Urteil des SozG Aachen vom 11.08.2005

SozG Aachen: aufschiebende wirkung, aufrechnung, erlass, abschlag, verbindlichkeit, leistungsanspruch, rechtsgrundlage, anfang, rückforderung, anfechtungsklage

Sozialgericht Aachen, S 8 AS 50/05 ER
Datum:
11.08.2005
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
S 8 AS 50/05 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Gründe:
1
Der Antragsteller wendet sich gegen die Aufrechnung mit einem
Rückforderungsanspruch gegen seinen Anspruch auf Regelleistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts in Höhe von 75,00 EUR ab 01.07.2005.
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Der Antragsteller beantragte im September 2004 Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts nach dem SGB II. Als Einkommen wurde lediglich der Bezug von
Arbeitslosengeld nachgewiesen. Die Antragsgegnerin bewilligte Arbeitslosengeld II
(Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie Kosten der Unterkunft und
Heizung) in Höhe von insgesamt 416,60 EUR ab Januar 2005.
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Am 20.06.2005 ging bei der Antragsgegnerin eine Abrechnung der Stadtwerke B AG
ein, wonach dem Antragsteller für den Abrechnungszeitraum vom 10.12.2003 bis zum
31.12.2004 ein Erstattungsbetrag in Höhe von 238,58 EUR zustehe, der ihm mit
Verrechnungsscheck überwiesen werde. Außerdem verminderte die Stadtwerke B AG
den monatlichen Abschlag für die Gasversorgung.
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Mit Bescheid vom 20.06.2005 hob die Antragsgegnerin die Bewilligung von
Grundsicherungsleistungen für die Zeit vom 01.01.2005 bis zum 30.06.2005 aufgrund
des Erstattungsanspruchs gegen die Stadtwerke B AG und der Verminderung des
Abschlagsbetrages in Höhe von insgesamt 287,18 EUR auf und sie forderte überzahlte
Leistungen zurück. Gemäß § 43 SGB II rechnete sie mit dieser Forderung gegen
Leistungsansprüche ab 01.07.2005 in Höhe von 75,00 EUR auf. Im Rahmen der
Ermessensausübung berücksichtigte die Antragsgegnerin, dass der Antragsteller
bereits 25,00 EUR aus der Regelleistung an das Sozialamt der Stadt B abführt. Den
hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Antragsgegnerin mit Bescheid vom
19.07.2005 zurück, wogegen der Antragsteller am 00.00.0000 Klage erhoben hat.
Gleichzeitig hat er beantragt "die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs
wiederherzustellen".
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Der Antrag ist als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 86b Abs. 2
Satz 2 SGG statthaft. Ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des
Widerspruchs oder der Klage im Sinne des § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG wäre nicht statthaft,
weshalb der vom Antragssteller gestellte Antrag interessengerecht als Antrag auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung auszulegen ist. Denn bei der Aufrechnung handelt es
sich nicht um einen Verwaltungsakt, weshalb die Entscheidung über die Aufrechnung
nicht mit Widerspruch oder Anfechtungsklage angefochten werden kann (ebenso
Eicher, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, § 39 Rdnr. 15; a. A. Hengelhaupt, in: Hauck/Noftz, §
39 SGB II Rdnr. 45). § 39 SGB II ist für Aufrechnungsentscheidungen dementsprechend
nicht anwendbar. Hierfür spricht auch, dass mit einer Aufrechnungsentscheidung gerade
nicht über den Anspruch selbst entschieden wird, dieser wird im Gegenteil sogar
vorausgesetzt, weil er durch die Aufrechnung erfüllt werden soll. Letztendlich handelt es
sich bei der Entscheidung über die Aufrechnung gegen einen Leistungsanspruch um
eine Entscheidung über die Verwendung dieser Leistung, hier: Tilgung einer
Verbindlichkeit gegenüber der Antragsgegnerin. Die Antragsgegnerin ist daher befugt,
bei Vorliegen einer Aufrechnungslage Leistungen sofort zu mindern, ohne dass es der
Berufung auf § 39 SGB II bedarf.
