Urteil des SozG Aachen vom 01.03.2011

SozG Aachen: geistige behinderung, international classification of diseases, sachliche zuständigkeit, unterbringung, berufliche eingliederung, körperliche behinderung, geistig behinderter, jugendhilfe

Sozialgericht Aachen
Urteil vom 01.03.2011 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Aachen S 20 (19) SO 139/09
Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die im Hilfefall N. C. für die Hilfe vom 01.07.2005 bis 30.06.2009
entstandenen Kosten in Höhe von 101.622,03 EUR zu erstatten und darauf Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über
dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 22.12.2009 zu zahlen. Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte. Der
Streitwert wird auf 101.622,03 EUR festgesetzt.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt von dem Beklagten die Erstattung der für einen Hilfeempfänger (HE) für die Zeit vom 01.07.2005
bis 30.09.2009 erbrachten Aufwendungen in Höhe von 101.622,03 EUR.
Der am 00.00.0000 geborene HE und sein älterer Bruder wurden seit 1991 von der Klägerin als Trägerin der
öffentlichen Jugendhilfe wegen Verwahrlosungstendenzen, die in der Familie aufgefallen waren, betreut; ein
erzieherischer Einfluss der Eltern war nicht vorhanden. Der HE wurde zunächst vom Schul(pflicht)besuch
zurückgestellt. Ab September 1996 besuchte er einen Kinderhort.
Auf Antrag der Eltern bewilligte und gewährte die Klägerin dem HE ab 02.01.1997 Hilfe zur Erziehung in Form von
Heimerziehung im Kinder- und Jugendheim "N.". In den Berichten aus Januar 1999 und 2000 wurde von
Sozialverhaltens- und Entwicklungsstörungen (u.a. Einnässen/Einkoten) des HE berichtet. Im Oktober 1999
diagnostizierte die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der RWTH Aachen eine leichte Intelligenzminderung
(geistige Behinderung) des HE. Im Februar 2000 bescheinigte Dr. U. (Gesundheitsamt der Klägerin) bei dem HE eine
Aufmerksamkeitsdefizitstörung, Leistungsverweigerung, erhebliche Verhaltensauffälligkeiten und eine
Lernbehinderung. In einem Bericht vom 11.07.2005 stellte das Gesundheitsamt (Dr. U.) fest, bei dem HE bestehe eine
"wesentliche geistige Behinderung" bei einem Intelligenzquotienten unter 70; aufgrund der allgemeinen und auch
insbesondere psychoemotionalen Entwicklungsstörung sei die weitere Betreuung im Kinderheim "N." als geeignete
Maßnahme anzusehen. Seit Oktober 2005 besuchte der HE auch eine Werkstatt für Behinderte, die bei ihm eine
geistige Behinderung feststellte.
Am 20.10.2005 machte die Klägerin unter Bezugnahme auf die Feststellungen des Gesundheitsamtes vom
11.07.2005 beim Beklagten einen Erstattungsanspruch geltend. Sie vertrat die Auffassung, der HE gehöre zum
Personenkreis der Eingliederungshilfeberechtigten nach dem Sozialhilferecht; es sei bei ihm eine geistige
Behinderung festgestellt worden; die Leistungen der Sozialhilfe (Eingliederungshilfe) kämen immer dann vorrangig
zum Tragen, wenn die Voraussetzungen aufgrund einer geistigen Behinderung vorlägen. Am 15.11.2005 attestierte der
Kinder- und Jugendarzt H., dass für den HE "aufgrund geistiger Behinderung und Aufmerksamkeitsdefizit- und
Hyperaktivitätsstörung" ein amtlicher Betreuer notwendig sei. Durch Bescheid vom 16.03.2007 stellte das
Versorgungsamt das Vorliegen einer geistigen Behinderung beim HE und einen dadurch bedingten Grad der
Behinderung von 80 fest. Zum 31.03.2007 wurde der (inzwischen volljährige) HE aus dem Kinderheim entlassen.
