Urteil des SozG Aachen vom 10.02.2011

SozG Aachen: schutz der versicherten, behandlung, diabetes mellitus, label, persönlichkeitsstörung, icd, erlass, arzneimittel, krankenversicherung, rechtsschutz

Sozialgericht Aachen
Beschluss vom 10.02.2011 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Aachen S 2 KR 1/11 ER
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Gründe:
I.
Die am 00.00.00 geborene Antragstellerin ist Mitglied der Antragsgegnerin. In der Zeit vom 09.09.2010 bis zum
10.11.2010 befand sich die Antragstellerin stationär in der Schön Klinik S. Dort wurden bei ihr folgende Erkrankungen
diagnostiziert:
Emotional instabile Persönlichkeitsstörung: Boderline-Typ (ICD-10 F 60.31) Mittelgradige depressive Episode (ICD-10
F 32.1) Soziale Phobie (ICD-10 F 40.1) Nicht näher benannte Essstörung (ICD-10 F 50.9) Primär insulinabhängiger
Diabetes mellitus (Typ-1 Diabetes) (ICD-10 E 10.90)
Zur Affektsabilisierung und Spannungsreduktion begann man dort u.a. mit der Gabe von Aripiprazol (Abilify®) und die
Antragstellerin wurde in emotional stabilisierten Zustand entlassen. Empfohlen wurde eine weiterführende ambulante
Psychotherapie und kontinuierliche therapeutische Begleitung.
Am 30.11.2010 bat der die Antragstellerin behandelnden Neurologe M. die Antragsgegnerin um Übernahme der Kosten
eines "Off-Label-Use" für das Medikament Abilify®. Dieses sei zwar nicht für Persönlichkeitsstörungen zugelassen,
doch seien andere Medikationen - auch im Hinblick auf die Komorbidität (Suizidalität, metabolisches Syndrom,
Impulskontrollstörung) - fehlgeschlagen. Im Falle des Absetzens des Medikaments sei der Gesundheitszustand der
Antragstellerin gefährdet und es würden mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit erneute stationäre
Maßnahmen erforderlich.
Für die Antragsgegnerin erstellte daraufhin Dr. U. ein sozialmedizinisches Gutachten nach Aktenlage. Dieser stellte
fest, dass die Behandlung der emotional instablien Persönlichkeitsstörung schwierig sei. Sie orientiere sich an den
Symptomen, die medikamentös behandelt werden können. Auch kämen psychotherapeutische Verfahren zur
Anwendung, eine spezifisch kausale Therapie gebe es nicht. Es könne aber bei der Antragstellerin bislang nicht
davon ausgegangen werden, dass die Standardtherapien ausgeschöpft seien. Die Voraussetzungen für einen off-label-
use, und damit für die begehrte Kostenübernahme durch die Antragsgegnerin seien seien nicht nachgewiesen.
Mit Bescheid vom 16.12.2010 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf Kostenübernahme für das Medikament
Abilify® 15 mg ab. Hiergegen legte die Mutter der Antragstellerin am 03.01.2011 Widerspruch bei der Antragsgnerin
ein.
Am gleichen Tag hat sie auch beim erkennenden Gericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
gestellt. Sie beantragt sinngemäß,
die Beklagte im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten für die Behandlung der Antragstellerin
mit dem Arzneimittel Abilify® zu übernehmen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wiederholt und vertieft sie ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren.
Das Gericht hat Befundberichte des Neurologen und Psychiaters M., der Schön Klinik S. sowie der Diplom-
Psychologin X. angefordert. Am 28.01.2011 hat Dr. U. im Rahmen des vorliegenden Verfahrens ein Zweitgutachten
erstellt.
Am 07.02.2011 hat die Antragsgegnerin schließlich einen Widerspruchsbescheid erlassen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene
Verwaltungsakte der Beklagten, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist,
Bezug genommen.
II.
Nach § 86 b Absatz 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache - auf Antrag - eine
einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis
erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer
einstweiligen Anordnung setzt grundsätzlich voraus, dass das geltend gemachte Begehren im Rahmen der beim
einstweiligen Rechtsschutz allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung begründet erscheint
(Anordnungsanspruch), und erfordert zusätzlich die besondere Eilbedürftigkeit der Durchsetzung des Begehrens
(Anordnungsgrund). Im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung ist dabei allerdings dann eine rein summarische
Prüfung verwehrt, wenn es um existentiell bedeutsame Leistungen der Krankenversicherung für den Antragsteller
geht. In diesen Fällen ist die Sach- und Rechtslage auch im Rahmen einer einstweiligen Anordnung abschließend zu
prüfen (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 29.07.2003, 2 BvR 311/03; Beschluss vom 22.11.2002, 1
BvR 1586/02; Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 16.10.2008, L 11 KR 4447/08 ER-B). Ist dies
nicht abschließend möglich, ist - entsprechend der Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts - auf der Grundlage
einer Folgenabwägung zu entscheiden (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05, Breith.
