Urteil des SozG Aachen vom 11.01.2011

SozG Aachen (behandlung, stationäre behandlung, notwendigkeit, klage auf zahlung, therapie, krankenhaus, ärztliche verordnung, ambulante behandlung, physikalische therapie, stellungnahme)

Sozialgericht Aachen, S 13 KR 55/10
Datum:
11.01.2011
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
13. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 13 KR 55/10
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 6.897,62 EUR zuzüglich
Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit
08.03.2010 zu zahlen. Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte. Der
Streitwert wird auf 6.897,62 EUR festgesetzt.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten über die Vergütung für stationäre Krankenhausbehandlung in
Höhe von 6.897,62 EUR.
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Die Klägerin betreibt ein zugelassenes Krankenhaus und dort in der Klinik für
Neurologie und Neurolinguistik eine spezielle Aphasiestation. Die bei der Beklagten
versicherte am 00.00.0000 geborene H. C. (im Folgenden: Versicherte) erlitt am
29.03.2005 einen Schlaganfall, in dessen Folge eine Aphasie (zentrale Sprachstörung)
und eine spastische Hemiparese (Halbseitenlähmung) rechts eintraten. Vom 16.09. bis
02.11.2007 erhielt die Versicherte auf der Aphasiestation der Klägerin eine
Aphasiespezialbehandlung zu Lasten der Beklagten. Im Hinblick auf "signifikante
sprachliche Fortschritte" im Therapieverlauf erging am 11.11.2008 eine Empfehlung der
Klägerin an die Versicherte und deren behandelnden Ärzte für eine weitere stationäre
Behandlung von ca. sieben Wochen auf der Aphasiestation.
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Ende Dezember 2008 beantragte die Versicherte die empfohlene Krankenbehandlung
unter Vorlage einer entsprechenden vertragsärztlichen Verordnung vom 23.12.2008. Mit
Bescheid vom 15.01.2009 gegenüber der Versicherten und Schreiben vom 22.01.2009
gegenüber der Beklagten erklärte die Beklagte, sie werde die Kosten einer notwendigen
stationären Behandlung von vier Wochen übernehmen; sie behielt sich eine
Zwischenprüfung und einen Widerruf der Kostenübernahme sowie eine Überprüfung
der Abrechnung vor.
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Am 05.04.2009 begann die stationäre Behandlung der Versicherten auf der
Aphasiestation.
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Am 24.04.2009 beantragte die Klägerin die Verlängerung der Kostenübernahme für
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weitere drei Wochen. Dazu legte sie eine fachärztliche Stellungnahme von Prof. Dr.
Huber und Prof. Dr. Schulz vom 24.04.2009 vor; darin wurde mitgeteilt, dass im Verlauf
der bisherigen seit dem Schlaganfallereignis durchgeführten therapeutischen
Maßnahmen in verschiedenen sprachlichen Bereichen signifikante Verbesserungen
hätten erzielt werden können und weitere Verbesserungen zu erwarten gewesen seien,
weshalb eine erneute stationäre Aphasiebehandlung empfohlen worden sei; Art und
Ausmaß der Störungen bei der Versicherten machten die Durchführung von
interdisziplinären, wissenschaftlich abgesicherten Intensivmaßnahmen notwendig; die
bisher erreichten Verbesserungen ließen erwarten, dass die Versicherte von der
angestrebten Verlängerung stark profitieren werde. Der Stellungnahme ebenfalls
beigefügt waren allgemeine "Informationen für Krankenkassen und Medizinische
Dienste", in denen das Konzept der Aachener Aphasiespezialbehandlung dargelegt
wurde.