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Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines
vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine
solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Erforderlich
sind das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs, d. h. eines zu sichernden Rechtes, und
eines Anordnungsgrundes im Sinne einer besonderen Eilbedürftigkeit im Hinblick auf
die Vermeidung wesentlicher Nachteile.
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Es liegt nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen
Prüfung bereits kein Anordnungsanspruch vor, denn die Antragsgegnerin hat zu Recht
aufgerechnet. Die Rechtsgrundlage hierfür findet sich in § 43 SGB II, wonach
Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes bis zu einem Betrag in Höhe von
30 % der für den Hilfebedürftigen maßgeblichen Regelleistung mit Ansprüchen der
Träger von Leistungen nach dem SGB II aufgerechnet werden, wenn es sich um
Ansprüche auf Erstattung oder auf Schadensersatz handelt, die der Hilfebedürftige
durch vorsätzliche oder grob fahrlässig unrichtige oder unvollständige Angaben
veranlasst hat. Dies ist vorliegend der Fall. Der Antragsteller hat – obwohl im die
Mitteilung der Stadtwerke B AG spätestens Anfang Januar 2005 vorlag – versäumt
mitzuteilen, dass er mit dem Erstattungsbetrag in Höhe von 238,58 EUR einen
vermögenswerten Anspruch gegen die Stadtwerke B AG hat und sich zudem der
Abschlag für die Gaskosten verringert hat. Aufgrund dieser unterlassenen Mitteilung war
die Antragsgegnerin gemäß § 45 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X berechtigt, die
Leistungsbewilligung in Höhe von 287,18 EUR aufzuheben und gezahlte Beträge
zurückzufordern (§ 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Mit diesem Rückforderungsanspruch hat
sie zutreffend und unter Ausübung von Ermessen in den Grenzen des § 43 SGB II
aufgerechnet.
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Es fehlt zudem an einem Anordnungsgrund. Bei der Beurteilung der Frage, ob dem
Antragsteller zuzumuten ist, die Hauptsacheentscheidung abzuwarten oder ob aufgrund
einer besonderen Eilbedürftigkeit im Hinblick auf die Vermeidung wesentlicher
Nachteile der Erlass einer einstweiligen Anordnung geboten ist ist die Intention des § 39
SGB II – obwohl diese Vorschrift wie dargelegt nicht unmittelbar anwendbar ist – zu
berücksichtigen. Durch diese Vorschrift soll erreicht werden, dass bei unrechtmäßigem
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Verhalten im Rahmen der Beantragung von Leistungen nach dem SGB II eine
umgehende staatliche Reaktion erfolgt und eine abschreckende Wirkung erreicht wird
(Hengelhaupt, in: Hauck/Noftz, § 39 Rdnr. 42). Dieser Normzweck greift auch, wenn die
staatliche Reaktion nicht nur in der Aufhebung und Rückforderung überzahlter
Leistungen besteht, sondern in der Aufrechnung mit dem gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1
SGB X entstehenden Rückforderungsanspruch. Nur wenn die Aufhebungsentscheidung
sofort umgesetzt werden kann, ist das Ziel des § 39 SGB II – erzieherische Wirkung
gegenüber dem Antragsteller – erreicht. Diese grundsätzliche gesetzgeberische
Intention ist auch bei der Entscheidung im Rahmen einstweiliger Anordnungen nach §
86b Abs. 2 SGG zu beachten. Dafür, dass dem Antragsteller ausnahmsweise das
Abwarten der Hauptsacheentscheidung nicht zumutbar ist, weil ihm wesentliche
Nachteile drohen, die ein Abweichen vom grundsätzlichen Rechtsgedanken des § 39
SGB II gebieten, hat der Antragsteller nicht vorgetragen und derartige Gründe sind auch
sonst nicht aktenkundig. Hierbei hat das Gericht auch berücksichtigt, dass der
Rückforderungsbetrag in weniger als vier Monaten getilgt sein wird.