Urteil des SozG Augsburg vom 14.07.2010

SozG Augsburg: schwierigkeit des verfahrens, einvernahme von zeugen, aufwand, gebühr, vergütung, rechtsgrundlage, einverständnis, nummer, realisierung, anhörung

Sozialgericht Augsburg
Kostenbeschluss vom 14.07.2010 (rechtskräftig)
Sozialgericht Augsburg S 3 SF 155/10 E
Die Erinnerung gegen die Kostenfestsetzung vom 3. Mai 2010 wird zurückgewiesen.
Gründe:
I.
Am 27.05.2009 reichte der Erinnerungsführer (Ef) für seine Mandantin Klage zum Sozialgericht Augsburg ein und
reichte mit weiterem Schriftsatz (09.07.2009) die Anträge sowie eine einseitige Begründung nebst PKH-Antrag nach.
Zu dem von Amts wegen eingeholten und für die Mandantin im Ergebnis negativen Gutachten übersandte er ein
augenärztliches Attest. Mit Beschluss vom 22.02.2010 bewilligte der Vorsitzende der 5. Kammer unter gleichzeitiger
Beiordnung des Ef Prozesskostenhilfe (PKH) ab 13.07.2009. Ebenfalls unter dem 22.02.2007 erging schließlich der
den Beteiligten vorab angekündigte Gerichtsbescheid.
Mit Kostenfestsetzungsantrag vom 10.03.2010 machte der Ef für die Leistungszeit "03.09.2008 bis 09.03.2010"
folgende Gebühren geltend:
Verfahrensgebühr, Nr. 3103 VV RVG 170,00 EUR Terminsgebühr, Nr. 3106 VV RVG 200,00 EUR Post und
Telekommunikation, Nr. 7002 VV RVG 20,00 EUR Ablichtungen, Nr. 7000 VV RVG 30,85 EUR Mehrwertsteuer, Nr.
7008 VV RVG 79,96 EUR Gesamtbetrag 500,81 EUR
Aufgefordert, die Notwendigkeit der gefertigten Kopien anwaltlich zu versichern, korrigierte der Ef seinen bisherigen
Vortrag dahin, dass im Klageverfahren nur 43 Kopien gefertigt worden seien.
Mit Beschluss vom 04.05.2010 setzte die Kostenbeamtin die von der Staatskasse zu erstattenden Kosten auf 370,69
EUR fest. Abweichend von der Forderung des Ef bezifferte sie die Terminsgebühr mit 100 EUR.
Hiergegen wendet sich der Ef mit seiner Erinnerung. Eine pauschale Verminderung der Terminsgebühr bei
Entscheidungen durch Gerichtsbescheid sei nicht gerechtfertigt. Er nimmt Bezug auf Entscheidungen der
Landessozialgerichte (LSG) München, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Bei der Bemessung der "fiktiven"
Terminsgebühr nach Entscheidung durch Gerichtsbescheid sei der "fiktive" Arbeitsaufwand für die Wahrnehmung des
"fiktiven" Termines in Ansatz zu bringen.
II.
Das Gericht ist zur Entscheidung befugt (§ 56 Abs. 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz - RVG -). Die rechtzeitig
eingelegte und auch im Übrigen zulässige Erinnerung ist nicht begründet.
Rechtsgrundlage für den Vergütungsanspruch des Ef ist § 45 RVG. Danach hat der im Wege der PKH beigeordnete
Rechtsanwalt in Verfahren vor Gerichten eines Landes Anspruch auf die gesetzliche Vergütung aus der Landeskasse.
Die Beiordnung des Ef erfolgte mit Beschluss vom 22.02.2010.
Zur Feststellung der gesetzlichen Vergütung im Sinne von § 45 RVG ist auf §§ 3, 14 RVG abzustellen, da der Ef in
diesem Verfahren einer nach § 183 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kostenprivilegierten Klägerin als Bevollmächtigter
beigeordnet wurde.