Daraufhin schaltete die Beklagte erstmals den Medizinischen Dienst der
Krankenversicherung (MDK) ein. Dieser kam am 30.04.2009 zum Ergebnis, dass die
Notwendigkeit für Krankenhausbehandlung für die Durchführung von Aphasietherapie
nicht erkenntlich sei; bezüglich des bisherigen Behandlungsverlaufs fänden sich keine
differenzierten Darstellungen der bisherigen Behandlungsfortschritte. Daraufhin legte
die Klägerin eine ergänzende fachärztliche Stellungnahme der Klinikärzte vom
04.05.2009 vor. Auch im Hinblick darauf erkannte der MDK in einer Stellungnahme vom
07.05.2009 die Notwendigkeit einer weiteren vollstationären Aphasiebehandlung nicht
an, u.a. mit der Begründung, dass sich die Verbesserungen zumindest teilweise
vermutlich auch im Zeitraum ab 2007 bis zum Beginn der stationären
Aphasiebehandlung ergeben hätten. Nach Erhalt dieser MDK-Beurteilung beendete die
Klägerin die Behandlung der Versicherten und entließ sie am 08.05.2009 aus dem
Krankenhaus. Nach weiterem Schriftwechsel zwischen den Beteiligten unter Einschluss
des MDK stellte die Klägerin der Beklagten am 29.10.2009 für die Behandlung der
Versicherten 6.897,62 EUR in Rechnung. Die Beklagte beglich diese Forderung nicht.
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Am 08.03.2010 hat die Klägerin Klage auf Zahlung der geforderten Vergütung erhoben.
Sie trägt vor, aus Sicht ihrer behandelnden Ärzte seien weitere Fortschritte im Rahmen
einer weiteren stationären Aphasiespezialbehandlung zu erwarten gewesen, die weder
durch teil-, vor- oder nachstationäre Behandlung, noch durch ambulante
Behandlungsalternativen außerhalb eines Krankenhauses hätten erreicht werden
können; die stationäre Behandlung sei somit erforderlich gewesen. Das
Behandlungskonzept mit täglicher logopädischer Einzeltherapie, spezifischen
Selbsttrainingsaufgaben, mehrmaliger wöchentlicher Gruppentherapie,
computergestützten neuropsychologischem Sprachtraining zur Steigerung der
Aufmerksamkeit und der Konzentration, Physiotherapie und physikalischer Therapie
habe dem Behandlungskonzept des früheren Klinikaufanthalts im Jahre 2007
entsprochen und sei der Beklagten bereits hieraus und aus den dem aktuellen
Kostenübernahmeantrag beigefügten Unterlagen bekannt gewesen. Angesichts des
lange im Vorfeld geplanten Aufenthaltes der Versicherten habe die Beklagte die
Möglichkeit gehabt, die Notwendigkeit einer stationären Aufnahme zu prüfen und eine
Kostenübernahme mit Blick auf gegebenenfalls alternative Behandlungsmöglichkeiten
zu versagen. Hiervon habe sie jedoch keinen Gebrauch gemacht, sondern eine
vierwöchige Kostenübernahme erteilt.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte zu verurteilten, ihr 6.897,62 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 %
Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 08.03.2009 zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie weist daraufhin, dass sie die Kostenzusage unter dem Vorbehalt einer Prüfung
durch den MDK erteilt habe. Der MDK habe die Notwendigkeit vollstationärer
Krankenhausbehandlung verneint, weshalb eine Rücknahme der
Kostenübernahmeerklärung möglich gewesen sei. Vor der Behandlung habe sie außer
der Verordnung überhaupt keine Unterlagen gehabt; im Interesse der Versicherten sei
eine schnelle Entscheidung getroffen worden, denn es sei zunächst davon
ausgegangen worden, dass die Entscheidung zur medizinischen Notwendigkeit der
Therapie durch den Arzt korrekt gewesen sei.
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Zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts und der Notwendigkeit einer
stationären Krankenhausbehandlung hat das Gericht ein medizinisches
Sachverständigengutachten von Prof. Dr. I. (Leitender Oberarzt der Abteilung
Neurologie des Universitätsklinikums Freiburg/Labor für klinische und experimentelle
Schlaganfallforschung) eingeholt. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird
auf das Gutachten vom 11.10.2010 verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten und der
Patientenakte der Versicherten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen
sind, Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist zulässig.