Mit Schreiben vom 22.03.2006 lehnte der Beklagte das Erstattungsbegehren der Klägerin ab. Zur Begründung führte
er aus, seine sachliche Zuständigkeit wäre gegeben, wenn unter Berücksichtigung des Alters des HE eine
wesentliche dauerhafte geistige oder körperliche Behinderung vorliegen würde. Zwar sei im Gutachten des
Gesundheitsamtes vom 11.07.2005 eine Intelligenz mit einem IQ unter 70 festgestellt, wonach eine wesentliche
geistige Behinderung vorliege, und es sei darauf aufmerksam gemacht worden, dass aufgrund der Behinderung die
Unterbringung in einem Heim notwendig sei. Jedoch werde auch festgestellt, dass für den HE aufgrund der
allgemeinen und auch insbesondere der psychoemotionalen Entwicklungsstörung die weitere Betreuung im
Kinderheim "N." als eine geeignete Maßnahme zu sehen sei. Da es sich bei diesem Kinderheim um eine Einrichtung
für seelisch behinderte Kinder handele, gehe er - der Beklagte - davon aus, dass die seelische Behinderung des HE
vorrangig gegenüber der geistigen Behinderung sei.
Am 13.03.2007 beantragte die zwischenzeitlich vom Amtsgericht bestellte Betreuerin des HE beim Beklagten die
Übernahme der Kosten für ambulant betreutes Wohnen ab 01.04.2007. Mit Schreiben vom 15.03.2007 leitete der
Beklagte den Kostenübernahmeantrag unter Hinweis auf § 14 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) an die
Klägerin weiter mit der Begründung, es handele sich vorrangig um eine seelische Behinderung eines jungen
Erwachsenen; der Beklagte bat deshalb, über den Antrag "in eigener Zuständigkeit gem. § 35 KJHG" zu entscheiden.
Durch Bescheid vom 25.04.2007 bewilligte die Klägerin dem HE vorläufig Eingliederungshilfe gem. §§ 35a, 41 Achtes
Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) im Rahmen ambulant betreuten Wohnens. Sie wies daraufhin, dass auch die
Voraussetzungen für Eingliederungshilfe gem. § 53 SGB XII gegeben seien; diese Leistung gehe der
Jugendhilfeleistung voraus; sie werde bei dem Beklagten Erstattung anmelden.
Vor dem Hintergrund, dass sich der HE der Mitarbeit entzog und keine zielgerichtete Hilfestellung mehr geleistet
werden konnte, wurden die Leistungen des ambulant betreuten Wohnens zum 30.06.2009 eingestellt.
Am 22.12.2009 hat die Klägerin Leistungsklage erhoben. Sie weist daraufhin, aus den diversen Berichten der Klinik für
Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Grundschule und des Kinderheims ergebe sich, dass der HE an einer wesentlichen
geistigen Behinderung leide und deshalb jedenfalls seit Juli 2005 stationärer Unterbringung bedurft habe, weil die
geistige Behinderung ihm eine eigenständige Lebensführung unmöglich gemacht habe. Unerheblich sei, ob der
Schwerpunkt des Hilfebedarfs ggf. wegen der seelischen Behinderung bestanden habe und erfüllt worden sei. Hier
verkenne der Beklagte die Systematik des Kostenerstattungsanspruchs und das Vor- und Nachrangverhältnis im
Bereich des SGB VIII und des SGB XII. Sowohl für die Unterbringung im Kinderheim als auch für das ambulant
betreute Wohnen sei der Beklagte vorrangig leistungs- und daher erstattungsverpflichtet.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, ihr die im Hilfefall N. C. für die Hilfe vom 01.07.2005 bis 30.06.2009 entstandenen
Kosten in Höhe von 101.622,03 EUR zu erstatten und darauf Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem
jeweiligen Basiszinssatz seit dem 22.12.2009 zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist der Meinung, bei den gewährten Leistungen (Hilfe zur Erziehung) handele es sich um typische Maßnahmen der
Jugendhilfe, nicht um solche der Eingliederungshilfe nach Sozialhilferecht. Die Aufnahme in die Einrichtung sei
erforderlich geworden, weil die Eltern die Erziehung und das Kindeswohl nicht hätten sicherstellen können. Allein das
Bestehen einer geistigen Behinderung führe nicht zu einem Konkurrenzverhältnis zwischen Jugendhilfe und
Sozialhilfe; vorrangig sei die Sozialhilfeleistung nur, wenn wegen der körperlichen/geistigen Behinderung ein
Eingliederungshilfebedarf bestehe. Der Beklagte bestreite nicht, dass beim HE in der Zeit von 2005 bis 2009 eine
leichte geistige Behinderung beschrieben werde, jedoch habe diese keinen Bedarf zur Unterbringung in einem Heim
zur Eingliederung geistig behinderter Menschen ausgelöst. Die Heimunterbringung sei wegen des in der
Herkunftsfamilie bestehenden Erziehungs- und Betreuungsdefizits und der seelischen Behinderung des HE notwendig
geworden. Dafür sei die Klägerin als Jugendhilfeträger zuständig gewesen.