Rechtsgrundlage und Prüfungsmaßstab für die im Erinnerungsverfahren streitig gebliebene Höhe der zu erstattenden
Terminsgebühr sind die §§ 3 und 14 RVG. Nach § 14 RVG bestimmt der Rechtsanwalt die Gebühr im Einzelfall unter
Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der
Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem
Ermessen. Zu beachten ist dabei auch das dem RVG als Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG angefügte
Vergütungsverzeichnis (VV). Dort ist geregelt, dass der Anwalt in Verfahren vor den Sozialgerichten, in denen - wie
vorliegend - Betragsrahmengebühren entstehen, für die Wahrnehmung des Termins zur mündlichen Verhandlung eine
Terminsgebühr nach Nr. 3106 VV RVG von 20 EUR bis 380 EUR erhält. Nach dem Willen des Gesetzgebers steht
ihm dabei in Verfahren mit durchschnittlicher Schwierigkeit, durchschnittlichem Aufwand und durchschnittlicher
Bedeutung für den durchschnittlich begüterten Mandanten die Mittelgebühr (hier: 200 EUR) zu. Entscheidend ist eine
Gesamtabwägung: Es müssen sämtliche den Gebührenanspruch potentiell beeinträchtigenden Faktoren miteinander
im Einzelfall abgewogen werden. Dem Grunde nach fällt die Gebühr auch dann an, wenn das Gericht durch
Gerichtsbescheid entscheidet.
Dem Ef steht eine höhere Terminsgebühr als 100 EUR nicht zu. Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass auf
jeden einzelnen angefallenen Gebührentatbestand die vom Gesetzgeber in § 14 RVG vorgegebenen Gesichtspunkte
gesondert anzuwenden sind. Im Ergebnis bedingt also eine oberhalb der Mittelgebühr festgesetzte Verfahrensgebühr
nicht automatisch oder zwingend eine Terminsgebühr in gleicher Höhe. Das Sozialgericht Augsburg geht in ständiger
Rechtsprechung davon aus, dass eine Terminsgebühr in Höhe der Mittelgebühr regelmäßig dann anfällt, wenn der
Anwalt an einer insgesamt durchschnittlichen, das heißt durchschnittlich lange andauernden und ihn durchschnittlich
nach Schwierigkeit des Verfahrens fordernden mündlichen Verhandlung teilgenommen hat. Vom zeitlichen Rahmen
legt es dabei in etwa eine 30-minütige Verhandlung zu Grunde. Geht die zeitliche Beanspruchung des
Bevollmächtigten zum Beispiel durch Wartezeiten darüber hinaus oder gestaltet sich die mündliche Verhandlung
besonders schwierig oder beispielsweise durch Einvernahme von Zeugen als aufwändig, wird je nach konkreter
Fallgestaltung im Streitfall eine Gebühr oberhalb der Mittelgebühr festgesetzt.
Abgesehen von den auf die Person des Mandanten zielenden Tatbestandsmerkmalen des § 14 RVG soll also nach
dem Willen des Gesetzgebers bei Konkretisierung der Betragsrahmengebühren (§ 3 RVG) Ausmaß und Umfang der
beruflichen Beanspruchung des Anwalts berücksichtigt und "gespiegelt" werden. Es ist wohl unbestritten, dass die
anwaltliche Belastung in einem Verfahren wesentlich höher ist, wenn er - namentlich bei der Geographie des Bezirks
des Sozialgerichts Augsburg - nach längerer Anreise (nicht selten 1 bis 2 h) an einer mündlichen Verhandlung
teilnimmt. In vielen Fällen muss also ein Anwalt für die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung vor dem
Sozialgericht Augsburg faktisch einen Vormittag einkalkulieren. Wird in dem betreffenden Verfahren dagegen ein
Gerichtsbescheid erlassen, fällt ein entsprechender Aufwand (vgl. § 14 RVG: "Umfang ... der anwaltlichen Tätigkeit")
nicht einmal ansatzweise an. Dieser wesentliche Differenzierungsgrund der Nicht-/Teilnahme an einer mündlichen
Verhandlung führt vor dem Hintergrund von Art. 3 Grundgesetz (GG) auch zwingend zu einer differenzierten
Ausfüllung des Gebührenrahmens der Nummer 3106 VV RVG.
