Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 06.03.2003

OVG NRW: politische verfolgung, auskunft, öffentliche meinung, junger erwachsener, politische tätigkeit, freier mitarbeiter, anerkennung, anhörung, wahrscheinlichkeit, verhaftung

Oberverwaltungsgericht NRW, 8 A 3214/99.A
Datum:
06.03.2003
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
8. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
8 A 3214/99.A
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Arnsberg, 7 K 797/97.A
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts
Arnsberg vom 24. Juni 1999 geändert. Die Beklagte wird unter
Aufhebung von Ziffer 1. ihres Bescheids vom 30. Januar 1997
verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen.
Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt die Beklagte.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige
Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden,
wenn nicht der jeweilige Gläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in
gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
1
Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volks- und alevitischer
Religionszugehörigkeit. Er wurde 1948 in Q. (L. ) geboren.
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Im Jahre 1991 reiste er in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen ersten
Asylantrag mit der schriftlichen Begründung, er sei seit 1977 Mitglied bei der DHB und
sei deshalb am 21. August 1982 festgenommen und im Februar 1983 vor Gericht
gestellt, dann aber freigesprochen worden. Seit 1988 habe er in J. gelebt und für die
Organisation gearbeitet. Erneut sei er im Mai 1989 festgenommen worden, und zwar
zunächst für 22 Tage. Danach sei er nach L. gebracht und weitere zwei Monate
festgehalten und auch gefoltert worden. Im Dezember 1989 sei er nach J. zurückgekehrt.
Dort seien im Januar 1990 16 politische Freunde festgenommen worden, die unter
Folter seinen Namen verraten hätten. Er habe sich deshalb zur Flucht entschlossen.
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In einer weiteren schriftlichen Begründung führte er aus, er habe sich seit 1977 der
TKP/ML-Bewegung angeschlossen, politisches Material verteilt und organisatorische
Arbeiten geleistet. Er sei vom 21. August 1982 bis zum 24. Juli 1984 verhaftet gewesen,
sei schwer gefoltert und dann freigelassen worden. Er habe sich der DSIM, der
revolutionären gewerkschaftlichen Arbeiteropposition, angeschlossen und sei am 1. Mai
1991 bei J. verhaftet worden. Nach 20 Tagen sei er nach L. geschickt und dort 22 Tage
lang gefoltert worden. Später sei er nach J. zurückgekehrt, habe aber flüchten müssen,
nachdem Freunde verhaftet worden seien.
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Durch anwaltlichen Schriftsatz erklärte er weiter, er sei zusammen mit J. und T. L.
angeklagt worden. Nach der Verhaftung von 16 politischen Freunden im September
1990 habe er flüchten müssen.
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In der Anhörung bei dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
gab der Kläger an, er habe nach seiner Freilassung im Jahr 1983 ein Jahr lang
Meldeauflagen erfüllen müssen, anfangs einmal täglich, danach wöchentlich. Von 1983
bis 1988 sei er in J. politisch tätig gewesen und habe sich dann bei der DSIM engagiert.
Am 1. Mai 1989 sei er festgenommen und nach 20 Tagen nach L. geschickt worden; dort
habe man ihn mehr als einen Monat festgehalten und gefoltert. Im Januar 1990 seien
dann sechs Freunde festgenommen worden, die seinen Namen verraten hätten. Auch
seine Frau sei seinetwegen mitgenommen worden.
6
Durch Bescheid vom 21. Oktober 1991 lehnte die Beklagte diesen Asylantrag ab und
stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nicht vorlägen. Der Kläger
habe wechselnde und inhaltslose Angaben gemacht, so dass sein Vortrag unglaubhaft
sei. In dem gegen diesen Bescheid geführten Klageverfahren (VG Arnsberg, 8 K
1326/92.A) erklärte der Kläger in der mündlichen Verhandlung, er sei seit 1979 für die
TKP/ML aktiv gewesen und sowohl während seiner ersten als auch während der
zweiten Verhaftung 1982 und 1989 gefoltert worden. Im November 1990 seien 16
Freunde festgenommen worden, die seinen Namen angegeben hätten. In Deutschland
habe er sich umfassend exilpolitisch betätigt. Die Klage wurde durch Urteil vom 18.
Oktober 1993 abgewiesen, ein Antrag auf Zulassung der Berufung durch Beschluss des
OVG NRW vom 6. April 1994 abgelehnt (25 A 391/94.A).
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Durch anwaltlichen Schriftsatz vom 3. Mai 1994 stellte der Kläger einen Asylfolgeantrag.
Sein Cousin B. L. sei im Februar 1994 im Heimatdorf zu Besuch gewesen und dort
zweimal festgenommen und nach dem Kläger befragt worden. Außerdem habe der
Kläger im Februar 1994 den Zeugen B. V. getroffen, der eine Vorverfolgung bestätigen
könne, weil er zusammen mit dem Kläger im Polizeigewahrsam in L. gewesen sei.