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Die Klägerin macht den Anspruch auf Zahlung der Vergütung für erbrachte
Krankenhausleistungen gegen die Beklagte zurecht mit der (echten) Leistungsklage
gemäß § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) geltend. Die Klage eines
Krankenhausträgers auf Zahlung der Behandlungskosten eines Versicherten gegen
eine Krankenkasse ist ein so genannter Beteiligtenstreit im Gleichordnungsverhältnis, in
dem eine Regelung durch Verwaltungsakt nicht in Betracht kommt, kein Vorverfahren
durchzuführen und keine Klagefrist zu beachten ist (BSG, Urteil vom 20.11.2008 - B 3
KN 4/08 KR R - m.w.N.).
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Rechtsgrundlage des Vergütungsanspruchs der Klägerin ist § 109 Abs. 4 Satz 3 Fünftes
Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) i.V.m. dem am 01.01.1997 in Kraft getretenen Vertrag
nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 SGB V für das Land Nordrhein-Westfalen vom 06.12.1996 über
die Allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung (Sicherstellungsvertrag)
zwischen der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen, den Landesverbänden der
Krankenkassen und den Verbänden der Ersatzkassen. Die Zahlungsverpflichtung einer
gesetzlichen Krankenkasse entsteht unabhängig von einer Kostenzusage unmittelbar
mit Inanspruchnahme der Leistung durch den bei ihr versicherten Patienten. Der
Behandlungspflicht der zugelassenen Krankenhäuser steht ein Vergütungsanspruch
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gegenüber, der auf der Grundlage der gesetzlichen Ermächtigung festgelegt wird (BSG,
Urteil vom 12.06.2008 - B 3 KR 19/07 R).
Zweifelhaft ist allerdings, ob sich der Vergütungsanspruch - jedenfalls für die ersten vier
Wochen der Behandlung - bereits aus der Kostenzusage vom 22.01.2009 ergibt. Rein
formal betrachtet scheint die Beklagte nicht mit ihrem Einwand fehlender Notwendigkeit
der Krankenhausbehandlung ausgeschlossen zu sein. Denn in der
Kostenübernahmeerklärung heißt es: "Zwischenprüfung und Widerruf der
Kostenübernahme sowie eine Überprüfung der Abrechnung nach Pflegesätzen,
Fallpauschalen und Sonderentgelten behalten wir uns vor. Diese Kostenzusage gilt
vorbehaltlich des Widerrufs, sofern und solange eine Mitgliedschaft bei unserer Kasse
besteht." Der Sachverhalt gibt jedoch Anlass, die Rechtmäßigkeit des in die
Kostenzusage aufgenommenen Vorbehalts in Zweifel zu ziehen. Aus § 6 Abs. 5 des
Sicherstellungsvertrages ergibt sich, dass eine Kostenzusage im Regelfall vorbehaltlos
zu erteilen ist; sie kann (nur) dann rückwirkend zurückgenommen werden, wenn sie auf
vom Krankenhaus zu vertretenden unzutreffenden Angaben beruhte. Die ärztliche
Verordnung der Krankenhausbehandlung ging am 29.12.2008 bei der Beklagten ein.
