Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 29.08.2008

OVG NRW: schule, treu und glauben, eltern, schüler, besuch, verfügung, erlass, gutachter, pauschal, geeignetheit

Oberverwaltungsgericht NRW, 19 E 123/08
Datum:
29.08.2008
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
19. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
19 E 123/08
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 4 K 3188/07
Tenor:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe:
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Die Beschwerde ist unbegründet.
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Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu
Recht abgelehnt. Die erstinstanzliche Rechtsverfolgung bot und bietet aus den
zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses nicht die gemäß § 166 VwGO in
Verbindung mit § 114 ZPO erforderliche hinreichende Aussicht auf Erfolg.
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Hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne des § 166 VwGO, § 114 ZPO ist gegeben,
wenn der Rechtsstandpunkt des um Prozesskostenhilfe Nachsuchenden auf Grund
dessen eigener Sachdarstellung und der von Amts wegen zu berücksichtigenden
vorhandenen Unterlagen zutreffend oder zumindest vertretbar ist und die
entscheidungserheblichen Tatsachen beweisbar sind.
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Vgl. nur OVG NRW, Beschlüsse vom 2. Oktober 2004 - 19 E 900/04 -, und 11. August
2003 - 19 E 1288/02 -, m. w. N.
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Denn die Prüfung der Erfolgsaussichten für die Gewährung von Prozesskostenhilfe darf
im Interesse einer weitgehenden Angleichung der Situation von Bemittelten und
Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes nicht dazu dienen, die
Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der
Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens
treten zu lassen. Insbesondere ist eine Beweisantizipation im
Prozesskostenhilfeverfahren nur zulässig, wenn konkrete und nachvollziehbare
Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Beweisaufnahme mit großer Wahrscheinlichkeit
zum Nachteil des Unbemittelten ausgehen würde.
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St. Rspr. des BVerfG, Beschluss vom 19. Februar 2008 - 1 BvR 1807/07 -, juris, Rn. 20,
22.
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Gemessen daran hat das Verwaltungsgericht zu Recht seine Überzeugung, dass beim
Kläger eine Erziehungsschwierigkeit im Sinne von § 5 Abs. 3 AO-SF vorliegt und er
sonderpädagogischer Förderung im Förderschwerpunkt emotionale und soziale
Entwicklung an einer entsprechenden Förderschule bedarf, auf die Begründungen der
N. -M. -L. - Gesamtschule in E. , die der Kläger ab dem Schuljahr 2006/2007 besucht
hat, zum Antrag gemäß § 10 AO-SF vom 8. März 2007 und der Sache nach weiter auf
das sonderpädagogische Gutachten vom 16. Juni 2007 gestützt. Diese
Erkenntnisquellen zeigen eindeutig massive Verhaltensauffälligkeiten des Klägers seit
Beginn des Schulbesuchs im Schuljahr 2006/2007 auf, aufgrund deren sich der Schluss
aufdrängt, dass er sich der Erziehung in der Schule so nachhaltig verschließt oder
widersetzt, dass er im Unterricht nicht hinreichend gefördert werden kann und die
eigene Entwicklung wie auch die der Mitschüler erheblich gestört oder gefährdet ist.
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Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt keine andere Beurteilung. Hinreichende
Erfolgsaussichten der Klage ergeben sich nicht aus dem Vortrag, nach den vorgelegten
ärztlichen und psychologischen Stellungnahmen sei eine spürbare Verbesserung des
Sozialverhaltens des Klägers eingetreten, „im Zweifel" sei durch Einholung eines
Sachverständigengutachtens zu verifizieren, ob seine aktuellen Fortschritte in seinem
Sozialverhalten ihn auch „gruppentauglich" im Rahmen der Regelbeschulung machten.
