Urteil des SozG Aachen vom 08.02.2011

SozG Aachen: belgien, europäische versichertenkarte, private krankenversicherung, urlaub, krankenkasse, freizügigkeit, sachleistung, eugh, abkommen, transport

Sozialgericht Aachen
Urteil vom 08.02.2011 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Aachen S 13 KR 177/10
Die Klage wird abgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Erstattung von Kosten in Höhe von 526,51 EUR, die dem Kläger anlässlich einer
Krankenhausbehandlung in Belgien entstanden sind.
Der am 00.00.0000 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Er hielt sich im Juni 2009
zum Urlaub an der niederländischen Küste (nahe der belgischen Grenze) auf. Zuvor hatte er sich auf der Internet-Seite
der Beklagten über den Krankenversicherungs-(KV-)schutz im Ausland informiert. Eine private Krankenversicherung
schloss er nicht ab. Am 12.06.2009 erlitt er während des Urlaubs in den Niederlanden einen Herzinfarkt. Vom
Notfalldienst wurde er über die Grenze nach Belgien in ein Krankenhaus in Brügge gebracht. Dort wurde er vom 12.
bis 17.06.2009 stationär behandelt. Über die vom Kläger vorgelegte Europäische Versichertenkarte (EHIC) rechnete
das Krankenhaus mit dem örtlichen Sozialversicherungsträger (Ziekenfonds) und dieser mit der Beklagten
Krankenhausbehandlungskosten in Höhe von 5.538,89 EUR ab. Einen Restbetrag (Eigenanteil) von 526,51 EUR
stellte das belgische Krankenhaus dem Kläger selbst in Rechnung. Der Kläger zahlte diesen Betrag im November
2009 an das Krankenhaus.
Am 10.09.2009 legte der Kläger der Beklagten die Rechnungsunterlagen vor und beantragte die Überweisung des ihm
in Rechnung gestellten Eigenanteilsbetrages an das belgische Krankenhaus.
Durch Bescheid vom 15.09.2009 lehnte die Beklagte die Übernahme der 526,51 EUR ab. Es handele sich um eine
"Zuzahlung zur Krankenhausbehandlung" nach belgischem Recht; in den Niederlanden falle diese Zuzahlung nicht an;
die Zuzahlung sei vom Kläger unmittelbar an das belgische Krankenhaus zu entrichten und nicht erstattungsfähig;
dabei sei nicht maßgebend, dass er von seinem Urlaubsort in den Niederlanden in ein Krankenhaus nach Belgien
gebracht worden sei.
Dagegen legte der Kläger am 20.09.2009 Widerspruch ein. Er wies daraufhin, dass er in den Niederlanden im Urlaub
gewesen sei, wo laut dem Merkblatt des GKV-Spitzenverbandes keine Krankenhauskosten für Deutsche, die dort
Urlaub machten, anfielen. Er sei im Rahmen eines Hilfeabkommens zwischen den Niederlanden und Belgien wegen
einer tödlichen Erkrankung nach Belgien transportiert und dort behandelt worden; diese Entscheidung sei nicht durch
ihn, sondern durch die Verantwortlichen des Gesundheitssystems vor Ort getroffen worden. Der Kläger vermutete,
auch Personen mit regelmäßigem Wohnsitz in den Niederlanden, die in gleicher Weise erkrankten, seien von einer
Zuzahlung gegenüber dem belgischem Krankenhausträger befreit.
Auf Anfrage der Beklagten teilte das niederländische "College voor zorgverzekeringen" (CVZ) mit, es existiere kein
Abkommen zwischen dem belgischem Krankenhaus und dem CVZ; auch niederländische Versicherte müssten bei
einer Überweisung in eine belgische Einrichtung Zuzahlungen leisten; es gebe kein internes Abkommen zwischen
dem CVZ und dem belgischen Krankenversicherungsträger, wonach Kosten verrechnet werden könnten.
Daraufhin wies die Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 26.05.2010 zurück.
