Unter Einbeziehung dieses
Kinderfreibetrages liege das Vermögen jedenfalls unter dem Gesamtfreibetrag der Familie der Kläger. Im Übrigen
belaufe sich der Grundstückswert für die den Klägern allein gehörenden Grundstücke auf ca. 12.000,00 Euro. Das
selbst bewohnte Hausgrundstück gehöre den Klägern nicht alleine und sei im Übrigen hoch belastet.
Die Kläger beantragen,
den Bescheid des Beklagten vom 18.04.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 02.06.2005
aufzuheben und die Bescheide des Beklagten vom 09.05., 06.06., 20.06. und 23.06.2005 abzuändern und den
Beklagten zu verurteilen, den Klägern die gewährten Leistungen nach dem SGB II als Zuschuss zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist der Auffassung, es sei kein gemeinsamer Freibetrag zu bilden. Die Berücksichtigung eines Kinderfreibetrages
komme erst in Betracht, wenn die Kinder auch tatsächlich über Vermögen verfügten, was vorliegend nicht der Fall sei.
Der Wert der Grundstücke belaufe sich auf ca. 34.000,00 Euro.
Das Gericht hat die Verwaltungsakten des Beklagten sowie die Akten des Verfahrens S 15 AS 45/05 ER
(Sozialgericht Aurich) beigezogen und bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt. Wegen der weiteren Einzelheiten
des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Akten ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig, in der Sache ist sie auch begründet.
Die Kläger haben Anspruch auf Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II als
Zuschuss. Das vorhandene Vermögen überschreitet nicht die zu berücksichtigenden Freibeträge, so dass
Hilfebedürftigkeit vorliegt.
Erwerbsfähige Hilfebedürftige erhalten als Arbeitslosengeld II Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
einschließlich der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung (§ 19 Satz 1 Nr. 1 SGB II). Hilfebedürftig ist, wer
seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer
Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem
nicht durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit oder aus dem zu berücksichtigen Einkommen oder Vermögen sichern
kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer
Sozialleistungen erhält (§ 9 Abs. 1 SGB II). Als Vermögen sind alle verwertbaren Vermögensgegenstände zu
berücksichtigen (§ 12 Abs. 1 SGB II), wobei ein Grundfreibetrag in Höhe von 200,00 Euro je vollendetem Lebensjahr
des volljährigen Hilfebedürftigen und seines Partners, mindestens aber 4.100,00 Euro abzusetzen sind (§ 12 Abs. 2
Nr. 1 SGB II). Ferner sind abzusetzen ein Grundfreibetrag in Höhe von 4.100,00 Euro für jedes hilfebedürftige
minderjährige Kind (§ 12 Abs. 2 Nr. 1 a SGB II) und ein Freibetrag für notwendige Anschaffungen in Höhe von 750,00
Euro für jeden in der Bedarfsgemeinschaft lebenden Hilfebedürftigen (§ 12 Abs. 2 Nr. 4 SGB II).
Die Höhe der darlehensweise bewilligten Leistungen ist zwischen den Beteiligten nicht mehr streitig. Unstreitig ist
auch, dass Einkommen einer Leistungsbewilligung nicht entgegensteht und die Hilfebedürftigkeit auch ansonsten
nicht ausgeschlossen ist, so dass es auf die Berechnung des vorhandenen Vermögens ankommt.
Der für die Kläger zu berücksichtigende Freibetrag belief sich für den Ehemann (geb. 10.02.1961) im Januar 2005 auf
8.600,00 Euro (43 x 200,00 Euro) und für die Ehefrau (geb. 14.10.1957) auf 9.400,00 Euro (47 x 200,00 Euro),
insgesamt also auf 18.000,00 Euro. Durch die Erreichung eines neuen Lebensjahres erhöhte er sich im Februar und
Oktober 2005 auf 18.200,00 bzw. 18.400,00 Euro.
Hinzu kam – insoweit ebenfalls unstreitig – ein Anschaffungsfreibetrag in Höhe von 750,00 Euro für jedes Mitglied der
Bedarfsgemeinschaft, insgesamt also 5.250,00 Euro (7 x 750,00 Euro).
Darüber hinaus ist für jedes Kind ein Freibetrag von 4.100,00 Euro, insgesamt für 5 Kinder also 20.500,00 Euro zu
berücksichtigen.
§ 12 Abs. 2 Nr. 1a SGB II wurde durch das 4. SGB III – Änderungsgesetz vom 19.11.2004 (Bundesgesetzblatt I, S.
