Urteil des SozG Altenburg vom 03.05.2005

SozG Altenburg: echte rückwirkung, unfallversicherung, altersrente, minderung, gesundheit, anfang, ddr, sozialversicherung, inkraftsetzen, rechtsstaatsprinzip

Sozialgericht Altenburg
Urteil vom 03.05.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Altenburg S 17 RJ 1572/04
Die Klage wird abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der 1925 geborene Kläger begehrte die Berücksichtigung eines höheren Freibetrages bei der Anrechnung seiner Rente
aus der gesetzlichen Unfallversicherung auf seine gesetzliche Alters¬rente.
Der Kläger bezog seit Oktober 1967 eine Unfall-Teilrente aus der Sozialversicherung der DDR, die ab Januar 1992 als
Verletztenrente von der Landwirtschaftlichen Berufsgenossen¬schaft Berlin unter Zugrundelegung einer Minderung der
Erwerbsfähigkeit (MdE) von 40 vH gezahlt wurde.
Der Kläger bezog außerdem seit Februar 1984 eine Invalidenrente aus der Sozialversicherung und der freiwilligen
Zusatzrentenversicherung der DDR. Diese wurde von der Beklagten ab Januar 1992 in eine Regelaltersrente nach
dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) um¬gewertet (Bescheid vom 14. Dezember 1992). Für die Zeit ab
Juli 1994 wurde aufgrund verän¬derter Berechnungsgrundlagen ein neuer Rentenbescheid erteilt (Bescheid vom 8. Juli
1994). Auf die Altersrente rechnete die Beklagte die vom Kläger bezogene Verletztenrente aus der gesetzlichen
Unfallversicherung an. Von der Anrechnung ausgenommen wurde dabei ein Frei¬betrag in Höhe der Beschädigten-
Mindestgrundrente; bei der Ermittlung der Freibeträge min¬derte die Beklagte die in § 31 des
Bundesversorgungsgesetzes (BVG) genannten Zahlbeträge in dem Verhältnis, in dem der aktuelle Rentenwert (Ost)
zum aktuellen Rentenwert steht. Der Kläger hatte seinen Wohnsitz am 18. Mai 1990 im Gebiet der neuen
Bundesländer.
Im Rentenbescheid vom 8. Juli 1994 wurde wie bisher die Anzahl persönlicher Entgeltpunkte (Ost) mit 44,5600
zugrunde gelegt. Der monatliche Wert der Rente des Klägers vor Anrech¬nung der Verletztenrente wurde von der
Beklagten für die Zeit ab 1. Juli 1998 mit 1821,17 DM, für die Zeit ab 1. Juli 1999 mit 1871,97 DM, für die Zeit ab 1.
Juli 2000 mit 1883,11 DM, für die Zeit ab 1. Juli 2001 mit 1922,76 DM, für die Zeit ab 1. Januar 2002 mit 983,09 EUR,
für die Zeit ab 1. Juli 2002 mit 1011,51 EUR und für die Zeit ab 1. Juli 2003 mit 1023,54 EUR festgestellt (Aufstellung
der Beklagten vom 17. März 2005). Die monatliche Verletztenrente des Klägers betrug 769,37 DM bei einem
Jahresarbeitsverdienst (JAV) von 34621,79 DM ab 1. Januar 1999, 789,22 DM bei einem JAV von 35515,03 DM ab 1.
Juli 1999, 793,96 DM bei einem JAV von 35728,12 DM ab 1. Juli 2000, 810,71 DM bei einem JAV von 36481,98 DM
ab 1. Juli 2001, 414,51 EUR bei einem JAV von 18652,94 EUR ab 1. Januar 2002, 426,49 EUR bei einem JAV von
19192,01 EUR ab 1. Juli 2002 und 431,56 EUR bei einem JAV von 19420,39 EUR ab 1. Juli 2003. Die Beklagte legte
bei der Anrechnung die genannten monatlichen Zahlbeträge der Verletzten¬rente zugrunde und setzte davon die oben
genannten Freibeträge ab.
Einen Überprüfungsantrag des Klägers vom Mai 2003, der auf die Berücksichtigung eines un¬gekürzten Freibetrages
und entsprechende Nachzahlung ab Januar 1999 gerichtet war, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 4. Juni 2003
ab. Einen erneuten Überprüfungsantrag des Klä¬gers vom August 2003 lehnte sie mit Bescheid vom 24. September
2003 ab und wies den da¬gegen gerichteten Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 1. Juni 2004 zurück.