Dagegen hat der Kläger am 24.06.2010 Klage erhoben. Er ist der Auffassung, sein geltend gemachter
Kostenerstattungsanspruch sei nach § 13 Abs. 4 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) begründet. Die von der
Beklagten zur Verfügung gestellten Informationen über den KV-Schutz während eines Urlaubs in den Niederlanden
enthielten den ausdrücklichen Hinweis, dass für eine Krankenhausbehandlung in den Niederlanden eine Zuzahlung
nicht anfalle. Deshalb habe er darauf vertrauen dürfen, bei einer Erkrankung in den Niederlanden auch dann eine
vollständige Erstattung der medizinisch notwendigen Behandlung durch seine Krankenkasse zu erhalten, wenn er
ohne seinen Willen nicht in den Niederlanden, sondern im angrenzenden Belgien tatsächlich behandelt worden sei.
Allenfalls wäre ein Abschlag in Höhe der Zuzahlungsbeträge vorstellbar, wie sie bei gleicher Behandlung in
Deutschland aufzubringen wären. Der Kläger beruft sich auf den europarechtlichen Grundsatz der Freizügigkeit.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 15.09.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
26.05.2010 zu verurteilen, ihm 526,51 EUR zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat auf Bitten des Gerichts über die Deutsche Verbindungsstelle Krankenversicherung Ausland (DVKA) beim
belgischen Sozialversicherungsträger in Brüssel eine Auskunft eingeholt und diese in das Verfahren eingeführt. Sie
meint, es liege nicht in ihrem Ermessen, den Kläger einem in den Niederlanden erkrankten und behandelten Patienten
gleichzustellen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten
gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen den Kläger betreffenden
Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.
Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)
beschwert, da sie nicht rechtswidrig sind. Er hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Erstattung der von ihm an
das belgische Krankenhaus in Brügge gezahlten 526,51 EUR.
Der vom Kläger geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch ist nicht nach § 13 Abs. 4 und 4 SGB V begründet.
Nach diesen Vorschriften sind Versicherte berechtigt, auch Leistungserbringer - hier: ein Krankenhaus - in anderen
Staaten im Geltungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 1408/71 (EG-VO 1408/71) anstelle der Sach- oder Dienstleistung
im Wege der Kostenerstattung in Anspruch zu nehmen. Der Anspruch auf Erstattung besteht in diesem Fall
höchstens in Höhe der Vergütung, die die Krankenkasse bei Erbringung einer Sachleistung im Inland zu tragen hätte.
Diese Kostenerstattungsregelungen finden vorliegend keine Anwendung, weil die Leistung "Krankenhausbehandlung"
bei dem belgischen Krankenhaus als Sachleistung in Anspruch genommen wurde; das belgische Krankenhaus hat
diese Leistung im Wege der europarechtlichen Sachleistungsaushilfe über den (aushelfenden) belgischen
Versicherungsträger abgerechnet, der wiederum die Kosten mit der Beklagten abgerechnet hat. Grundlage dieses
Sachleistungsanspruchs und der Sachleistungserbringung war Art. 22 Abs. 1 Buchstabe a) Ziff. i) EG-VO 1408/71, die
ab 01.05.2010 durch die EG-VO 883/2004 abgelöst worden ist, im Fall des Klägers aber noch Anwendung fand, da
seine Behandlung im Jahre 2009 erfolgte. Nach Art. 22 Abs. 1 Buchstabe a) Ziff. i) EG-VO 1408/71 hat ein
Versicherter, der die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für den Leistungsanspruch erforderlichen
Voraussetzungen erfüllt und dessen Zustand während eines Aufenthalts im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates
unverzüglich Leistungen erfordert, Anspruch auf Sachleistungen für Rechnung des zuständigen Trägers vom Träger
des Aufenthaltsorts nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften, als ob er bei diesem versichert wäre.
Diese Voraussetzungen waren in Bezug auf den Kläger, der bei der Beklagten als zuständigem Träger nach
deutschen Rechtsvorschriften krankenversichert und leistungsberechtigt war, aufgrund des während des Urlaubs in
den Niederlanden erlittenen Herzinfarkts und die dadurch notwendige Krankenhausbehandlung erfüllt. Dass die
notwendige Krankenhausbehandlung auf Veranlassung der Verantwortlichen vor Ort im grenznahen Belgien
durchgeführt wurde, ändert an der Begründetheit des Sachleistungsanspruchs nach Art. 22 Abs. 1 Buchstabe a) Ziff.
i) EG-VO 1408/71 nichts.