Das Gericht hat über die Art der beim HE im streitbefangenen Zeitraum bestehenden Behinderungen den dadurch
bedingten Hilfebedarf sowie Art und Umfang der erbrachten Hilfe Auskünfte eingeholt von dem Kinder- und
Jugendheim "N." und dem Aachener Betreuungsbüro. Wegen der Ergebnisse wird auf die Auskünfte vom 07.12.2010
und 02.12.2010 verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten
gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen den HE betreffenden
Verwaltungsakten der Klägerin und des Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig.
Es handelt sich um eine Leistungsklage auf Kostenerstattung zwischen zwei Sozialleistungsträgern im
Gleichordnungsverhältnis; ein Vorverfahren ist nicht notwendig und auch nicht durchgeführt worden.
Die Klage ist auch begründet.
1. Leistungszeitraum vom 01.07.2005 bis 31.03.2007 (Unterbringung im Kinder- und Jugendheim)
Der von der Klägerin geltend gemachte Erstattungsanspruch gegen den Beklagten für die Aufwendungen der
Unterbringung des HE in einem Kinder- und Jugendheim ergibt sich aus § 104 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB
X). Denn die Klägerin hat für den HE Sozialleistungen als nachrangig verpflichteter Leistungsträger erbracht; vorrangig
aber war der Beklagte verpflichtet gewesen, Eingliederungshilfe aus Mitteln der Sozialhilfe zu leisten.
Der HE war (und ist) geistig und seelisch wesentlich behindert. Dies ergibt sich zur Überzeugung der Kammer aus den
zahlreichen Berichten und Gutachten über den HE. Nur beispielhaft sei auf die Berichte der Kinder- und
Jugendpsychiatrie der RWTH Aachen und des Gesundheitsamtes der Klägerin verwiesen. Insbesondere im Bericht
von Dr. U. vom 11.07.2005 wird eine wesentliche geistige Behinderung des HE bei einer Intelligenz mit einem IQ unter
70 festgestellt, zusätzlich eine psychoemotionale Entwicklungsstörung. Auch von den Verantwortlichen der Werkstatt
für Behinderte, die der HE seit Oktober 2005 besuchte, wurde eine geistige Behinderung festgestellt. Der Begriff
"geistige Behinderung" bezeichnet einen andauernden Zustand deutlich unterdurchschnittlicher kognitiver Fähigkeiten
eines Menschen sowie damit verbundene Einschränkungen seines affektiven Verhaltens. Medizinisch orientierte
Definitionen sprechen von einer Minderung oder Herabsetzung der maximal erreichbaren Intelligenz. Die International
Classification of Diseases (ICD-10) bezeichnet das Phänomen unter den Ziffern F 70 bis F 79 als
Intelligenzminderung (vgl. Wikipedia, Freie Enzyklopädie, zum Stichwort "geistige Behinderung"). Auch nach dem
klinischen Wörterbuch "Pschyrembel" (258. Auflage, S. 768) ist unter Intelligenzminderung ein Zustand verzögerter
und unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten zu verstehen und ist die Höhe der Intelligenzminderung
Grundlage für die Einteilung einer geistigen Behinderung nach dem Schweregrad. "Geistige Behinderung" ist die
Bezeichnung für eine angeborene oder frühzeitig erworbene Intelligenzminderung, die mit einer Beeinträchtigung des
Anpassungsvermögens einher geht. Die Symptome einer geistigen Behinderung sind u.a. eine eingeschränkte
kognitive bzw. sprachliche Entwicklung, Anpassungsstörungen, Störungen der Affektivität und psychomotorische
Retardierung. Sowohl die seelische als auch die geistige Behinderung des HE haben einen Hilfebedarf begründet, und
zwar auch und gerade im Hinblick auf die Unterbringung in einem Heim. Dem Beklagten ist zuzugeben, dass die