2902 ff) – in das SGB II eingefügt. In dem Gesetzentwurf der Faktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen (BT-
Drucksache 15/3674) heißt es dazu: "Die Regelung stellt klar, dass allen hilfebedürftigen minderjährigen Kindern, die
Anspruch auf Sozialgeld oder Arbeitslosengeld II haben, ab ihrer Geburt ein Grundfreibetrag von 4.100,00 Euro zur
Verfügung steht. Dies bedeutet, dass jedwedes Vermögen – sei es aus Sparvermögen oder etwa
Ausbildungsversicherung – in dieser Höhe bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes II/Sozialgeldes für das Kind
geschützt bleibt."
In der Kommentarliteratur wird dazu vertreten, es handele sich bei dieser Regelung nicht um einen "Kinderfreibetrag",
der Grundfreibetrag mindere vielmehr nur das Vermögen des Kindes selbst und könne nicht als weiterer Freibetrag
einem erwachsenen Hilfebedürftigen zu Gute kommen (Mecke in Eicher/Spellbrink, Rn 42 zu § 12; Hengelhaupt in
Hauck/Noftz, Kommentar zum SGB II, Rn 139b zu § 12). Zweck der Regelung sei ausschließlich der Schutz des
Vermögens des Kindes selbst (Mecke, a.a.O.).
Nach Überzeugung des Gerichts ist der Freibetrag nach § 12 Abs. 2 Nr. 1a SGB III für jedes Kind zu gewähren, ein
überschießender Betrag ist bei den mit dem Kind in Bedarfsgemeinschaft lebenden Eltern zu berücksichtigen.
Der Wortlaut der Regelung und der Regelungszusammenhang mit Ziffer 1 trägt diese Auslegung in vollem Umfang
(worauf auch Mecke a.a.O. zu Recht hinweist). Ebenso wie es in Ziffer 1 heißt "Vom Vermögen sind abzusetzen ein
Grundfreibetrag in Höhe von 200,00 Euro je vollendetem Lebensjahr des volljährigen Hilfebedürftigen und seines
Partners ...", heißt es parallel dazu in Ziffer 1 a "Vom Vermögen sind abzusetzen ein Grundfreibetrag in Höhe von
4.100,00 Euro für jedes hilfebedürftige minderjährige Kind."
Bei der Anwendung von Ziffer 1, mithin bei den erwachsenen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft, ist – wie der
Beklagtenvertreter im Termin einräumte - in der Praxis der Verwaltungsträger anerkannt, dass ein gemeinsamer
Freibetrag für die Partner gebildet wird, unabhängig davon, ob es sich dabei nun um Ehegatten oder um Partner einer
nichtehelichen Lebensgemeinschaft handelt. An diesem gemeinsamen Freibetrag wird dann das gemeinsam
berechnete Vermögen gemessen, ohne dass es darauf ankäme auf wessen Namen die Verträge lauten. Aufgrund der
parallelen Regelung in Ziffer 1a gebietet der Wortlaut für Familien mit Kindern entsprechend zu verfahren.
Der historische Zusammenhang unterstreicht die Richtigkeit der Verfahrensweise der Verwaltungsträger zu Ziffer 1.
Die Regelung in § 12 Abs. 2 SGB II orientiert sich insgesamt stark an der letzten Fassung der
Arbeitslosenhilfeverordnung, beinhaltet aber auch Elemente aus dem BSHG (vgl. Mecke, a.a.O. Rn 12 unter Hinweis
auf BT-Drucksache 15/1516 Seite 53). Sowohl nach der Vorläuferregelung im BSHG, als auch nach der Regelung im
SGB III (§§ 190 ff SGB III in der bis zum 31.12.2004 gültigen Fassung) bzw. in der AlhiVo wurden die
Vermögensgegenstände der Partner nicht gesondert ermittelt und mit dem individuellen Freibetrag eines jeden
Partners verglichen. Auch hier wurde der Freibetrag gemeinsam ermittelt und mit dem gemeinsamen Vermögen der
Partner verglichen unabhängig davon, auf wessen Namen die Verträge liefen (vgl. zur Rechtslage nach dem SGB III
die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, etwa das Urteil vom 09.12.2004, - B 7 AL 44/04 R - und vom
14.09.2005, - B 11a/11 AL 71/04 R -, in denen ohne Problematisierung dieser Frage ganz selbstverständlich eine
entsprechende Verfahrensweise angewandt wird). In der Entscheidung vom 08.08.1990 (-11 RAr 55/89-) führt das
BSG zu der vergleichbaren Problematik der bei der Arbeitslosenhilfe zu berücksichtigenden Einkommensfreibeträge
aus, dass es insoweit nicht darauf ankomme, auf wessen Namen etwa die Versicherungen abgeschlossen seien, die
das Einkommen mindern, bzw. wer die Beiträge dafür zahle. Die gesetzliche Regelung, so der 11. Senat des BSG,
"beruhe entscheidend auf der Erkenntnis, dass in Haushaltsgemeinschaften aus einem Topf gewirtschaftet werde und
deshalb die Bedürfnisse aller aus den gemeinsamen Beiträgen ohne Rücksicht auf rechtliche Unterhaltsansprüche
oder interne Ausgleichsansprüche befriedigt würden." Dieser Gesichtspunkt gilt in gleicher Weise für die Zuordnung
von Vermögensgegenständen.