Auch wenn diese Vorschrift sich ausdrücklich nur mit "Sachleistungen" befasst, schließt sie nach Sinn und Zweck
auch sachleistungsersetzende Kostenerstattungsansprüche mit ein, falls das Recht des anderen Mitgliedstaates (hier:
Belgien) solche vorsehen sollte (vgl. BSG, Urteil vom 30.06.2009 - B 1 KR 22/08 R). Dies ist aber auch in Bezug auf
die noch streitbefangenen 526,51 EUR nicht der Fall. Bei diesen Kosten handelt es sich um einen nach belgischem
Recht von jedem Patienten zu tragenden Eigenanteil/Zuzahlungsbetrag, den er unmittelbar selbst an das
Krankenhaus zu zahlen hat und den er auch nach belgischem Recht nicht vom belgischen Sozialversicherungsträger
erstattet bekommt. Da dem belgischen Sozialversicherungsträger lediglich die Kosten der Krankenhausbehandlung
abzüglich des Eigenanteils entstanden sind, war auch nur diese Summe von der Vergütungspflicht bezüglich der
Sachleistung "Krankenhausbehandlung" umfasst und ist dem belgischen Sozialversicherungsträger zurecht von der
Beklagten auch nur dieser Betrag erstattet worden. Die darüber hinaus gehenden Aufwendungen sind vom
Versicherten ohne Anspruch auf Erstattung zu tragen.
Unter diesen Umständen ist für einen Anspruch nach § 13 Abs. 4 und 5 SGB V kein Raum mehr. Diese Regelungen
decken den Fall ab, dass die gesamten Behandlungskosten vom Versicherten selbst bezahlt und dieser bei seiner
(inländischen) Krankenkasse Kostenerstattung beantragt. Sie können auch nicht ergänzend oder isoliert als
Rechtsgrundlage für die Erstattung von Eigenanteilen/Zuzahlungen, die nach belgischem Recht vom Versicherten zu
zahlen und dort nicht erstattungsfähig sind, gegenüber der zuständigen (inländischen) Krankenkasse - der Beklagten -
herangezogen werden.
Auch ein Anspruch auf Kostenerstattung gem. § 13 Abs. 3 SGB V scheidet aus. Die Sperre des § 16 Abs. 1 Nr. 1
SGB V, wonach Leistungsansprüche aus der gesetzlichen Krankenversicherung ruhen, solange Versicherte sich im
Ausland aufhalten, und zwar auch dann, wenn sie dort während eines vorübergehenden Aufenthalts erkranken, wird
durch die Regelungen des koordinierenden Europarechts in der EG-VO 1408/71 und der EG-VO 574/72 (ab 01.05.2010
abgelöst durch die EG-VO 883/2004 und EG-VO 987/2009 ) i. V. m. den § 13 Abs. 4 und 5 SGB V überwunden, nicht
aber durch § 13 Abs. 3 SGB V (BSG, Urteil vom 30.06.2009 - B 1 KR 22/08 R).
Entgegen der Auffassung des Klägers verstösst dieses Ergebnis nicht gegen das europäische Gemeinschaftsrecht.