Die vorgelegten Stellungnahmen sind aus sich sämtlich nicht so hinreichend
aussagekräftig, dass sich schon aus ihnen ein weiterer Aufklärungsbedarf ergäbe. Sie
enthalten keine vom jeweiligen Verfasser getroffenen tatsächlichen Feststellungen zu
konkretem Sozialverhalten des Klägers, das dieser in der Schule oder sonst in einer
Gruppe von im Wesentlichen Gleichaltrigen gezeigt hat, und auch keine prognostische
Einschätzung, die sich auf solche Feststellungen stützen könnte. Maßgeblich kommt es
aber - was sich hier schon aus dem Tatbestand des § 5 Abs. 3 AO-SF erschließt - auf
derartige Feststellungen und Einschätzungen in Bezug auf das in der Schule gezeigte
und zu erwartende Verhalten des Schülers an. Denn die Frage, ob ein Schüler
sonderpädagogischer Förderung bedarf, welcher konkrete Förderbedarf besteht und
welche Schule der geeignete Förderort ist, richtet sich nach ständiger Rechtsprechung
vorrangig nach dem in der Schule gezeigten Leistungsvermögen, dem Lern- und
Arbeitsverhalten und dem sonstigen Sozialverhalten in der Schule. Dem gemäß ist die
Beantwortung der Frage, ob ein Schüler einer sonderpädagogischen Förderung bedarf
und welcher Förderort für ihn geeignet ist, durch einen den Schüler isoliert außerhalb
der Schule überprüfenden Gutachter in der Regel - so auch hier - nicht zugänglich, so
dass die Einholung eines (weiteren) Sachverständigengutachtens durch einen
außerschulischen Gutachter in Fällen der vorliegenden Art grundsätzlich nicht geboten
ist. Das schließt nicht aus, auch außerschulische (Privat-)Gutachten in die erforderliche
Gesamtbeurteilung der Persönlichkeit des Schülers einzubeziehen, wenn diese
Gutachten aussagekräftige Feststellungen enthalten, weil es etwa um die Beantwortung
medizinischer oder psychologischer Fragen geht.
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Vgl. nur OVG NRW, Beschlüsse vom 15. August 2008 - 19 A 1548/08 - und 30. August
2007 - 19 E 227/07 - , m.w.N.
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Letzteres ist hier aber bei den vorgelegten Stellungnahmen nicht der Fall. Die
„Einschätzung" des Dipl.-Psychologen T. aus C. vom 30. Januar 2008 zeigt schon nicht
auf, auf welche Grundlagen der Psychologe seine Aussagen stützt. Sie enthält keine
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Angabe zu Art und Umfang durchgeführter Untersuchungen oder etwa einer
durchgeführten Behandlung des Klägers. Die psychologische Beurteilung seiner
familiären Situation, insbesondere die emotionale Beziehung zu seinem Vater ist so
ebenso wenig nachvollziehbar wie die pauschal angeführten „ersten Früchte und
weiteren Ansätze" zu positiven Verhaltensänderungen. Die Annahme, es sei die Basis
vorhanden, auf der der Kläger auch in sein schulisches Umfeld wieder integriert werden
könne, erweist sich so als spekulativ. Der Facharzt für Kinderheilkunde G. -X. führt in
seinem Attest vom 5. Februar 2008 lediglich pauschal an, Ergebnis der „in der
Zwischenzeit" durchgeführten eingehenden psychologischen und
psychotherapeutischen Untersuchungen und Behandlungen sei, dass der Kläger in
seiner sozio-emotionalen Entwicklung altersangemessen sei, kein aggressives
Verhalten zeige, bei ihm keine Impulsdurchbrüche aufträten und auch kein ADHS
vorliege. Art und Umfang der Untersuchungen und Behandlungen und - prognostisch -
deren Auswirkungen auf gruppenbezogenes Verhalten werden nicht erläutert. Der
Bericht der Abteilung für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie des Kindes- und
Jugendalters des Gemeinschaftskrankenhauses I. vom 7. Februar 2008 spricht neben
Angaben der Eltern Testergebnisse und das Verhalten des Klägers bei der einmaligen
Untersuchung am 7. Februar 2008 an; Grundlage der psychopathologischen
Befunderhebung ist der Kontakt, den der Kläger mit den untersuchenden Ärzten am
Untersuchungstag hatte. Hinreichende Anhaltspunkte für eine Verbesserung seines
Sozialverhaltens in der Schule oder sonst in einer Gruppe Gleichaltriger erschließen
sich daraus nicht ansatzweise.