Selbst wenn - wie die Beklagte geltend macht - der Behandlungsbeginn ursprünglich für
Anfang Februar 2009 vorgesehen war und sie im Interesse der Versicherten eine
schnelle Entscheidung treffen wollte, hätte sie mehr als einen Monat Zeit gehabt, die
Notwendigkeit der Behandlung, wenn sie daran Zweifel hegte, durch den MDK im
Vorfeld der Behandlung überprüfen zu lassen. Soweit sie geltend macht, sie sei bei ihrer
Entscheidung "zunächst davon ausgegangen, dass die Entscheidung zur
medizinischen Notwendigkeit der Therapie durch den Arzt korrekt" gewesen sei, hätte
gerade dies eine vorbehaltlose Kostenzusage nahe gelegt. Denn hätte sich im
Nachhinein herausgestellt, dass die Angaben, mit denen die Notwendigkeit der
Krankenhausbehandlung begründet worden waren, aus vom Krankenhaus zu
vertretenen Gründen unzutreffend gewesen wären, hätte dies gemäß § 6 Abs. 5 des
Sicherstellungsvertrages eine rückwirkende Rücknahme der Kostenzusage
gerechtfertigt. Wenn der Beklagten - wie sie ebenfalls geltend macht - zunächst außer
der ärztlichen Verordnung "überhaupt keine Unterlagen" vorgelegen hätten, um die
Notwendigkeit der Behandlung überprüfen zu können, hätte es nahe gelegen, solche
umgehend bei der Klägerin anzufordern, wie es auch § 2 Abs. 1 Satz 2 des von den
Beteiligten des Sicherstellungsvertrages ebenfalls geschlossenen Vertrages gemäß §
112 Abs. 2 Nr. 2 SGB V zur "Überprüfung der Notwendigkeit und Dauer der
Krankenhausbehandlung" vorsieht. Insbesondere hätte es nahe gelegen, die Klägerin
und die Versicherte auf - aus Sicht des MDK in Betracht kommende - "Alternativbe-
handlungsmöglichkeiten in speziellen Aphasiestationen von Reha-Kliniken, z.B. in
Soltau oder Bad Liebenstein hinzuweisen und - im Interesse der Versicherten - auch
abzuklären, ob dort zeitnah freie Behandlungskapazitäten zur Verfügung standen. Wenn
die Krankenkasse in dieser Hinsicht jedoch nichts unternimmt, eine Kostenzusage unter
Vorbehalt erteilt und diese aufgrund nachträglicher Überprüfung zurücknimmt u.a. mit
dem Hinweis auf stationäre Behandlungsalternativen in Reha-Kliniken, begegnet dies
nicht zuletzt im Hinblick auf das Vertrauen, das die Verhältnisse der Krankenkassen zu
ihren Versicherten bzw. den Leistungserbringern (hier: Krankenhaus) prägt und prägen
sollte, erheblichen rechtlichen Bedenken. Letztlich kann jedoch dahinstehen, ob der
Widerrufsvorbehalt in der Kostenzusage rechtswidrig war.
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Nach Auswertung aller ihr über den Behandlungsfall bekannt gewordenen Umstände,
medizinischen Unterlagen und Stellungnahmen sowie aufgrund des von Amts wegen
eingeholten Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. I. vom 11.10.2010 ist die
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Kammer davon überzeugt, dass die Behandlung der Versicherten auf der
Aphasiestation der Klägerin als stationäre Krankenhausbehandlung notwendig war,
weil die Versicherte im streitbefangenen Zeitraum krankenhausbehandlungsbedürtig
war.
Nach § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V haben Versicherte Anspruch auf vollstationäre
Behandlung in einem zugelassenen Krankenhaus, wenn die Aufnahme nach Prüfung
durch das Krankenhaus erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch
teilstationäre, vor- und nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich
häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann. Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit
ist ein Krankheitszustand, dessen Behandlung den Einsatz der besonderen Mittel eines
Krankenhauses erforderlich macht. Besondere Mittel des Krankenhauses sind u.a. eine
operative Mindestausstattung, geschultes Pflegepersonal und ein jederzeit präsenter
oder rufbereiter Arzt. Dabei fordert die Rechtsprechung für die Notwendigkeit einer
Krankenhausbehandlung weder den Einsatz aller dieser Mittel noch sieht sie ihn stets
als ausreichend an. Es ist vielmehr eine Gesamtbeachtung vorzunehmen, bei der den
mit Aussicht auf Erfolg angestrebten Behandlungszielen und den vorhandenen
Möglichkeiten einer vorrangigen ambulanten Behandlung entscheidende Bedeutung
zukommt (BSG, Urteil vom 16.12.2008 - B 1 KN 3/08 KR R - m.w.N.). Ob eine stationäre
Krankenhausbehandlung notwendig ist, richtet sich allein nach den medizinischen
Erfordernissen. Zur Beurteilung der Notwendigkeit ist von dem im Behandlungszeitpunkt
verfügbaren Wissens- und Kenntnisstand des verantwortlichen Krankenhausarztes
auszugehen (BSG/Großer Senat, Beschluss vom 25.09.2007 - GS 1/06). Nach diesen
Grundsätzen war die stationäre Krankenhausbehandlung der Versicherten vom 05.04.
bis 08.05.2009 notwendig.