2005, 803 ff. m.w.N.). Dabei ist stets die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes zu beachten, die
vor dem Hintergrund des Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) darin besteht, in dringenden Fällen effektiven
Rechtsschutz zu gewährleisten. Dies sind solche Fällen, in denen die Entscheidung im - grundsätzlich vorrangigen -
Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile
entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre
(Bundesverfassungsgericht, a.a.O.; Beschluss vom 22.11.2002, 1 BvR 1582/02; vgl. auch Landessozialgericht Berlin-
Brandenburg, Beschluss vom 30.04.2007, L 28 B 429/07 AS ER).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Es
scheitert an der Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes. Versicherte in der Gesetzlichen Krankenversicherung
haben gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V) Anspruch auf
Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu
verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Diese Krankenbehandlung umfasst gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3
SGB V auch die Versorgung mit Arzneimitteln. Fertigarzneimittel (vgl. dazu § 4 Abs. 1 Arzneimittelgestz [AMG]) sind
mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs. 1 Satz 1, § 12 Abs. 1 SGB V) allerdings dann nicht von der
Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung nach 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3 sowie § 31 Abs. 1 Satz 1
SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (Landessozialgericht Nordrhein-
Westfalen, Beschluss vom 17.12.2009, L 16 B 37/09 KR ER; Urteil vom 08.10.2009, L 16 KR 60/07; Beschluss vom
13.01.2009 - L 16 KR 218/08; vgl. hierzu auch Bundessozialgericht, Urteil vom 19.03.2002, B 1 KR 37/00 R = BSGE
89, 184 - Sandoglobulin; Urteil vom 29.09.2006, B 1 KR 14/06 R - Cabaseril). Die Zuassung für Abilify® beschränkt
sich auf die Behandlung von Schizophrenie (vgl. Rote Liste Ziffer 71 300). Die Behandlung der bei der Klägerin
vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen, insbesondere der emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom
Boderline-Typ überschreitet damit den Anwendungsbereich und die Zulassung des Medikaments Abilify®. Hiervon
gehen - neben dem MDK Nordrhein - auch die behandelnden Ärzte der Antragstellerin aus.
Eine zulassungsüberschreitenden Anwendung der von Abilify® auf Kosten der GKV (sog. "Off-label-use") scheidet
aber ebenfalls aus. Ein solcher "Off-label-use" kommt nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung nur dann in
Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf
Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3.
aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat eine Behandlungserfolg
(kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Abzustellen ist dabei auf die bereits im Zeitpunkt der Behandlung
vorliegenden Erkenntnisse (vgl. Bundesssozialgericht, Urteil vom 28.02.2008, B 1 KR 15/07 R - Venimmun). Auch
wenn es sich bei der bei der Klägerin bestehenden emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Boderline-Typ
nebst den übrigen Erkrankungen zweifelsohne um eine die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende
Krankheit handelt, so kommt die Behandlung der Antragstellerin auf Kosten der Antragsgegnerin nach den Grundsätze
des "Off-label-use" dennoch nicht in Betracht. Zum einen ist - wie auch der MDK in seinen Stellungnahmen ausgeführt
hat - nicht dargetan und glaubhaft gemacht, dass tatsächlich die möglichen Standardtherapien bei der Klägerin
fehlgeschlagen sind. Hierbei verkennt das Gericht nicht, dass sich die Behandlung von emotional instabilen
Persönlichkeitsstörungen vom Borderline-Typ als schwierig darstellt und dass hier verschiedene - therapeutische
(etwa Gesprächspsychotherapie) und auch medikamentöse - Ansätze zusammen verfolgt werden müssen (vgl. dazu
etwa Bohus/Schmal, Psychopathologie und Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung, Deutsches Ärzteblatt
2006, abrufbar unter: http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=53738). Dass hier schon allen konventionellen
Methoden kein Erfolg beschieden gewesen sein soll, vermag das Gericht - trotz der eingeholten ärztlichen
Stellungnahmen der behandelden Ärzte - nicht zu erkennen. Die Antragstellerin wurde seinerzeit medikamentös mit
Aripiprazol (Abilify®) eingestellt und damit wurden durch die damaligen Behandler Fakten geschaffen. Die Tatsache,
dass die Antragstellerin unter dieser Medikation weniger bis keine Beschwerden hat ist zweifelsohne auch sehr
erfreulich. Allerdings ist nicht hinreichend dargetan, dass zu diesem Zeitpunkt tatsächlich alle anderen möglichen
anderen Behandlungsalternativen ausgeschöpft wurden.
