Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 01.02.2000

OVG NRW: ausweisung, aufschiebende wirkung, sicherheit, inhaftierung, rechtsgrundlage, ausnahmefall, gewaltanwendung, anhörung, disziplinarverfahren, straftat

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Vorinstanz:
Oberverwaltungsgericht NRW, 17 B 298/99
01.02.2000
Oberverwaltungsgericht NRW
17. Senat
Beschluss
17 B 298/99
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 8 L 3773/98
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 4.000,-- DM
festgesetzt.
G r ü n d e :
Die vom Senat zugelassene Beschwerde, §§ 146 Abs. 6 Satz 2, 124 a Abs. 2 Satz 4
VwGO, mit der der Antragsteller sein Begehren weiterverfolgt,
die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen die Ordnungsverfügung des
Antragsgegners vom 7. Oktober 1998 wiederherzustellen bzw. anzuordnen,
ist nicht begründet.
Die der Ausweisung beigefügte Vollziehungsanordnung ist in einer den Anforderungen des
§ 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügenden Weise begründet, indem auf die Gefahr abgestellt
wird, dass der Antragsteller vor Eintritt der Bestandskraft der Ausweisung weitere Straftaten
begehen könnte.
Die im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gebotene Abwägung der
widerstreitenden Vollzugsinteressen fällt auch im gegenwärtigen Zeitpunkt zu Ungunsten
des Antragstellers aus. Maßgeblich hierfür ist, dass sich die angefochtene
Ordnungsverfügung als rechtmäßig erweist und die begründete Besorgnis besteht, dass
die vom dem Antragsteller ausgehende, mit der Ausweisung bekämpfte Gefahr sich schon
vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens realisieren wird.
Die Ausweisung findet ihre Rechtsgrundlage in §§ 47 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2, Nr. 2, Abs. 3 Satz
1, 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AuslG.
Der Antragsteller ist unter anderem wie folgt rechtskräftig verurteilt worden:
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- Amtsgericht E. , Urteil vom 26. Oktober 1993 - 51 Ls/11 Js 305/93 -, Freiheitsstrafe von 1
Jahr und 6 Monaten wegen fortgesetzten unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln
(Heroin) in Tateinheit mit fortge-setztem Handeltreiben damit;
- Landgericht E. , Urteil vom 27. August 1996 - 11 Js 154/96 -, Freiheitsstrafe von 2 Jahren
und 2 Monaten wegen gemeinschaftlichen schweren Raubes in einem minderschweren
Fall.
Der Senat legt zu Gunsten des Antragstellers zugrunde, dass er besonderen
Ausweisungsschutz nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AuslG genießt. Seine deutsche Ehefrau
hat unter dem 27. August 1999 eidesstattlich versichert, dass er seit seiner Haftentlassung
wieder mit ihr zusammenlebe und sich um sie und die gemeinsame Tochter kümmere.
Etwaigen Zweifeln an der inhaltlichen Richtigkeit dieser Erklärung, die sich daraus ergeben
könnten, dass der Antragsteller zwischen März 1997 und Juni 1999 nur ein einziges Mal für
die Dauer von 30 Minuten Haftbesuch von seiner Ehefrau bekommen hatte, obwohl diese
in unmittelbarer Nähe des Haftorts lebt, können auf sich beruhen, da die Ausweisung auch
bei Zugrundelegung der Einschlägigkeit von § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AuslG Bestand hat.
Der besondere Ausweisungsschutz hat zur Folge, dass eine Ausweisung nur aus
schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung möglich ist. Derartige
Gründe sind in der Regel in den Fällen des § 47 Abs. 1 AuslG, § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG
gegeben.
Besondere Gründe, die ein Abweichen von dieser Regel gebieten würden, liegen nicht vor.