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Die seit vielen Jahren in der Klinik der Klägerin durchgeführte Aachener
Aphasiespezialbehandlung wird als intensive multidisziplinäre Komplexbehandlung
durchgeführt und ist als solche in der medizinischen Fachwelt anerkannt. Sie umfasst
logopädische Intensivtherapie, physiotherapeutische Behandlung der Grob- und
Feinmotorikstörung, phsysikalische Therapie, neuropsychologische Diagnostik und
neuropsychologisches Training am Computer, Dyskalkuliediagnostik sowie ein Training
zur Zahlenverarbeitung, Milieutherapie zur Verbesserung der Selbstständigkeit im
Alltag, neurologische und internistische Kontrolluntersuchungen sowie kontinuierliche
ärztliche Betreuung. Das Behandlungsangebot wird für jeden Patienten individuell
angepasst. Die Behandlungsdauer beträgt in der Regel sieben Wochen. Die
medizinische Notwendigkeit einer stationären Behandlung auf der Aachener
Aphasiestation wird im Einzelfall entweder durch ausführliche neurologische,
neuropsychologische und neulinguistische Untersuchungen in der Sprachambulanz vor
Ort ermittelt oder durch sorgfältige Evaluation von früheren Befundberichten (vgl. die
allgemeinen "Informationen für Krankenkassen und medizinische Dienste" der Klägerin,
Blatt 4-7 der Verwaltungsakte der Beklagten). Nach den Leitlinien der Deutschen
Gesellschaft für Neurologie "Rehabilitation aphasischer Störungen nach Schlaganfall"
(4. überarbeitete Auflage 2008) ist ein wesentlicher Einflussfaktor die Therapieintensität.
Studien haben gezeigt, dass eine höhere Therapiefrequenz mit einem größeren
positiven Behandlungseffekt einhergeht. Gegebenenfalls ist auch nach mehr als zwölf
Monaten nach dem Schlaganfallergeignis eine Wiederholung von stationärer
Behandlung mit Intensivtherapie (sechs bis acht Wochen mit möglichst täglichen
Therapiestunden) notwendig. Nach den Leitlinien 2000 der Gesellschaft für
Aphasieforschung und -behandlung und der Deutschen Gesellschaft für
Neurotraumatologie und klinische Neurophysiologie ist bei einem Schlaganfall
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zwischen einer Akutphase (zwei bis sechs Wochen), einer Postakutphase (ein bis zwölf
Monate) und einer chronischen Phase (länger als zwölf Monate) zu unterscheiden.
Spätestens nach zwölf Monaten tritt ein chronischer Zustand ein; weitere Besserung
erfolgt nicht mehr spontan. Bei vielen Patienten können jedoch durch intensives Üben
und Lernen weitere Fortschritte erzielt werden. Insbesondere für Aphasien gilt: Der
Wiedererwerb der verlorenen oder gestörten Sprache ist auch in der chronischen Phase
möglich. Die Fortsetzung von Therapie in der chronischen Phase setzt voraus, dass das
Vorliegen kontinuierlicher Lernfortschritte durch standardisierte Testverfahren
nachgewiesen wird. Sobald längerfristige Lernplateaus erreicht werden, ist die
Fortsetzung gezielter Sprach- und Sprechtherapien nicht mehr sinnvoll.