Heimunterbringung ursprünglich vor allem wegen der in der Herkunftsfamilie bestehenden Erziehungs- und
Betreuungsdefizite und der seelischen Behinderung des HE notwendig geworden war. Die Heimaufnahme erfolgte
jedoch bereits im Januar 1997, also 8 1/2 Jahre vor Beginn des hier streitbefangenen Zeitraums; damals war der HE 8
1/2 Jahre alt. Für die Beurteilung des maßgeblichen Hilfebedarfs und der Art der erbrachten Hilfe ist jedoch allein die
Zeit ab 01.07.2005 maßgeblich; da war der HE knapp 17 Jahre alt. Die Erziehungsleitung des Kinder- und
Jugendheims "N." hat auf Anfrage des Gerichts am 07.12.2010 mitgeteilt, dass im Betreuungszeitraum vom
01.07.2005 bis 31.03.2007 beim HE sowohl eine seelische als auch eine geistige Behinderung und für beide auch ein
Hilfebedarf bestanden habe, der durch die Einrichtung befriedigt worden sei. Aufgrund der Hilfe habe der HE neue
Fähigkeiten und Fertigkeiten erlernen können, die ihm im Alltag und im sozialen Miteinander Stabilität und eine starke
Ich-Identität habe vermitteln können. In den Werkstätten für Behinderte habe er im Rahmen seiner Möglichkeit mit
seiner Intelligenzminderung einen geregelten Arbeitsalltag nachgehen und hierdurch ein in diesem Rahmen
"selbstbestimmtes Leben" gestalten können. Sowohl die seelische als auch die geistige Behinderung des HE waren
wesentlich, weil hierfür - wie dargelegt - ein Hilfebedarf bestand und dieser auch befriedigt worden ist.
Für die Frage, welcher Sozialleistungsträger bei einer Mehrfachbehinderung in Form geistiger und seelischer
Störungen, wie sie beim HE vorlagen, vorrangig leistungsverpflichtet ist, kommt es nicht darauf an, wo der
Schwerpunkt des Bedarfs und der erbrachten Hilfe liegt. Entscheidend für die Anwendung der Regelung über den
Vorrang zwischen Leistungen der Jugendhilfe und der Sozialhilfe nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII ist, dass sowohl
ein Anspruch des HE auf Leistungen der Jugendhilfe als auch ein Anspruch auf Sozialhilfe bestanden hat und beide
Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind
(BVerwG, Urteil vom 23.09.1999 - 5 C 26/98; Hess. LSG, Urteil vom 18.02.2008 - L 9 SO 44/07). Diese
Voraussetzungen waren für die Zeit der Unterbringung des HE im Kinder- und Jugendheim in der Zeit vom 01.07.2005
bis 31.03.2007 erfüllt. Hat deshalb die Klägerin ihre Aufwendungen für die Unterbringung des HE als nachrangig
verpflichteter Leistungsträger erbracht, so ist ihr der Beklagte als vorrangig verpflichteter Leistungsträger zur
Erstattung dieser Aufwendungen verpflichtet.
2. Leistungszeitraum vom 01.04.2007 bis 30.06.2009 (ambulant betreutes Wohnen)
Der Anspruch auf Erstattung der Aufwendungen für das ambulant betreute Wohnen ab 01.04.2007 ergibt sich aus § 14
Abs. 4 SGB IX i.V.m. § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII. Die Klägerin war, nachdem der Beklagte den bei ihm gestellten
Leistungsantrag des HE als erstangegangener Rehabilitations-(Reha-)Träger innerhalb der 2-Wochen-Frist des § 14
Abs. 1 Satz 2 SGB IX an die Klägerin weitergeleitet hat, als zweitangegangener Reha-Träger gem. § 14 Abs. 2 Satz 3
SGB IX endgültig verpflichtet, über den Antrag unter Zugrundelegung aller in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen
zu entscheiden (vgl. dazu BSG, Urteile vom 25.06.2009 - B 3 KR 4/08 R - und vom 20.11.2008 - B 3 KN 4/07 KR R).