Dagegen richtet sich die am 15. Juni 2004 erhobene Klage. Der Kläger vertritt die Auffassung, es sei bei der
Berechnung des Freibetrages einheitlich im gesamten Bundesgebiet die sich aus § 31 BVG ergebende Grundrente zu
berücksichtigen und § 84a BVG nicht anzuwenden. Gegen¬über der zwischenzeitlich erfolgten Änderung des § 93
Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a SGB VI werden im Hinblick auf deren Rückwirkung zum 1. Januar 1992 verfassungsrechtliche
Bedenken erho¬ben.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 24. September 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 1. Juni 2004 zu verurteilen, von der Anrechnung seiner Unfallrente auf seine Altersrente einen Freibetrag in Höhe
der Grundrente nach § 31 BVG bei einer MdE von 40 % ohne Minderung nach § 84a Satz 1 und 2 BVG
auszu¬nehmen und den Rentenbescheid vom 8. Juli 1994 zurückzunehmen, soweit er dem ent¬gegensteht.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist auf die gesetzliche Neuregelung, die nach ihrer Auffassung eine rückwirkende Klarstellung beinhaltet.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und die Verwaltungsakte der
Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 24. September 2003 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 1. Juni 2004 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat
keinen Anspruch auf eine Rücknahme des Bescheides vom 8. Juli 1994 gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch
(SGB X) hinsichtlich der Anrechnung seiner Ver¬letztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
Nach § 44 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt zurückzunehmen, soweit sich ergibt, dass bei seinem Erlass das
Recht unrichtig angewandt oder von einem unrichtigen Sachverhalt ausge¬gangen worden ist und soweit deshalb
Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Die hier allein in Streit stehende Anrechnung aus der
gesetzlichen Unfallversicherung auf die Altersrente des Klägers entspricht jedoch der Sach- und Rechtslage. Die
Beklagte hat die Ver¬letztenrente des Klägers gemäß § 93 Abs. 2 Nr. 2 Buch¬stabe a SGB VI in zutreffender Höhe
auf seine Altersrente angerechnet. Insbesondere hat sie die dem Kläger zustehenden Freibe¬träge dem Gesetz
entsprechend ermittelt.
Nach § 93 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI wird beim Zusammentreffen einer eigenen Rente aus der Rentenversicherung mit
einer Verletztenrente aus der Unfallversicherung die Rente aus der Rentenversicherung insoweit ganz oder teilweise
nicht geleistet, als beide Renten zusammen vor Einkommensanrechnung einen bestimmten Betrag – den
sogenannten Grenzbetrag – über¬steigen. § 93 Abs. 2 SGB VI enthält eine Freibetragsregelung; sie bestimmt in Nr. 2
Buchstabe a, welche Anteile der Verletztenrente bei der Ermittlung der Summe der zusammentreffenden
Rentenbeträge unberücksichtigt bleiben. § 93 Abs. 3 SGB VI bestimmt schließlich in Gestalt des Grenzbetrages, in
welchem Umfang nach Abzug des Freibetrages eine Anrechnung der Verletztenrente auf die Altersrente stattfindet.
Als Freibeitrag ist nach § 93 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe a SGB VI in der Fassung des Gesetzes zur Sicherung der
nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung vom 26. Juli 2004 (RV-
Nachhaltigkeitsgesetz) der Betrag von der Anrechnung auszunehmen, der bei gleichem Grad der MdE als Grundrente
nach § 31 i. V. m. § 84a Satz 1 und 2 des BVG geleistet würde. Durch die mit dem RV-Nachhaltigkeitsgesetz erfolgte
Ergänzung der Vor¬schrift wird klargestellt, dass bei der Ermittlung des Freibetrages nicht nur § 31 BVG, sondern
auch § 84a Satz 1 und 2 BVG zu berücksichtigen ist. § 84a BVG seinerseits bestimmt, dass für Berechtigte, die am
18. Mai 1990 ihren Wohnsitz in den neuen Bundesländern hatten, die für dieses Gebiet nach dem Einigungsvertrag
geltenden Maßgaben zu berücksichtigen sind.
Der Einigungsvertrag sieht in Anlage 1 Kapitel VIII Sachgebiet K Abschnitt 3 Nr. 1a eine Minderung der Grundrente
des § 31 BVG in dem Verhältnis vor, in dem die Standardrente in den neuen Bundesländern hinter der Standardrente
in den alten Bundesländern zurückbleibt. Die gesetzliche Klarstellung ist gemäß Artikel 15 Abs. 2 RV-
Nachhaltigkeitsgesetz zum 1. Januar 1992 in Kraft gesetzt worden. Die hiervon abweichende Auslegung des § 93
Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe a SGB VI in der vor der Änderung durch das RV-Nachhaltigkeitsgesetz geltenden Fassung
durch das Bundessozialgericht (BSG, Urteil vom 10. April 2003, Az.: B 4 RA 32/02 R, und vom 20. November 2003,
Az.: B 13 RJ 5/03 R, beide Juris) kann auf Grund der jetzt eindeutigen gesetzlichen Regelung nicht mehr
herangezogen werden.
