Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 04.08.2006

OVG NRW: elterliche sorge, wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, einbürgerung, lebensgemeinschaft, getrennt leben, tod, star, eltern, staatsangehörigkeit, sorgerecht

Oberverwaltungsgericht NRW, 19 B 1161/05
Datum:
04.08.2006
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
19. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
19 B 1161/05
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Arnsberg, 1 L 484/05
Tenor:
Dem Antragsteller wird für das zweitinstanzliche Verfahren
Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt X. in C. beigeordnet.
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000 EUR
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Der Senat bewilligt dem Antragsteller Prozesskostenhilfe für das zweitinstanzliche
Verfahren und ordnet ihm den zur Vertretung bereiten Rechtsanwalt X. in C. bei (§ 166
VwGO iVm §§ 114, 121 Abs. 1 ZPO). Der Antragsteller kann die Kosten der
Prozessführung nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht
aufbringen. Auf die Erfolgsaussichten seiner Rechtsverfolgung kommt es nicht an, weil
der Antragsgegner das Rechtsmittel der Beschwerde eingelegt hat (§ 119 Abs. 1 Satz 2
ZPO). Abgesehen davon hat seine Rechtsverfolgung aus den nachstehenden Gründen
hinreichende Aussicht auf Erfolg.
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Die Beschwerde des Antragsgegners ist gemäß § 146 Abs. 1 und 4 VwGO zulässig,
aber unbegründet. Die Prüfung des Senats ist auf diejenigen Gründe beschränkt, die der
Antragsgegner innerhalb der einmonatigen Begründungsfrist nach § 146 Abs. 4 Satz 1
VwGO dargelegt hat (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO). Diese Gründe rechtfertigen es nicht,
den angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts zu ändern und den Antrag auf
Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage 1 K 1372/04 VG Arnsberg
nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO abzulehnen.
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Der Antragsgegner wendet sich ohne Erfolg gegen die Annahme der Vorinstanz, einem
Sofortvollzug der Rücknahme der Einbürgerung des Antragstellers stehe entgegen,
dass Überwiegendes dafür spreche, dass die Einbürgerung jedenfalls als
Sorgerechtseinbürgerung nach § 9 Abs. 2 StAG rechtmäßig gewesen sei. Der Senat teilt
diese Würdigung. Im Rahmen der beschränkten Erkenntnismöglichkeiten des
Eilverfahrens kommt ein Einbürgerungsanspruch des Antragstellers nach dieser
Vorschrift im Zeitpunkt seiner Einbürgerung am 2. Juli 2002 mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit in Betracht, so dass die nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gebotene
Interessenabwägung zu Gunsten des Antragstellers ausfällt. § 9 Abs. 2 StAG bestimmt,
dass Ehegatten Deutscher auch dann unter den Voraussetzungen des § 8 StAG
eingebürgert werden sollen, wenn die Einbürgerung bis zum Ablauf eines Jahres nach
dem Tod des deutschen Ehegatten oder nach Rechtskraft des die Ehe auflösenden
Urteils beantragt wird und dem Antragsteller die Sorge für die Person eines Kindes aus
der Ehe zusteht, das bereits die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.
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Soweit es um den Tatbestand des § 9 Abs. 2 StAG geht, ist die Prüfung des Senats im
vorliegenden Beschwerdeverfahren nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO auf die dritte
Tatbestandsvoraussetzung jener Vorschrift beschränkt (elterliche Sorge). Denn die
Beschwerderügen des Antragsgegners zum Tatbestand des § 9 Abs. 2 StAG beziehen
sich ausschließlich auf diese Tatbestandsvoraussetzung. Hinsichtlich der ersten
Tatbestandsvoraussetzung (Tod des oder die Scheidung vom deutschen Ehegatten)
gesteht der Antragsgegner in der Beschwerdebegründung in Befolgung von Nr. 9.2.