Die Versagung einer (ergänzenden) Erstattung des nach belgischem Recht von Patienten/Versicherten unmittelbar an
das Krankenhaus zu zahlenden Eigenanteils stellt insbesondere keine Beeinträchtigung der Freizügigkeit und der
Dienstleistungsfreiheit dar. Zu unterscheiden ist die sog. geplante Behandlung gemäß Art. 22 Abs. 1 Buchstabe c)
EG-VO 1408/71 von der unerwarteten Behandlung, die Art. 22 Abs. 1 Buchstabe a) EG-VO 1408/71 erfasst. Die
geplante Behandlung berührt die Dienstleistungsfreiheit; hierzu ergingen die Entscheidungen des Europäischen
Gerichtshofs (EuGH) vom 12.07.2001 - Vanbraekel u.a. (C-368/98) - und vom 16.05.2006 - Watts (C-372/04); infolge
dieser und anderer EuGH-Entscheidungen hat der deutsche Gesetzgeber die Regelungen des § 13 Abs. 4 und 5 SGB
V eingeführt. Anders liegt der Fall bei einer unerwarteten Behandlung. Einem Versicherten, der sich beispielsweise
aus touristischen Gründen, nicht aber wegen einer beliebigen Unzulänglichkeit im Angebot des Gesundheitssystems,
dem er angeschlossen ist, in einen Mitgliedsstaat begibt, garantieren die Regeln des Vertrags über die Freizügigkeit
nicht die Neutralität hinsichtlich aller Leistungen der Krankenhausbehandlung, deren Durchführung sich bei ihm
unerwarteterweise als im Aufenthaltsmitgliedstaat erforderlich erweisen könnte. Aufgrund der nationalen Unterschiede
bei der sozialen Absicherung auf der einen und dem Zweck der EG-VO 1408/71, die nationalen Vorschriften zu
koordinieren, nicht aber, sie einander anzugleichen, auf der anderen Seite können die Bedingungen im
Zusammenhang mit Krankenhausaufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat je nach Einzelfall Vor- oder Nachteile für
den Versicherten haben (EuGH, Urteil vom 15.06.2010 - C-211/08). Daran ändert sich nichts dadurch, dass der Kläger
zum Urlaub in die Niederlande gefahren war, wo es keinen Eigenanteil zu den Krankenhausbehandlungskosten gibt,
jedoch nach Belgien transportiert und dort behandelt wurde. Auch eine solche Situation ist allein die Folge der mit den
Ungewissheiten einer Urlaubsreise in das EG-Ausland und der mit einer unerwarteten Behandlungsnotwendigkeit
verbundenen Vor- und Nachteile. Auch wenn der Kläger sich vor seinem Urlaub über die Leistungsbedingungen im
Krankheitsfall in den Niederlanden erkundigt hat, hätte er - davon ist die Kammer überzeugt - nicht von dieser
Urlaubsreise Abstand genommen, wenn er gewusst hätte, dass im Falle eines Herzinfarktes und einem damit
notwendigen Transport in ein (grenznahes) belgisches Krankenhaus möglicherweise Kosten auf ihn zukommen. In
einer Notsituation, in der sich der Kläger aufgrund seines Herzinfarkts befunden hat, haben die Verantwortlichen vor
Ort - auch davon ist die Kammer überzeugt - in erster Linie das Gesundheitsinteresse des Patienten und medizinische
Notwendigkeiten im Blick gehabt, als sie den Transport nach Belgien veranlassten. Dass dies in dieser Situation ohne
den - zumindest mutmaßlichen - Willen oder gar - wie der Kläger behauptet - gegen seinen Willen geschah, ist nicht
nachvollziehbar und auch kaum glaubhaft, jedenfalls aber durch nichts substanziiert oder belegt.
Schließlich eröffnet auch § 25 Abs. 7 der zur Durchführung der neuen EG-VO 883/2004 erlassenen EG-VO 987/2009
keinen Anspruch auf Erstattung des Eigenanteils von 526,51 EUR. Zwar zielt diese Norm auf Fälle, in denen der
Versicherte aufgrund höherer Selbstbehalte im Behandlungsstaat schlechter gestellt ist, als er bei einer Behandlung
im Inland gestanden hätte (so: Janda, "Die Verteilung der Kostenlast bei ungeplanten Krankenhausaufenthalten in
anderen EU-Mitgliedstaaten", in: ZESAR 2010, S. 465, 467). Allerdings handelt es sich um eine Ermessensnorm
("kann"), die keine Verpflichtung des zuständigen Trägers zur ergänzenden Erstattung solcher Selbstbehalte
begründet. Zudem ist die EG-VO 987/2009 - wie die EG-VO 883/2004 - erst am 01.05.2010 in Kraft getreten, findet
also auf den Fall des Klägers noch keine Anwendung. Eine gleichlautende Vorschrift enthielt die im Jahre 2009 noch
geltende Durchführungsverordnung EG-VO 574/72 nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Kammer hat die im Hinblick auf den Beschwerdewert grundsätzlich nicht statthafte Berufung zugelassen, weil sie
der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beimisst (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Abs. 2 Nr. 1 SGG).