Es ist kein Grund ersichtlich von der Auslegung abzuweichen, die die Regelung im SGB III durch die
höchstrichterliche Rechtsprechung gefunden hat, so dass auch nach dem SGB II für Ehepaare – unabhängig von der
individuellen Zuordnung des Vermögens – ein gemeinsames Vermögen zu ermitteln und ein gemeinsamer Freibetrag
zu berücksichtigen ist.
Dies vorausgeschickt stellt sich das Problem der verfassungskonformen Auslegung des § 12 Abs. 2 Nr. 1a SGB II
vor dem Hintergrund von Artikel 3 und 6 Grundgesetz (GG). Die Familie steht neben der Ehe eigenständig und
unabhängig davon unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes (vgl. von Münch, Handbuch des
Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn 4 zu § 9). Artikel 6 Abs. 1 enthält nicht nur eine
Institutsgarantie, er gebietet vielmehr auch eine Förderung durch geeignete Maßnahmen (BVerfGE Bd. 82, S. 69 ff,
81); insbesondere aber verbietet er eine Benachteiligung von Familien bei der Gewährung staatlicher Leistungen
(BVerfG a.a.O. S. 80). Unter Familie wird dabei in umfassender Weise das tatsächliche Zusammenleben von
Erwachsenen mit Kindern – gleichgültig in welcher Rechtsform - als gegenseitige Hilfs-, Erziehungs-, Betreuungs- und
Lebensgemeinschaft angesehen (BVerfGE 10, S. 59 ff, 66; BVerfGE 62, S. 323 ff, 330; von Münch, a.a.O., Rn 13 zu
§ 9).
Ebenso wie bei Ehepartnern die rechtliche Zuordnung der Vermögensgegenstände häufig zufällig ist, stellt sich die
Situation auch bei Familien dar. Auch diese wirtschaften in der Regel aus einem Topf und ohne Beachtung von
Vermögenszuordnungen und Ausgleichsansprüchen. Die Gesetzesbegründung hebt insbesondere
Ausbildungsversicherungen und Sparvermögen von Kindern hervor. Insbesondere bei diesen Vermögensbestandteilen
ist es – ähnlich wie bei Ehepartnern – häufig rein zufällig, ob diese Verträge bereits auf den Namen des Kindes oder
noch auf den Namen der Eltern ausgestellt wurden. Bei Eheleuten und Partnern einer Lebensgemeinschaft
unabhängig von der Zuordnung der Vermögensgegenstände einen gemeinsamen Freibetrag zu bilden, bei Familien
den Kindern dagegen einen Freibetrag nur dann zuzubilligen, wenn ihnen bestimmte Vermögensbestandteile konkret
zugeordnet sind, würde eine Schlechterstellung der Lebensform Familie gegenüber der Lebensform Ehe oder
nichteheliche Lebensgemeinschaft bewirken, die durch sachliche Gründe nicht gerechtfertigt ist.
Familien mit Kindern haben im Vergleich zu kinderlosen Ehen und Lebensgemeinschaften einen mit der Kinderzahl
steigenden höheren Bedarf an Schonvermögen, so z.B. im Hinblick auf die Ausbildung der Kinder oder deren
besondere Bedürfnisse. Für diesen Bedarf ist es unerheblich, wem das zur Bedarfsdeckung vorgesehene Vermögen
zugeordnet ist. Das vom BSG in der Entscheidung vom 08.08.1990 (a.a.O.) als entscheidend hervor gehobene Motiv,
dass in Haushaltsgemeinschaften aus einem Topf gewirtschaftet wird, gilt für Familien mindestens in gleicher Weise
wie für kinderlose Ehepaare. Im Hinblick auf eine verfassungskonforme Auslegung ist daher die Bildung eines
Gesamtfreibetrages geboten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.