Abs. 2 StAR-VwV ausdrücklich zu, die Vorschrift sei entsprechend anzuwenden, wenn
die Ehegatten nicht nur vorübergehend getrennt leben, was hier im
Einbürgerungszeitpunkt am 2. Juli 2002 der Fall war. Zur zweiten
Tatbestandsvoraussetzung (Antragstellung bis zum Ablauf eines Jahres nach der
Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft) erklärt er, das Vorliegen dieser
Voraussetzung werde nicht bestritten.
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Das Verwaltungsgericht hat die genannte dritte Tatbestandsvoraussetzung des § 9 Abs.
2 StAG zutreffend bejaht. Dem Antragsteller steht gemeinsam mit seiner geschiedenen
deutschen Ehefrau N. A. , geb. T. , die elterliche Sorge für das am 23. Mai 1999
geborene Kind N1. zu. Der Senat teilt die Auffassung der Vorinstanz, das
Tatbestandsmerkmal "Sorge für die Person eines Kindes" in § 9 Abs. 2 StAG fordere
nicht die alleinige Sorge des ausländischen Elternteils, sondern sei auch dann erfüllt,
wenn dem ausländischen Elternteil die elterliche Sorge gemeinsam mit dem deutschen
Elternteil zusteht (§ 1626 BGB).
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Ebenso Hessischer VGH, Urteil vom 15. März 2004 - 12 UE 1491/03 -, InfAuslR 2004,
354, Juris, Rdn. 23; Marx in GK-StAR, § 9, Rdn. 104; a. A. VG Gießen, Urteil vom 5.
März 2003 - 10 E 4120/02 -, Juris, Rdn. 21; vgl. auch Hailbronner, in
Hailbronner/Renner, Staatsangehörigkeitsrecht, 4. Aufl. 2005, § 9 Rdn. 32.
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Maßgebend für diese Rechtsprechung ist zunächst der eindeutige Wortlaut des § 9 Abs.
2 StAG, der nicht zwischen gemeinsamer und alleiniger elterlicher Sorge differenziert.
Eine teleologische Reduktion dieser uneingeschränkten Wortfassung ist nicht möglich.
Darauf liefe das Beschwerdevorbringen des Antragsgegners hinaus. Er hebt auf den
Sinn und Zweck des § 9 Abs. 2 StAG ab, der das deutsche Kind lediglich dann schützen
solle, wenn ansonsten kein deutscher Elternteil das Sorgerecht ausüben könne. Diese
Umschreibung des Normzwecks greift zu kurz. Der Regelungszweck des § 9 Abs. 2
StAG erschöpft sich nicht darin, die privilegierte Einbürgerung eines Elternteils zu
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ermöglichen, wenn der deutsche Elternteil für die Wahrnehmung der elterlichen Sorge
überhaupt nicht mehr zur Verfügung steht. Das ergibt sich schon daraus, dass die
Vorschrift nicht nur beim Tod des deutschen Elternteils eingreift, sondern auch in Fällen
von Scheidung und Getrenntleben. Ebenso wie Abs. 1 liegt auch § 9 Abs. 2 StAG die
Vermutung einer schnelleren Integration in die deutschen Lebensverhältnisse zugrunde,
die der Gesetzgeber bei einer familiären Lebensgemeinschaft mit einem deutschen Kind
ebenso als gerechtfertigt ansieht wie bei einer Lebensgemeinschaft mit einem
deutschen Ehegatten. In beiden Fallgestaltungen weist die unerlässliche Befassung mit
deutschen Lebensverhältnissen regelmäßig eine größere Intensität auf als bei Fehlen
eines solchen persönlichen Bezuges zu deutschen Lebensverhältnissen.