Die Klägerin ist dieser Verpflichtung durch den Bewilligungsbescheid vom 25.04.2007 nachgekommen; sie hat
Eingliederungshilfe unter Hinweis sowohl auf das Jugendhilferecht (§§ 35a, 41 SGB VIII) als auch auf das
Sozialhilferecht (§ 53 SGB XII) bewilligt. Sie war zwar für die Leistung der Jugendhilfe zuständig. Aus der Vorrang-
/Nachrangregelung des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII folgt jedoch, dass der Beklagte als ebenfalls zuständiger Träger
der Leistungen der Sozialhilfe vorrangig zuständig und leistungsverpflichtet war. Denn beim HE bestand auch in der
Zeit vom 01.03.2007 bis 30.06.2009 nicht nur wegen einer seelischen, sondern auch wegen einer wesentlichen
geistigen Behinderung ein Hilfebedarf. Der Erbringer der Leistungen des ambulant betreuten Wohnens, dass Aachener
Betreuungsbüro, hat in seiner dem Gericht erteilten Auskunft vom 02.12.2010 dargelegt, dass der HE in einer
Wohngemeinschaft betreut worden ist, in der junge Erwachsene mit einer geistigen Behinderung in Verbindung mit
Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Erkrankungen/Störungen litten. Die Arbeit habe sich sehr stark am
spezifischen Störungsbild orientiert und um eine Kompensation von Defiziten bemüht. Aus den ihm vorliegenden
Unterlagen über den HE hat das Betreuungsbüro als Diagnosen/Behinderungen des HE eine Aufmerksamkeitsdefizit-
und Hyperaktivitätsstörung sowie eine geistige Behinderung erkannt. Die erbrachte Hilfe habe sich im Einzelnen auf
Fragen der Ernährung, Körperhygiene, Ordnung im Wohnraum, Medikamenteneinnahme, Begleitung zu Arztterminen,
Umgang mit Geld, Begleitung bei Einkäufen, Begleitung bei Behördengängen, berufliche Eingliederung, Erlernen des
Umgangs mit Aggressionen, Erlernen von Freizeitgestaltung und Gestaltung sozialer Beziehungen gerichtet; die
Intervention habe vor allem auf Strukturierungshilfe und Anleitung gezielt. Insgesamt hat das Aachener
Betreuungsbüro die Hilfe für den HE als eine überwiegend an der seelischen Behinderung orientierte Hilfe gesehen; es
hat jedoch erklärt, dass die Hilfe untergeordnet auch auf die geistige Behinderung einwirkte; der HE habe vor allem
Probleme bei abstrakteren Sachverhalten gehabt.
Wie bereits im Abschnitt 1. dargelegt, stellt die Regelung des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII nicht darauf ab, wo der
Schwerpunkt der Behinderung liegt, deretwegen Hilfe erbracht wird, sondern allein auf den Bedarf und die Art der
erbrachten Leistung. Wenn - wie hier - gleichartige Ansprüche sowohl nach Jugendhilfe als auch nach Sozialhilferecht
bestehen, bestimmt § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII den Vorrang der Sozialhilfe. Diese vorrangige
Leistungszuständigkeit und -verpflichtung des Beklagten als überörtlichem Träger der Sozialhilfe - seine sachliche
Zuständigkeit für Eingliederungshilfe in Form von Leistungen des ambulant betreuten Wohnens folgt aus § 97 Abs. 2
Satz 1 SGB XII i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 1a) der Ausführungsverordnung zum SGB XII - Sozialhilfe - des Landes
Nordrhein-Westfalen (AV-SGB XII NRW) - begründet den Anspruch der Klägerin auf Erstattung ihrer für den HE für die
Zeit vom 01.04.2007 bis 30.06.2009 erbrachten Aufwendungen gem. § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX. Diese
spezialgesetzliche Erstattungsvorschrift geht den allgemeinen Erstattungsregelungen der §§ 102 ff. SGB X vor (BSG,
Urteil vom 20.04.2010 - B 1/3 KR 6/09 R).).
Die erstattungsfähigen Aufwendungen für den gesamten Erstattungszeitraum vom 01.07.2005 bis 30.09.2009 sind von
der Klägerin in der Verwaltungsakte nachvollziehbar aufgelistet und im Klageverfahren mit 101.622,03 EUR beziffert
worden; die Höhe der Aufwendungen ist vom Beklagten nicht bestritten worden. Dementsprechend war der Beklagte
antragsgemäß zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 1, 162 Abs. 1 VwGO.
Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 1 und 3 GKG.