Sie kommen nur dann in Betracht, wenn aufgrund atypischer Umstände des Einzelfalles
die Realisierung eines der in § 47 Abs. 1 AuslG genannten Ausweisungstatbestände nicht
schon für sich indiziert, dass die weitere Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet
aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zuwider läuft. Ob
ein Ausnahmefall in diesem Sinne vorliegt, beurteilt sich allein nach dem von dem
Ausländer konkret ausgehenden Gefährdungspotential; unerheblich sind dem gegenüber -
anders als bei der im Rahmen von § 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG vorzunehmenden Regel-
Ausnahme-Betrachtung - sonstige Typizitätsabweichungen. Diese Eingrenzung des
Kriterienspektrums für die Beurteilung des Vorliegens einer Ausnahme von der Regel des §
48 Abs. 1 Satz 2 AuslG ergibt sich daraus, dass die dort normierte Regel das Vorliegen
schwerwiegender Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung betrifft, die - nach der zu
§ 48 Abs. 1 Satz 1 AuslG entwickelten Rechtsprechung - in spezialpräventiver Hinsicht
dann vorliegen, wenn dem Ausweisungsanlass ein besonderes Gewicht zukommt und
Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen
Sicherheit oder Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und
damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht,
Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 10. Februar 1995 - 1 B 221.95 -, InfAuslR 1995,
273 (274).
Ein Abweichen von der Regel des § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG kommt demnach nur dann in
Betracht, wenn aufgrund atypischer Umstände im Einzelfall entweder dem
Ausweisungsanlass kein besonderes Gewicht zukommt oder es an einer hinreichenden
Wiederholungsgefahr fehlt,
vgl. Senatsbeschluss vom 6. Juli 1999 - 17 B 2263/98 -.
Beides ist hier nicht der Fall.
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Der Antragsteller ist seit seiner Einreise nach Deutschland Ende 1989 kontinuierlich auf
verschiedenen Deliktsfeldern strafrechtlich in Erscheinung getreten. Weder
vorausgegangene Verurteilungen noch die Übernahme familiärer Verantwortung durch die
Eheschließung im Jahre 1991 und die Geburt der Tochter im Jahre 1992 haben ihn von der
Begehung weiterer Straftaten abhalten können, deren Gewicht sich sukzessive gesteigert
hat. Nachdem er bereits im Juni 1990 wegen eines Verstoßes gegen das
Betäubungsmittelgesetz belangt worden war, hat er in der Folgezeit ausweislich der
Feststellungen in dem Urteil des Amtsgerichts E. vom 26. Oktober 1993 über einen
Zeitraum von 3 Jahren hinweg mit einer "beachtlichen Menge" Heroin Handel getrieben
und damit der Verbreitung einer der gefährlichsten Drogen, die für das qualvolle Siechtum
und den Tod zahlreicher, insbesondere junger Menschen verantwortlich ist, Vorschub
geleistet. Dies lässt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Antragsteller
seinerzeit selbst heroinabhängig war, auf ein hohes Maß an Gleichgültigkeit gegenüber der
bestehenden Rechtsordnung und der durch sie geschützten Rechtsgüter schließen. Dieser
Eindruck wird zusätzlich verstärkt durch das seiner Verurteilung durch das Landgericht E.
vom 27. August 1996 zugrundeliegende Verhalten: Der Antragsteller, der zur Tatzeit im
Januar 1996 nach eigener Darstellung ein drogenfreies Leben führte, scheute sich nicht,
den Versuch zu unternehmen, aus reiner Gewinnsucht die Not eines vormaligen
Leidensgenossen, der weiterhin drogenabhängig war, auszunutzen, indem er ihm einen
Beutel Sand als Heroin verkaufen wollte. Als dies nicht gelang, weil das Opfer seinen Trick
durchschaute, entriss er ihm das Geld unter Gewaltanwendung, wobei er sich eines zufällig
vorgefundenen Schraubenziehers bediente. Die sich in diesem Verhalten ausdrückende
Bereitschaft zur Gewaltanwendung erschließt eine weitere Dimension seines kriminellen
Potentials.
Hinreichend gesicherte Anhaltspunkte dafür, dass sich das Verhältnis des Antragstellers
zur geltenden Rechtsordnung und den schutzwürdigen Interessen seiner Mitmenschen
inzwischen grundlegend geändert hätte, so dass mit der gebotenen Wahrscheinlichkeit von
einem künftigen rechtstreuen Lebenswandel ausgegangen werden könnte, liegen nicht vor.