Danach drängt sich im Klageverfahren eine Beweiserhebung nicht mit Blick auf die im
Beschwerdeverfahren vorgelegten Stellungnahmen auf. Nach Aktenlage drängt sich im
Hinblick darauf, dass für die gerichtliche Überprüfung der Feststellung des
sonderpädagogischen Förderbedarfs und des Förderorts die Sachlage im Zeitpunkt der
mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht maßgebend ist, eine weitere
Sachverhaltsaufklärung zu der Frage, ob sich gemessen an § 5 Abs. 3 AO-SF das
Sozialverhalten des Klägers in der Schule verbessert hat oder verbessern wird, derzeit
auch nicht deshalb auf, weil die vorliegenden Erkenntnisquellen älter als ein Jahr sind
und möglicherweise den aktuellen emotionalen und sozialen Entwicklungsstand des
Klägers nicht mehr zutreffend wiedergeben. Neue Erkenntnisse über das schulische
Verhalten des Klägers liegen überhaupt nicht vor. Denn der Kläger besucht nach
Aktenlage jedenfalls seit Erlass des Widerspruchsbescheides vom 10. Oktober 2007, in
dem die Beklagte die sofortige Vollziehung ihres Bescheides vom 10. August
angeordnet hat, weder die N. -M. -L. - Gesamtschule noch eine Förderschule mit dem
Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung, insbesondere auch nicht die
als nächstgelegene Förderschule bezeichnete U. in E. . Angesichts dessen stehen
derzeit keine tauglichen Mittel der Sachverhaltsaufklärung durch Aktualisierung der
entscheidungserheblichen Tatsachen zur Verfügung. Denn für die Beurteilung der
Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung über den sonderpädagogischen
Förderbedarf und den Förderort ist, wie ausgeführt, prinzipiell - so auch hier - auf das in
der Schule gezeigte Lern- und Sozialverhalten abzustellen. Es ist die Pflicht des
Klägers und seiner Eltern und es liegt (auch) in ihrer Verantwortung, dass der Kläger
eine für ihn durch den sofort vollziehbaren Bescheid vom 10. August 2007 bestimmte
Förderschule zur Erfüllung der Schulpflicht besucht. Nur durch den Besuch einer
Förderschule, die überdies bei Bedarf, mindestens einmal jährlich, das Fortbestehen
des Förderbedarfs und die weitere Geeignetheit des Förderorts überprüft (§ 15 Abs. 1
AO-SF), wird, wenn nicht etwa die Beklagte probeweise den Besuch einer allgemeinen
Schule zulässt, die Grundlage dafür geschaffen, dass aktuell das Lern-, Leistungs- und
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Sozialverhalten des Klägers in der Schule festgestellt und überprüft werden kann, ob
der Förderbedarf fortbesteht. Soweit sich der Kläger demgegenüber - wie ausgeführt,
ohne dass sich diese Beweisaufnahme aufdrängt - darauf beruft, vor dem Besuch der
Förderschule ein außerschulisches Sachverständigengutachten einzuholen, liegt darin
ein Verstoß gegen den auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und
Glauben (§ 242 BGB). Dadurch, dass der Kläger jedenfalls seit Erlass des
Widerspruchsbescheides, also seit mehr als 10 Monaten, keine Förderschule (und auch
keine allgemeine Schule) besucht, vereiteln er und seine Eltern, dass aktuelle
Erkenntnisse zu seinem schulischen Lern- und Sozialverhalten zur Verfügung stehen.
Dies ist nach Aktenlage im Rechtssinne auch vorwerfbar. Es spricht nämlich nach
Aktenlage nichts Überzeugendes dafür, dass die Fehlzeiten in der Schule durchgängig
hinreichend entschuldigt wären. Soweit der U1. Krankmeldungen oder Atteste vorgelegt
worden sind, enthalten diese keine konkreten und nachvollziehbaren Angaben zu
Erkrankungen des Klägers. Der Kläger hat nicht vorgetragen und es spricht auch sonst
nichts dafür, dass er dauerhaft so schwer oder immer wieder so erkrankt war, dass er
eine Förderschule, die zu besuchen er verpflichtet war (und ist), nicht besuchen konnte.
Auch deshalb kann sich der Kläger nicht darauf berufen, seine Rechtsverfolgung biete
hinreichende Aussicht auf Erfolg, weil durch Einholung eines außerschulischen
Sachverständigengutachtens sein aktueller Entwicklungsstand aufzuklären sei.
Dies schließt nicht aus, dass die Erfolgsaussichten anders zu beurteilen sind, wenn der
Kläger die bestimmte Förderschule besucht und nach einer hinreichenden Dauer eine
taugliche Grundlage für die sonderpädagogische Beurteilung seines emotionalen und
sozialen Entwicklungsstandes geschaffen sein wird.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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