Urteil des SozG Aurich vom 06.10.2006

SozG Aurich: aufschiebende wirkung, überwiegendes interesse, dolus directus, öffentliches interesse, gemeinde, absicht, vollziehung, spareinlage, sanktion, anhörung

Sozialgericht Aurich
Beschluss vom 06.10.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Aurich S 15 AS 394/06 ER
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 19.09.2006 gegen den Bescheid der Gemeinde D. vom 29.08.2006
wird angeordnet.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt E. bewilligt.
Gründe:
I.
Zwischen den Beteiligten ist die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs gegen einen Sanktionsbescheid wegen
absichtlicher Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit streitig.
Der Antragsteller steht bei der im Auftrag des Antragsgegners handelnden Gemeinde D. seit dem 01.01.2005 im
Leistungsbezug SGB II. Auf den Fortzahlungsantrag vom 09.06.2006 hin bewilligte die Gemeinde D. dem
Antragsteller mit Bescheid vom 19.06.2006 für den Zeitraum 01.07. bis 31.12.2006 Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhaltes nach dem SGB II in Höhe von monatlich 479,00 EUR. Mit Schreiben vom 19.07.2006 forderte die
Gemeinde D. den Antragsteller auf, den Jahreskontoauszug 2005 eines Bausparvertrages bei der F., einen aktuellen
Auszug des Sparkontos und einen aktuellen Kontoauszug des laufenden Kontos vorzulegen. Der Antragsteller reichte
die Unterlagen fristgerecht ein. Aus diesen Unterlagen ergab sich, dass der Antragsteller ein Sparguthaben in Höhe
von 8664,56 EUR zum 20.10.2006 gekündigt hatte und den Betrag zur Sicherung eines Darlehens in Höhe von
8200,00 EUR, das am 20.10.2006 durch die Auszahlung des Sparguthabens zurückgezahlt werden soll, verpfändet
hatte. Am 24.07.2006 wurden von dem Darlehensbetrag 8000.- EUR dem Girokonto des Antragstellers
gutgeschrieben, worauf hin er am Abend des 24.07.2006 1000,00 EUR und am 25.07.2006 1500,00 EUR von dem
Konto abhob.
Nach vorheriger Anhörung erließ die Gemeinde D. den Änderungsbescheid vom 29.08.2006, mit dem die bewilligte
Leistung für den Zeitraum 01.10. bis 31.12.2006 auf 376,00 EUR abgesenkt wurde. Zur Begründung führte sie aus, der
Antragsteller habe sein Vermögen in der Absicht gemindert die Voraussetzungen für die Weitergewährung des
Arbeitslosengeldes II herbeizuführen. Der Antragsteller legte dagegen Widerspruch ein und trug vor, er habe nicht in
der Absicht gehandelt die Voraussetzungen für die Gewährung oder Erhöhung des Arbeitslosengeldes II
herbeizuführen, da zu dem Zeitpunkt, als er über das Vermögen verfügt habe, bereits eine bindende Bewilligung für
die zweite Jahreshälfte 2006 vorgelegen habe. Im Übrigen ist er der Auffassung, er dürfe über das geschützte
Vermögen frei und nach Belieben verfügen, zumal er vom Leistungsträger nicht gegenteilig informiert worden sei. Über
den Widerspruch wurde bislang noch nicht entschieden.
Mit Schriftsatz vom 19.09.2006 beantragt der Antragsteller unter Wiederholung seines Vorbringens im
Widerspruchsverfahren sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 19.09.2006 gegen den Änderungsbescheid der Gemeinde D. vom
29.08.2006 anzuordnen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er ist der Auffassung, der Antragsteller habe zielgerichtet im Hinblick auf die Absenkung der Freibeträge zum
01.08.2006 sein Vermögen gemindert um die Hilfebedürftigkeit aufrecht zu erhalten und habe damit die
Voraussetzungen für das Eintreten einer Sanktion erfüllt.
Das Gericht hat die Verwaltungsakte der Gemeinde D. beigezogen und bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt.
II.
Der Antrag ist zulässig, inhaltlich ist er auch begründet.
Widerspruch und Klage gegen einen Sanktionsbescheid entfalten gem. § 39 Nr. 1 SGB II keine aufschiebende
Wirkung.
Das Gericht der Hauptsache kann auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine
aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen (§ 86 b Abs. 1 Ziffer 2 SGG).
Der Antrag ist schon vor Klageerhebung zulässig (§ 86 b Abs. 3 SGG).