Auf der Ebene des gesetzlichen Tatbestandes knüpft § 9 Abs. 2 StAG an den formalen
Bestand der elterlichen Sorge für ein deutsches Kind an, ähnlich wie § 9 Abs. 1 StAG
auf dieser Ebene lediglich an den formalen Bestand, d. h. an die zivilrechtliche
Gültigkeit der Ehe mit einem Deutschen anknüpft. Besteht trotz zivilrechtlich wirksamer
elterlicher Sorge keine familiäre Lebensgemeinschaft mit dem deutschen Kind, so liegt -
ähnlich wie bei einer sog. Scheinehe im Rahmen des § 9 Abs. 1 StAG - ein atypischer
Ausnahmefall vor, der eine Einbürgerung nach Sinn und Zweck des Gesetzes als
unangemessen erscheinen lassen kann. In diesem Fall kann die Behörde die
Einbürgerung nach Ermessen ablehnen („soll").
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 9. September 2003 - 1 C 6.03 -, BVerwGE 119, 17, Juris, Rdn.
18.
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Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass auch die Rechtsauffassung des
Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen auf diesem Normverständnis
beruht. Mit Erlass 13/13-10.14.5 vom 5. September 2003 hat es den nachgeordneten
Bezirksregierungen mitgeteilt, dass „eine Einbürgerung nach § 9 Abs. 2 StAG auch in
den Fällen möglich ist, in denen ehemals Deutschverheiratete und getrennt lebende
Deutschverheiratete das gemeinsame Sorgerecht über ihr deutsches Kind haben und
dieses Kind mit dem Einbürgerungsbewerber in familiärer Lebensgemeinschaft lebt." Mit
dieser Rechtsauffassung unvereinbar ist die Annahme des Antragsgegners, nur die
alleinige elterliche Sorge des ausländischen Einbürgerungsbewerbers erfülle den
Tatbestand des § 9 Abs. 2 StAG. Die Bezirksregierung B. hat sich die Rechtsauffassung
des Innenministeriums im Widerspruchsbescheid vom 30. März 2004 zu Eigen gemacht.
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Aus dem Beschwerdevorbringen des Antragsgegners ergibt sich ferner nicht, dass ein
atypischer Fall vorliegt, der ein Abweichen von der Sollvorschrift des § 9 Abs. 2 StAG
rechtfertigt. Die Argumentation des Antragsgegners beruht insoweit auf Prämissen, die
der Gesetzgeber mit der Kindschaftsrechtsreform des Jahres 1998 im Interesse der
Kinder getrennt lebender und geschiedener Eltern gerade überwinden wollte. Das gilt
insbesondere für die Schlussfolgerung, eine einheitliche Staatsangehörigkeit in der
Familie sei hier ohnehin nicht mehr erreichbar, weil die Familieneinheit aufgrund der
Ehescheidung bereits auseinandergerissen sei. Diese Argumentation erweckt den
Eindruck, staatsangehörigkeitsrechtlich schützenswerte familiäre Bindungen könnten
nur bei fortdauernder ehelicher Lebensgemeinschaft der Eltern bestehen. Diese
Annahme ginge ersichtlich an dem Regelungsanliegen des § 9 Abs. 2 StAG vorbei.
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Entgegen der sinngemäßen Auffassung des Antragsgegners setzt eine schützenswerte
familiäre Bindung eines geschiedenen Elternteils zu seinem Kind auch nicht notwendig
das Bestehen einer häuslichen Gemeinschaft voraus. Auch die häufigen
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Umgangskontakte, die das Verwaltungsgericht auf S. 5 des Beschlussabdrucks
festgestellt hat, können eine aufenthaltsrechtlich und staatsangehörigkeitsrechtlich
schützenswerte familiäre Lebensgemeinschaft zwischen dem Antragsteller und seinem
deutschen Kind darstellen und damit die Voraussetzungen erfüllen, unter denen auch
das Innenministerium NRW eine Einbürgerung nach § 9 Abs. 2 StAG für möglich hält.
Zum Begriff der familiären Lebensgemeinschaft vgl. BVerfG, Beschluss vom 8.
Dezember 2005 - 2 BvR 1001/04 -, DVBl 2006, 247 ff.; Senatsbeschluss vom 31. Juli
2006 - 19 E 1356/05 -.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 47, 52 Abs. 1, 53 Abs. 3 Nr. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1
Satz 5 GKG).
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