Die gesetzliche Neufassung des § 93 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe a SGB VI durch das RV-Nachhal¬tigkeitsgesetz
begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Artikel 15 Abs. 2 RV-Nach¬haltigkeitsgesetz beinhaltet zunächst
keine mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht zu vereinbarende echte Rückwirkung, da es sich lediglich um eine
Klarstellung handelt. Das BSG hat bereits mehrfach entschieden, dass im Wege einer authentischen Interpretation
eine Änderung des Gesetzestextes auch insofern eine Rückwirkung entfalten kann, als der Gesetzgeber durch eine
eigene nachträgliche Interpretation seiner selbst anordnen kann, wie die schon bisher bestehen¬den gesetzlichen
Bestimmungen von Anfang an zu verstehen waren (BSG, Urteil vom 23.03.1994, Az.: 5 RJ 40/92, Juris Rn. 13 mwN).
Um eine solche authentische Interpretation handelt es sich bei Artikel 1 Nr. 19 RV-Nachhaltigkeitsgesetz. In der
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit und soziale Sicherung (BT-Drs. 15/2678, S. 22) wird
hervorgeho¬ben, dass und aus welchen Gründen die seit 1992 bestehende Regelung auch die in § 84a BVG für
Berechtigte im Beitrittsgebiet geregelten Besonderheiten umfassen sollte und die anders lautende Auffassung des
BSG nicht dem ursprünglichen Willen des Gesetzgebers entspricht. Vertrauensschutzgesichtspunkte werden durch
das rückwirkende Inkraftsetzen der Regelung trotz der genannten Rechtsprechung des BSG nicht berührt. Denn die
gesetzliche Klarstellung wurde unmittelbar nach Ergehen der Urteile des BSG vom 10. April und 20. November 2003
(aaO) eingeleitet und die Verwaltungspraxis entsprach von Anfang an der jetzt erfolgten Klar¬stellung.
§ 93 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe a SGB VI in der Fassung des RV-Nachhaltigkeitsgesetzes ist auch mit Artikel 3 Abs. 1
des Grundgesetzes (GG) vereinbar. Denn die Ungleichbehandlung der Rentenbezieher in den alten und neuen
Bundesländern ist nicht willkürlich, sondern durch die unterschiedlichen Lebensverhältnisse gerechtfertigt. Dabei ist
zu berücksichtigen, dass der Freibetragsregelung nicht allein der Gedanke des immateriellen Schadensausgleichs
zugrunde liegt, sondern auch der Ausgleich von behinderungsbedingten Mehraufwendungen beabsichtigt ist
(Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit und soziale Sicherung, aaO, S. 23). Bei gleichen
Freibeträgen in den neuen und in den alten Bundesländern würde im Übrigen auch angesichts des im Osten
niedrigeren Rentenniveaus der immaterielle Schadensanteil überbewertet (Thüringer Landessozialgericht, Urteil vom
25.09.2002, Az.: L 6 RJ 585/01; vgl. auch Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit und soziale
Sicherung, aaO).
Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 14. März 2000 (E 102, 41
ff), mit dem entschieden wurde, dass es mit dem Gleichheitsgebot des Artikel 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist, dass die
den Kriegsopfern nach § 31 Abs. 1 Satz 1 BVG gewährte Beschädigtengrundrente in den alten und neuen Ländern
über den 31. Dezember 1998 hinaus bei gleicher Beschädigung ungleich hoch ist. Denn das Gericht hat betont, dass
die festgestellte Verletzung des Artikel 3 Abs. 1 GG wesentlich auch darin begründet ist, dass eine Beendigung der
durch § 84a BVG bewirkten Ungleichbehandlung für die betroffenen Kriegs¬opfer mit Rücksicht auf ihr Lebensalter
nicht mehr in Sicht ist und dass dies den Fall von ande¬ren staatlichen Leistungen mit immateriellem Gehalt
unterscheidet (aaO, S. 62). Anders als die Gruppe der Kriegsopfer erstreckt sich aber die der
Verletztenrentenbezieher aus der gesetzli¬chen Unfallversicherung auf alle Altersgruppen, da das die Leistungen
auslösende Ereignis nicht auf ein einmaliges, weit in der Vergangenheit liegendes Geschehen zurückzuführen ist,
sondern sich ein Arbeitsunfall jederzeit ereignen bzw. eine Berufskrankheit jederzeit auftreten kann und Arbeitnehmer
jeglichen Alters betroffen sein können; aufgrund der breit gefächerten Altersstruktur ist es trotz der gegenwärtig
stagnierenden Anpassung nicht gleichermaßen fern liegend, dass die Gruppe der Unfallrentner in den neuen
Bundesländern das Leistungsniveau der alten Bundesländer einmal erreichen wird (Sächsisches Landessozialgericht,
Urteil vom 22.10.2002, Az.: L 5 RJ 23/02, Juris Rn. 30).
§ 93 SGB VI wurde von der Beklagten sachlich und rechnerisch richtig angewandt. Diesbe¬züglich sind vom Kläger
auch keine Einwände erhoben worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Revision ist gemäß § 161 Abs. 2 in Verbindung mit § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen grund¬sätzlicher Bedeutung
der Verfassungsmäßigkeit des § 93 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe a SGB VI in der Fassung des RV-
Nachhaltigkeitsgesetzes zuzulassen.