Der Umstand, dass er seit der letzten, im Januar 1996 verübten Straftat nicht erneut in
Erscheinung getreten ist, ist für sich genommen keine geeignete Grundlage für eine
positive Sozialprognose, da er sich von April 1996 bis Juni 1999 in Strafhaft befand und
von daher keine Gelegenheit zur Begehung von Straftaten hatte. Sein - abgesehen von
zwei Disziplinarverfahren wegen tätlicher Auseinandersetzungen mit anderen Gefangenen
- im wesentlichen beanstandungsfreies Vollzugsverhalten ist ebenfalls kein hinreichendes
Indiz für einen grundlegenden Läuterungsprozess, da zum einen von jedem Gefangenen
ohnehin zu erwarten ist, dass er sich ordentlich führt, und zum anderen die motivatorische
Relevanz des schwebenden Ausweisungsverfahrens - die diesbezügliche Anhörung
erfolgte im April 1997 - nicht zu verkennen ist. Schließlich kann auch nicht von einer
gesicherten Drogenfreiheit des Antragstellers ausgegangen werden. Zwar ergeben sich
aus den Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalten E. und G. vom 29. Juli bzw. 29.
Oktober 1998 keine Anhaltspunkte für eine Fortsetzung des Drogenkonsums während der
Inhaftierung. Andererseits hat der Antragsteller in der Vergangenheit zwei Drogentherapien
abgebrochen, was auf eine fehlende Einsicht in die Bedeutung einer diesbezüglichen
Hilfestellung für eine langfristige Drogenabstinenz hindeutet. Im übrigen ist zu
berücksichtigen, dass die letzte der vom Antragsteller begangenen Straftaten, die zu seiner
Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 2 Monaten geführt hatte, nicht im
Zusammenhang mit einer eigenen Betäubungsmittelabhängigkeit gestanden hatte.
Der dem Antragsteller zustehende besondere Ausweisungsschutz hat weiterhin zur Folge,
dass die Ist- Ausweisung zur Regelausweisung herabgestuft wird, § 47 Abs. 3 Satz 1
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AuslG. Besondere Umstände, die dem Fall ein atypisches Gepräge verleihen würden mit
der Folge, dass über die Ausweisung nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden
wäre, liegen nicht vor.
Im Rahmen der Frage, ob ein von der Regel des § 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG abweichender
(Ausnahme-)Fall vorliegt, ist eine Betrachtung aller Umstände des Einzelfalles
vorzunehmen.
Von dem Antragsteller geht - wie dargelegt - eine unvermindert große Gefahr für ein
wichtiges Schutzgut der Allgemeinheit aus. Die Ausweisung begründet für ihn keine
unzumutbare Härte. Er hat seine gesamte Kindheit und Jugend in Marokko verbracht und
ist erst im Alter von 21 Jahren nach Deutschland eingereist. Etwaige
Reintegrationsschwierigkeiten sind hinzunehmen; sie wiegen geringer als die Gefahr, die
von dem Antragsteller für die in Deutschland lebende Bevölkerung ausgeht. Auch der
Umstand, dass der Antragsteller - wie zu seinen Gunsten zugrundegelegt wird - mit seiner
deutschen Ehefrau und dem gemeinsamen Kind zusammenlebt, begründet keinen
Ausnahmefall. Zwar ist die Beendigung seines Aufenthaltes geeignet, die durch Art. 6 Abs.
1 GG geschützte familiäre Situation zu belasten. Diese Belastungen hat sich der
Antragsteller jedoch selbst zuzuschreiben, da er - wie dargelegt - ungeachtet der
Übernahme familiärer Verantwortung schwerwiegend strafrechtlich in Erscheinung getreten
ist. Im übrigen ist unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten zu berücksichtigen, dass die
familiäre Verbundenheit durch die Inhaftierung des Antragstellers eine ganz erhebliche
Lockerung erfahren hatte; seine Frau hat ihn während der zwei letzten Jahre seiner
Inhaftierung lediglich einmal für 30 Minuten, seine Tochter hat ihn überhaupt nicht besucht.
Die Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in § 50 Abs. 1 AuslG. Der
Antragsteller ist vollziehbar ausreisepflichtig, da er die erforderliche
Aufenthaltsgenehmigung nicht besitzt und die Ausweisung ihrerseits vollziehbar ist, §§ 42
Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AuslG. Die verfügte Ausreisefrist ist ausreichend lang
bemessen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 20
Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar.