Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 30.06.2003

OVG NRW: grundstück, aufschiebende wirkung, beitragspflicht, kreis, gemeinde, gegenleistung, eigenschaft, unterliegen, ausdehnung, form

Oberverwaltungsgericht NRW, 15 B 461/03
Datum:
30.06.2003
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
15. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
15 B 461/03
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 17 L 208/02
Tenor:
Der angegriffene Beschluss wird mit Ausnahme der
Streitwertentscheidung geändert:
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Antragsteller.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 43,63 EUR
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Die Beschwerde hat Erfolg. Der Antrag,
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die aufschiebende Wirkung der Klage (VG Köln 17 K 599/02) gegen den
Beitragsbescheid der Antragsgegnerin vom 26. April 2001 (Az.: 23/73-643- 21-03/0032-
0037-0000) in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. August 2001
anzuordnen,
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ist abzulehnen, da keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen
Verwaltungsaktes bestehen (vgl. § 80 Abs. 4 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung -
VwGO -). Es ist nicht überwiegend wahrscheinlich, dass die Klage im
Hauptsacheverfahren Erfolg hat. Vielmehr ist dieses Verfahren als offen zu beurteilen.
Dabei richtet sich die Intensität der gerichtlichen Prüfung des Streitstoffes nach den
Gegebenheiten des vorläufigen Rechtsschutzes. Deshalb sind vornehmlich solche
Einwände zu berücksichtigen, die der Rechtsschutzsuchende selbst gegen die
Rechtmäßigkeit des Heranziehungsbescheides geltend macht, es sei denn, dass sich
sonstige Mängel bei summarischer Prüfung als offensichtlich darstellen. Ferner können
weder aufwändige Tatsachenfeststellungen getroffen werden noch sind schwierige
Rechtsfragen abschließend zu klären.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17. März 1994 - 15 B 3022/93 -, NWVBl. 1994, 337
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(338).
Die grundsätzliche Beitragsfähigkeit der Ausbaumaßnahme an der J. Straße und die
Höhe des geltend gemachten Aufwandes sind im vorliegenden Eilverfahren zwischen
den Beteiligten nicht strittig. Der Senat hat keinen Anlass zu einer anderen Beurteilung.
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Es kann nach den oben dargestellten Maßstäben der gerichtlichen Überprüfung eines
Beitragsbescheides im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes entgegen der
Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht festgestellt werden, dass das Grundstück des
Antragstellers Gemarkung P. , Flur 9, Flurstück 269, (I. weg 10), von der ausgebauten J.
Straße im straßenbaubeitragsrechtlichen Sinne nicht erschlossen ist. Nach § 8 Abs. 2
Satz 2 des Kommunalabgabengesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (KAG NRW)
wird der Beitrag von denjenigen Grundstückseigentümern erhoben, die die Möglichkeit
der Inanspruchnahme der ausgebauten Straße haben und denen dadurch
wirtschaftliche Vorteile geboten werden. Das sind bei unmittelbar an der Straße
gelegenen Grundstücken diejenigen, bis zu deren Grenze von der ausgebauten Straße
herangefahren werden kann und die von dort aus - unbeschadet eines evtl. dazwischen
liegenden Gehweges, Radweges oder Seitenstreifens - ohne weiteres betreten werden
können.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 26. Oktober 2000 - 15 B 1180/01 -, S. 2 des amtlichen
Umdrucks.
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Auch bei einem Hinterliegergrundstück darf die Inanspruchnahme der Anlage nur vom
Willen des Eigentümers dieses Grundstückes abhängen. Bei bestandsgeschützter
Bebauung reicht dafür eine mit Rücksicht auf die Erschließung über ein
Vorderliegergrundstück erteilte Baugenehmigung.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 30. Oktober 2001 - 15 A 5184/99 -, NWVBl. 2002, 275 (278).
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Hier steht eine solche gesicherte Inanspruchnahmemöglichkeit der ausgebauten J.
Straße vom Grundstück des Antragstellers nicht in Zweifel, da das Grundstück von der J.
Straße aus über ein etwa 50 m langes Stück des I. weg erreichbar ist.
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Die Beitragspflicht besteht allerdings nicht, wenn das Grundstück nicht durch die J.
Straße, sondern durch den I. weg erschlossen wird, wie es das Verwaltungsgericht
annimmt. Die Beitragspflicht erstreckt sich nämlich nur auf eine Straße, und zwar auf die
im Straßennetz dem Grundstück nächst gelegene selbstständige Straße.
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Vgl. Driehaus, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 6. Aufl., § 35 Rn. 22.
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Die Sonderfälle einer unvollkommenen verkehrlichen Erschließung (nur fußläufige
Erschließung durch Wohnwege),
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vgl. dazu OVG NRW, Beschluss vom 14. November 1997 - 15 A 529/95 -, OVGE 46,
220, zur Primär- und Sekundärerschließungsanlage,
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oder einer mehrfach vollkommenen Erschließung durch zwei Erschließungsanlagen
(Mehrfacherschließung) liegen nicht vor.
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Entscheidend ist daher, ob der nächstgelegene I. weg schon eine selbstständige Straße
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ist oder ob er gleichsam als Anhängsel des Hauptzuges unselbstständig ist und damit
die Beitragspflicht vom Ausbau des Hauptzuges abhängt. Dies bemisst sich nach dem
Gesamteindruck, der sich nach den tatsächlichen Verhältnissen einem unbefangenen
Beobachter darbietet, vor allem unter Berücksichtigung von Länge und Breite des
Abzweiges, der Beschaffenheit seines Ausbaus, der Zahl der durch ihn erschlossenen
Grundstücke sowie das damit verbundene Maß der Abhängigkeit vom Hauptzug.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12. Mai 1995 - 15 B 550/95 -, S. 5 f. des amtl.
Umdrucks; Urteil vom 29. Juni 1992 - 2 A 2580/91 -, NWVBl. 1993, 219 (220).
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Nach Maßgabe des § 8 KAG NRW kommt es dafür, ob es sich bei dem nächst
gelegenen Straßenzug um eine selbstständige, allein die Beitragspflicht auslösende
Straße handelt, nicht darauf an, dass dieser Straßenzug eine Erschließungsanlage im
Sinne des Erschließungsbeitragsrechts ist.
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Vgl. zu der insoweit anderen Rechtslage im Erschließungsbeitragsrecht: BVerwG, Urteil
vom 30. Januar 1970 - IV C 151.68 -, DVBl. 1970, 839.
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Das ergibt sich aus dem andersartigen Vorteils- und Anlagenbegriff des § 8 KAG NRW,
der alle Anlagen erfasst, die den Grundstückseigentümern durch die Möglichkeit der
Inanspruchnahme wirtschaftliche Vorteile bietet. Der wirtschaftliche Vorteil erfasst damit
nicht nur Erhöhungen des Gebrauchswerts baulich oder gewerblich nutzbarer
Grundstücke, sondern betrifft alle Nutzungen, die durch eine verkehrliche Erschließung
des Grundstücks Vorteile ziehen.
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Vgl. im Gegensatz dazu das Erschließungsbeitragsrecht, wonach Erschließungsanlage
nur die zum Anbau bestimmte Straße (§ 127 Abs. 2 Nr. 1 des Baugesetzbuches -
BauGB -) und das beitragspflichtige Grundstück, das baulich oder gewerblich nutzbare
Grundstück ist (§ 133 Abs. 1 BauGB).
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Daher können etwa im wesentlichen nicht baulich oder gewerblich nutzbare
Außenbereichsgrundstücke erschließende Wirtschaftswege, wie es der I. weg nach
Auffassung der Antragsgegnerin ist, beitragsfähige selbständige Anlagen sein.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 1. Juni 1977 - II A 1475/75 -, KStZ 1977, 219.
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An der Selbständigkeit des I. weg in seiner Eigenschaft als Wirtschaftsweg besteht nach
den oben dargelegten Grundsätzen jedenfalls nach den im Verfahren des einstweiligen
Rechtsschutzes anzulegenden Maßstäben kein Zweifel.
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Allerdings ist es Sache der Beitragssatzung zu regeln, welche Erschließung bei der
Erhebung von Straßenbaubeiträgen gemeint ist und damit auch, welche Anlagen
beitragsfähig sein sollen.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 15. März 1989 - 2 A 962/86 -, NWVBl. 1989, 407 f.
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Hier sieht die maßgebliche Satzung der Gemeinde B. über die Erhebung von Beiträgen
nach § 8 des Kommunalabgabengesetzes NRW für straßenbauliche Maßnahmen i.d.F.
der 3. Änderungssatzung vom 5. Mai 1988 (SBS) vor, wie sich aus den §§ 1 und 3 Abs.
3 SBS ergibt, dass nur straßenrechtlich öffentliche Straßen beitragsfähige Anlagen sein,
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vgl. dazu, dass dann, wenn die Beitragssatzung den Kreis der beitragspflichtigen
Anlagen auf öffentliche Straßen beschränkt, die straßenrechtliche Öffentlichkeit eine für
den Beitragsanspruch konstituierende Eigenschaft der Straße ist, OVG NRW, Beschluss
vom 14. November 1997 - 15 A 529/95 -, OVGE 46, 220 (221),
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und - bis auf bebaute Außenbereichsgrundstücke - nur Innenbereichsflächen der
Beitragspflicht unterliegen sollen.
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Sollte der I. weg in seiner gesamten Ausdehnung deswegen nicht zum Kreis der
beitragsfähigen Anlagen nach der Straßenbaubeitragssatzung zählen, stellt sich die
Frage, ob für den Begriff der Erschließung im oben beschriebenen Sinne auf die
nächstgelegene, nach § 8 KAG NRW zum Kreis der möglichen beitragsfähigen Anlagen
gehörende Straße oder auf die nächstgelegene, nach der Beitragssatzung
beitragsfähige Straße abzustellen ist. Im ersten Fall könnte der I. weg wegen seiner
grundsätzlichen Geeignetheit, beitragsfähige Straße i.S.d. § 8 KAG NRW zu sein,
ungeachtet der fehlenden Einbeziehung in das gemeindliche Straßenbaubeitragsrecht
dennoch als nächstgelegene selbstständige Straße die beitragsrechtlich maßgebliche
vorteilsrelevante Inanspruchnahmemöglichkeit eröffnen und damit die Beitragspflicht
des Grundstücks für den Ausbau der J. Straße ausschließen. Im zweiten Fall könnte nur
der im Innenbereich gelegene Teil des I. weg wegen der fehlenden satzungsrechtlichen
Einbeziehung dieses Weges in den Kreis der beitragsfähigen Anlagen als
unselbstständige Zufahrt zum Grundstück des Antragstellers anzusehen sein. Diese
schon vom rechtlichen Ansatz her in der obergerichtlichen Rechtsprechung noch nicht
geklärte Frage entzieht sich einer Beantwortung im summarischen Verfahren des
einstweiligen Rechtsschutzes und muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten
bleiben.
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Ebenfalls offen bleiben muss die Frage, ob die Antragsgegnerin dem Antragsteller
gegenüber auf die Erhebung eines Straßenbaubeitrags für den in Rede stehenden
Ausbau verzichtet hat. Grundsätzlich ist ein solches Verständnis des Passus im
Übertragungsvertrag vom 25. November 1988 mit dem Wortlaut "Die Gemeinde B.
erklärt ausdrücklich, dass durch die Ausbaumaßnahme ‚J. Straße/F. gasse keine
Erschließungsbeiträge oder sonstigen Beiträge für die beiden genannten
Hausgrundstücke anfallen." denkbar. Nach der Rechtsprechung des beschließenden
Senats setzt eine Beitragsanrechnung in Form eines Verzichts auf die
Straßenbaubeitragserhebung voraus, dass die Leistung der Gemeinde nicht
unangemessen gegenüber der Gegenleistung des Beitragspflichtigen ist, dass der
Verzicht auf die Straßenbaubeitragserhebung durch Beitragsbescheid in einem
sachlichen Zusammenhang zur Gegenleistung des Beitragspflichtigen steht und dass
im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses die Höhe des Beitrags nicht völlig ungewiss war.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. März 2002 - 15 A 4043/00 -, NWVBl. 2003, 60.
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Ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist dem Hauptsacheverfahren vorzubehalten.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über den
Streitwert ergibt sich aus §§ 14 Abs. 1, 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 1 des
Gerichtskostengesetzes.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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