Die Entscheidung des Gerichts erfolgt nach Ermessen und aufgrund einer Interessenabwägung, wobei auch die
Erfolgsaussichten zu berücksichtigen sind. Das öffentliche Interesse an der Vollziehung und das private Interesse
des belasteten Adressaten an einer Aussetzung sind gegeneinander abzuwägen. Dabei ist die gesetzgeberische
Grundentscheidung, dass in den Fällen des § 86a Abs. 2 SGG grundsätzlich eine sofortige Vollziehung stattfindet, zu
beachten. Davon abzuweichen besteht nur Anlass, wenn ein überwiegendes Interesse des durch den Verwaltungsakt
Belasteten festzustellen ist (vgl. Meyer-Ladewig, Rn 12 zu § 86b SGG). Dieses Suspensivinteresse überwiegt, wenn
der Sofortvollzug eine besondere, den Regelfall des Sofortvollzuges übersteigende Härte für den Betroffenen mit sich
bringt. Ansonsten hat es bei der gesetzlich angeordneten sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts zu
verbleiben. Das Gericht kann seine Entscheidung auch allein auf eine Vorausbeurteilung der Erfolgsaussichten von
Widerspruch und Klage stützen, wenn es sich bereits ohne wesentliche verbleibende Zweifel von der Rechtmäßigkeit
des Verwaltungsaktes zu überzeugen vermag. Bestehen demgegenüber durchgehende Zweifel an der Rechtmäßigkeit
des zu vollziehenden Verwaltungsaktes oder stellt er sich bereits mit Gewissheit als rechtswidrig dar, so überwiegt
regelmäßig das Aussetzungsinteresse des Betroffenen, da kein öffentliches Interesse am Vollzug rechtswidriger
Verwaltungsakte besteht.
Vorliegend bestehen Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Sanktion. Dabei lässt das Gericht im Rahmen des
Eilverfahrens ausdrücklich offen, ob der Sanktionstatbestand auch die Aufrechterhaltung einer bereits erfolgten
Leistungsbewilligung erfasst. Jedenfalls steht die im Gesetz als Voraussetzung für den Eintritt einer Absenkung
geforderte Absicht, die Voraussetzungen für die Gewährung des Arbeitslosengeldes II herbeizuführen, nach dem
bisherigen Stand der Ermittlungen nicht zur Überzeugung des Gerichts fest.
Das Arbeitslosengeld II wird unter Wegfall des Zuschlags nach § 24 in einer ersten Stufe um 30 v. H. der für den
erwerbsfähigen Hilfebedürftigen nach § 20 maßgebenden Regelleistung abgesenkt, wenn dieser nach Vollendung des
18. Lebensjahres sein Einkommen oder Vermögen in der Absicht vermindert hat, die Voraussetzungen für die
Gewährung oder Erhöhung des Arbeitslosengeldes II herbeizuführen (§ 31 Abs. 4 Ziff. 1 iVm. Abs. 1 Satz 1 SGB II).
Die Verminderung des Vermögens muss subjektiv und absichtlich erfolgt sein, womit der direkte Vorsatz im Sinne
des so genannten dolus directus ersten Grades gemeint ist. Erforderlich ist also das zielgerichtete Wollen, der
Hilfebedürftige muss die Gewährung oder Erhöhung bewusst bezwecken, wobei es nicht schadet, wenn er dabei noch
andere Ziele verfolgt (vgl. A. Loose in Gemeinschaftskommentar zum Asylbewerberleistungsgesetz Rn. 84 zu § 31
SGB II; Rixen in Eicher/Spellbrink, Kommentar zum SGB II, Rn. 28 zu § 38). Weder reicht ein objektiv
unwirtschaftliches Verhalten des Hilfebedürftigen angesichts bevorstehender Bedürftigkeit (Loose a. a. O.) noch reicht
ein einfach vorsätzliches Verhalten, bei dem sich der Hilfebedürftige zwar über den Minderungseffekt im Klaren war,
diesen aber nicht zielgerichtet im Sinne einen alles andere dominierenden Ziels anstrebte (Rixen a. a. O.).
Letztendlich entscheidend ist eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Umstände.
Unter Berücksichtigung der Besonderheiten eines Eilverfahrens und nach dem derzeitigen Ermittlungsstand ist dem
Antragsteller eine entsprechende Absicht nicht zu beweisen. Die objektive Beweislast für die
Tatbestandvoraussetzungen eines Sanktionstatbestandes trägt die Behörde. Zwar spricht sowohl der nahe zeitliche
Zusammenhang zwischen der Aufnahme des Darlehens unter Verpfändung der Spareinlage mit der Absenkung der
Vermögensfreibeträge ab 01.08.2006, als auch die Inkaufnahme eines Zinsverlustes durch die Inanspruchnahme
eines Darlehens dafür, dass dem Antragsteller die notwendigen Informationen über die Gesetzesänderung über die
Auswirkungen seines Verhaltens bekannt waren. Daraus lässt sich indes noch nicht der Schluss ziehen, dass es ihm
auf die Vermögensminderung in erster Linie ankam, er diese also zielgerichtet im Sinne eines alles andere
dominierenden Zieles anstrebte. Der Antragsteller hat sich in seiner Anhörung im Verwaltungsverfahren dahingehend
eingelassen, dass er Erhaltungsaufwendungen an seinem geschützten Einfamilienhaus zu tätigen gehabt habe und
die dafür an sich vorgesehene Bausparsumme für ihn nicht verfügbar gewesen sei, sodass er im Ergebnis die
Spareinlage habe beleihen müssen. Die Richtigkeit dieser Einlassung unterstellt wäre die Erhaltung des geschützten
Hauses das vorrangige Ziel des Antragstellers gewesen, was grundsätzlich nicht zu beanstanden wäre. Die Minderung
des Vermögens unterhalb der (neuen) Freibeträge wäre dann nur ein bedingt vorsätzlich in Kauf genommener
Nebeneffekt. Dies ist im Eilverfahren nicht abschließend aufzuklären. Weitere Ermittlungen sind dem
Hauptsacheverfahren vorbehalten. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs war daher anzuordnen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.