Die gegenteilige Auffassung des Ef, auch bei Abschluss eines Verfahrens durch Gerichtsbescheid sei für den "
Normalfall" automatisch die Mittelgebühr anzusetzen, kann weder aus der Gesetzesbegründung noch positivrechtlich
dem RVG bzw. VV begründet werden. Fest steht lediglich, dass der Gesetzgeber in Nr. 3106 VV RVG
festgeschrieben hat, dass auch bei Verfahrensbeendigung durch Gerichtsbescheid (und ohne mündliche Verhandlung)
dem Grunde nach eine Terminsgebühr anfällt. Maßstab ist und bleibt in diesem Fall allein § 14 RVG. Es kann daher
der Auffassung des LSG Nordrhein-Westfalen, "allein die Tatsache, dass keine mündliche Verhandlung stattgefunden
hat, sondern das Sozialgericht im schriftlichen Verfahren durch Gerichtsbescheid entschieden hat, rechtfertigt
vorliegend nicht die Annahme eines unterdurchschnittlichen Umfangs der anwaltlichen Tätigkeit" (Beschluss vom
04.01.2010; L19 B 316/09 AS) nicht gefolgt werden. Die Kammer teilt auch nicht die (nach ihrer Auffassung nicht
näher begründete) Rechtsauffassung des LSG Schleswig-Holstein (Beschluss vom 17.07.2008, L 1 B 127/08 SG),
dass in solchen Fallgestaltungen die Kriterien des § 14 RVG - weil keine Verhandlung stattgefunden hat - fiktiv zu
prüfen seien und zu fragen sei, wie der Aufwand des PKH-Anwalts gewesen wäre, wenn eine Verhandlung
stattgefunden hätte. Die entscheidende Kammer versteht § 14 RVG vielmehr so, dass die Gebührenbestimmung auf
der Grundlage eines tatsächlichen (regelmäßig in der Vergangenheit liegenden) Geschehensablaufs zu erfolgen hat.
Für fiktive Betrachtungsweisen erscheint hier kein Raum.
Die vom Ef zitierten obergerichtlichen Entscheidungen würden aber, selbst wenn ihnen gefolgt würde, zu keinem für
ihn günstigeren Ergebnis führen. Denn das LSG Schleswig-Holstein setzt bei seiner fiktiven Betrachtungsweise auch
eine durchschnittliche Verhandlungsdauer voraus. Diese bestimmt es mit 50 Minuten (Min.). Bei einer fiktiven
Verhandlung von 25 Min. Dauer (weil unter anderem klarer und einfacher Sachverhalt) hält es den Aufwand des
Anwalts mit der halben Mittelgebühr als ausreichend vergütet. Bei der Realisierung einer solchen fiktiven
Betrachtungsweise bezogen auf das Ausgangsverfahren nach dem Blindengeldgesetz (S 5 BL 1/09) mit einem klaren
Beweisergebnis, welches durch die nachträglich eingereichte ärztliche Bescheinigung offenbar nicht zu erschüttern
war, wäre die Terminsgebühr bei einer zu erwartenden mündlichen Verhandlung von ca. 30 Min. dementsprechend mit
der halben Mittelgebühr (wie von der Kostenbeamtin entschieden) festzusetzen.
Das LSG Nordrhein-Westfalen hat in seinem oben genannten Beschluss letztlich die Mittelgebühr auch dadurch
gerechtfertigt, weil der Prozessbevollmächtigte nach Erhalt der Anhörung nochmals zur Sach- und Rechtslage
Stellung genommen hat. Dieser Nachsatz lässt durchaus den Schluss zu, dass das Gericht andernfalls eine
niedrigere Gebühren festgesetzt hätte. Da der Ef auf das Anhörungsschreiben des Vorsitzenden der 5. Kammer
lediglich das (rechtlich nicht erforderliche) Einverständnis seiner Mandantin mit einer Entscheidung durch
Gerichtsbescheid erklärte, zur Sach- und Rechtslage aber nichts mehr (Neues) vortrug, stünde ihm also auch nach
Auffassung dieses Obergerichts wohl kaum die begehrte Mittelgebühr zu.
Die vom Ef offenbar präferierte Rechtsprechung des LSG Schleswig-Holstein, die Terminsgebühr sei aufgrund einer
fiktiven mündlichen Verhandlung zu bestimmen, kann im Übrigen nach Auswertung der hierzu aus juris bzw.
www.Sozialgerichtsbarkeit.de verfügbaren Rechtsprechung auch nicht als "herrschend" gewertet werden. In diesem
Zusammenhang verweist das Gericht insbesondere auf den Beschluss des LSG Sachsen (08.02.2008, L 6 B 466/07
R-KO). Dort wird (vgl. Rn. 38 Ausdruck juris) die Auffassung vertreten, dass dann, wenn der Anwalt auf die
Ankündigung eines Gerichtsbescheids durch das Gericht - wie vorliegend - nicht reagiert, die Mindestgebühr von 20
EUR in Betracht kommen dürfte. Dieser strengen Sichtweise folgt das entscheidende Gericht aber nicht.
Die Festsetzung mit Beschluss vom 04.05.2010 ist hinsichtlich der Höhe der Terminsgebühr rechtlich nicht zu
beanstanden. Die Erinnerung war daher zurückzuweisen.
Der Beschluss ergeht kostenfrei.