Es steht darüber hinaus aber auch noch ein anderer Aspekt der zulassungsüberschreitenden Anwendung entgegen.
Es wurden nämlich von den behandelnden Ärzten bislang keine hinreichenden Unterlagen benannt, aufgrund derer
davon auszugehen wäre, dass wegen der vorliegenden konkreten Datenlage begründete Aussicht darauf besteht,
dass gerade mit dem begehrten Arzneimittel Abilify® ein allgemeiner Behandlungserfolg erzielt werden kann. Von
hinreichenden Erfolgsaussichten ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgericht zum "Off-label-use" nämlich
nur dann auszugehen, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das (konkrete) Arzneimittel
für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder (a) die
Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der
Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit
respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder (b) außerhalb eines
Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des
Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und
aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten
Sinne besteht (Bundessozialgericht, Urteil vom 19.03.2002, B 1 KR 37/00 R = BSGE 89, 184 [192] - Sandoglobulin).
Diese Erkenntnisse sind vorliegend nicht dargetan und auch nicht ersichtlich. Vielmehr erscheint die Datenlage - trotz
durchaus vorhandener positiver Ergebnisse - derzeit noch unzureichend. Es gibt zwar durchaus Studien, die den
positiven Einfluss sog. atypischer Neuroleptika, unter die auch der Wirkstoff Aripiprazol fällt, zeigen (vgl. hierzu etwa
Gerlach/Mehler-Wex/Walitza/Warnke/Wewetzer, Neuro-Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter, 2. Aufl. 2009, S
468; so etwa auch die doppelblinde, placebokontrollierte Studie von Nickel et. al. aus den Jahren 2006, 2007,
American Journal of Psychiatry, 2006, 833 ff., an der indes lediglich 52 Probanden teilgenommen hatten, abstract
abrufbar unter: http://ajp.psychiatryonline.org/cgi/content/abstract/163/5/833; vgl. dazu Voderholzer/ Hohagen,
Therapie psychischer Erkrankungen, 3. Aufl. 2007/2008, S. 328; vgl. aber auch die Studie der Agency for Healthcare
Research and Quality, Comparative Effectiveness of Off-Label Use of Atypical Antipsychotics, abrufbar:
http://effectivehealthcare.ahrq.gov/repFiles/Atypical Antipsychotics Final Report.pdf).
Gemessen an den obigen Maßstäben ist die Datenlage dennoch unzureichend (vgl. auch Bohus/Schmal, a.a.O.). Das
Gericht weist auch darauf hin, dass diese Anforderungen kein Selbstzweck sind. Eine Verwendung von Arzneimitteln
außerhalb des zugelassenen Anwendungsbereichs birgt nämlich durchaus Risiken. So wird in umfangreichen
Verfahren und Test im Rahmen des arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens die Sicherheit und Qualität der
Arzneimittel kontrolliert. Es ist damit nicht zuletzt der Schutz der Versicherten vor unkalkulierbaren Risiken für die
Gesundheit, die eine Verwendung von Arzneimitteln außerhalb des Zulassungsbereiches nur in engen Grenzen in
Betracht kommen lassen (vgl. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss, vom 17.12.2009, L 16 B 37/09
KR ER; Bundessozialgericht, Urteil vom Urteil vom 28.02.2008, B 1 KR 15/07 R - Venimmun).
Nach alledem konnte der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung keinen Erfolg haben. Das Gericht weist
abschließend darauf hin, dass damit zunächst nur über den einstweiligen Rechtsschutz entschieden wurde. Es ist der
Antragstellerin freilich unbenommen ist, gegen den ablehnenden Bescheid in Gestalt des nunmehr ergangenen
Widerspruchsbescheides innerhalb der dafür vorgesehen Frist Klage zu erheben, um die Bestandskraft dieses
Bescheides zu vermeiden.