Im Fall der Klägerin haben die Ärzte der Aachener Aphasiestation in ihren
Empfehlungen an die behandelnden Hausärzte der Versicherten dargelegt, dass
während der ersten stationären Behandlung vom 17.09. bis 02.11.2007 "signifikante
sprachliche Fortschritte" erzielt werden konnten und weitere Fortschritte zu erwarten
waren. Zwar haben die Ärzte es im Vorfeld der zweiten stationären Aphasiebehandlung
unterlassen, den auch nach den beiden vorgenannten Leitlinien der Fachgesellschaften
empfohlenen Aachener Aphasietest (AAT) durchzuführen. Jedoch haben die Ärzte dies
am 04.05.2009 nachgeholt. Ausweislich des ausführlichen Berichts vom selben Tag
haben die Testergebnisse gezeigt, dass die Versicherte nach schwankendem
Anfangsverlauf insgesamt ein Lernplateau für die Anforderungen des Aachener
Aphasietests erreicht hat. Die jetzt vorliegenden Ergebnisse - so die Ärzte - seien stabil
überzufällig besser als bei den Erst- bzw. Zweituntersuchung gewesen; bei genauer
Analyse der Spontansprache (Computerunterstützt mit der Aachener Sprachanalyse
ASPA) hätten sich deutliche Verbesserungen der syntaktischen und morphologischen
Fähigkeiten der Versicherten gezeigt. Die Ärzte haben dies an einem Textbeispiel
demonstriert. Daraus ergibt sich, dass die sprachliche Kommunikation jetzt deutlich
verbessert war. Insgesamt hielten die Ärzte die Versicherte trotz chronischer Aphasie für
weiterhin sprachlich lernfähig.
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Daraus folgt, dass - entgegen der vom MDK zuletzt in seiner Stellungnahme vom
05.11.2010 vertretenen Auffassung - vor der zweiten Aphasiespezialbehandlung noch
kein längerfristiges Lernplateau erreicht war, das die Fortsetzung gezielter Sprach- und
Sprechtherapie nicht mehr hätte sinnvoll erscheinen lassen. Vielmehr wurde dies erst im
Verlauf der Behandlung erreicht. Zu Beginn dieser Behandlung hatte die Versicherte
Schwierigkeiten in Satzplanung, Grammatik und Wortfindung sowie in der
Spontansprache. In den syntaktischen Übungen konnte sie gute Verbesserungen
erzielen (Bericht der neurologischen Klinik der Klägerin vom 08.06.2009).
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Dieser Behandlungserfolg, davon ist die Kammer überzeugt, wurde gerade durch die
intensive Aphasiespezialbehandlung erreicht. Die Klägerin hat den Umfang der
Therapie aufgelistet; danach erhielt der Versicherte allein in den Bereichen
logopädische Einzeltherapie, logopädische Gruppentherapie, PC-Training: Sprache
und Neuropsychologie, kommunikative und kreative Therapie sowie Physiotherapie und
physikalische Therapie durchschnittlich 17,4 Zeitstunden pro Woche. Berücksichtigt
man die weiteren in einem Krankenhaus regelmäßig anfallenden Handlungs- und
Behandlungsbereiche, so wird deutlich, dass eine solche Behandlung nur stationär
ausgeführt werden kann. Dies ergibt sich nicht zuletzt auch aus dem Gutachten des
Sachverständigen Prof. Dr. I ... Er hat dargelegt, dass die Aphasiespezialbehandlung
einen stationären Aufenthalt verlangt, da nur so die Intensität der multimodalen
Förderung erreicht werden könne, die wiederum die Voraussetzung für signifikante
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Fortschritte sei. Dieses Therapieprinzip sei nicht nur logopädisch, physiotherapeutisch
und neuropsychologisch isoliert zu rechtfertigen; vielmehr stellten das
Zusammenwirken, ergänzt durch Mileutherapie mit In-Vivo-Training, Notwendigkeiten
dar, um die anerkannten Fortschritte bei der Aphasietherapie von Patienten mit
schwersten Schädigungen im Bereich des Sprachzentrums zu erreichen. Ein
entsprechendes Setting liege am Universitätsklinikum Aachen vor, wobei diese
hochintensive Therapie weit über die Intensität einer üblichen Rehabilitation
hinausgehe.
Da es sich bei der Aachener Aphasiespezialbehandlung um eine Behandlung handelt,
die stationär nur in einem Krankenhaus - eben dem der Klägerin - durchgeführt wird, war
die Behandlung der Versicherten auch als stationäre Krankenhausbehandlung
medizinisch notwendig. Dies begründet den Vergütungsanspruch der Klägerin.
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Der Zinsanspruch ergibt sich aus § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V i.V.m. §§ 291, 288 Abs. 1
Satz 2 BGB.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 1, 161
Abs. 1, 162 Abs. 1 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung stützt sich auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 52 Abs. 1
und 2, 63 Abs. 2 GKG.
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