Schließlich sei er nach dem Ende des ersten verwaltungsgerichtlichen Verfahrens
weiter exilpolitisch tätig gewesen. Auch der ehemalige Mitangeklagte T. L. sei
inzwischen in Deutschland und könne aussagen. Die Beklagte lehnte den Antrag auf
Durchführung eines Asylfolgeverfahrens durch Bescheid vom 17. Oktober 1994 ab. Der
Zeuge V. sei bereits im Erstverfahren angehört worden; die beiden anderen Zeugen
könnten einen schlüssigen Sachvortrag des Klägers nicht ersetzen. Der Sachvortrag zur
exilpolitischen Betätigung sei gleichfalls nicht ausreichend, da er lediglich nicht
exponierte Tätigkeiten betreffe. In dem gegen diesen Bescheid gerichteten
Klageverfahren führte der Kläger ergänzend aus, er habe die Verantwortung für mehrere
in der Zeitschrift Atilim erschienene Artikel übernommen und sei auch deshalb
gefährdet. Er habe diese Artikel selbst verfasst. Sie seien ohne Namensangabe
veröffentlicht worden; wegen ihres Inhalts seien Verfahren vor dem
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Staatssicherheitsgericht gegen die Zeitung eingeleitet worden. Im Rahmen dieser
Verfahren habe er über den türkischen Rechtsanwalt seine Urheberschaft offen gelegt,
um die Beschuldigten zu entlasten.
Durch Urteil des Verwaltungsgerichts Arnsberg vom 23. April 1996 (11 K 7071/94.A)
wurde die Beklagte auf Grund der Behauptung des Klägers, er sei Verfasser mehrerer
Artikel in "Atilim" und deshalb der türkischen Justiz bekannt geworden, zur
Durchführung eines Asylfolgeverfahrens verpflichtet. Nach Durchführung einer erneuten
Anhörung und der Vernehmung des Zeugen T. L. (20. August 1996) lehnte die Beklagte
durch Bescheid vom 30. Januar 1997 den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter
erneut ab, stellte jedoch fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorlägen. Zur Begründung führte sie aus,
der Kläger habe nicht glaubhaft gemacht, dass er vorverfolgt aus der Türkei ausgereist
sei; sein Vortrag sei auch bei der erneuten Anhörung inhaltslos und vage geblieben. Er
sei jedoch als Verfasser regimekritischer Artikel bekannt geworden; gegen ihn seien
Verfahren wegen seiner politischen Überzeugung eingeleitet worden. Der Bescheid
wurde dem Verfahrensbevollmächtigten des Klägers am 20. Februar 1997 zugestellt.
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Der Kläger hat am 22. Februar 1997 Klage erhoben und vorgetragen, seine
exilpolitische Tätigkeit sei Ausdruck einer schon im Heimatland erkennbar betätigten
Gesinnung. Er hat beantragt,
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die Beklagte unter teilweise Aufhebung des Bescheides vom 30. Januar 1997 zu
verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen.
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Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 24. Juni 1999 abgewiesen. Der
Kläger habe nicht konkret dargelegt, in welcher Weise und mit welchen Folgen er sich in
der Türkei politisch betätigt habe; Einzelheiten zu seinen Inhaftierungen und
Folterungen habe er nicht nennen können.
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Auf den Antrag des Klägers hat der Senat die Berufung durch Beschluss vom 12. Januar
2000 zugelassen.
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Der Kläger beantragt,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts Arnsberg vom 24. Juni 1999 abzuändern und die
Beklagte unter Aufhebung von Ziffer 1. des Bescheids vom 30. Januar 1997 zu
verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen.
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Der Kläger und der Zeuge L. sind in der mündlichen Verhandlung vom 6. März 2003
gehört worden. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird
Bezug genommen auf die Gerichtsakten dieses Verfahrens und auf die beigezogenen
Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes für den Kläger. Außerdem sind die folgende
Gerichts- und Verwaltungsakten beigezogen worden:
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- T. H. (Tochter des Klägers), Asylakte 2 341 209-163, OVG NRW, 8 A 3213/99.A; - T. H.
(Ehefrau des Klägers), Asylakte 2 341 175-163, OVG NRW, 8 A 3218/99.A.
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Entscheidungsgründe:
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Der Berichterstatter konnte im Einverständnis der Beteiligten zur Sache verhandeln und
entscheiden, obwohl kein Vertreter der Beklagten erschienen war, da diese mit der
Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 VwGO); der
Beteiligte hat allgemein auf Ladung verzichtet.
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Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers ist
begründet. Die Klage ist zulässig und begründet. Ziffer 1. des Bescheids des
Bundesamtes vom 30. Januar 1997 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen
Rechten; insoweit ist der Bescheid aufzuheben und das Urteil des Verwaltungsgerichts
abzuändern. Der Kläger hat auf seinen Asylfolgeantrag hin einen Anspruch auf
Anerkennung als Asylberechtigter aus Art. 16a Abs. 1 GG.
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Für den Kläger war auf seinen Antrag vom 3. Mai 1994 ein Asylfolgeverfahren
durchzuführen, § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG. Jedenfalls auf Grund
seines Vortrags zu einer journalistischen Tätigkeit für die Zeitschrift "Atilim", zu der
Einleitung von Strafverfahren wegen der Veröffentlichungen und Vorlage dreier
Ausgaben dieser Zeitschrift hatte der Kläger eine nachträgliche Änderung der Sachlage
zu seinen Gunsten glaubhaft und rechtzeitig geltend gemacht (vgl. Urteil des
Verwaltungsgerichts Arnsberg vom 23. April 1996, 11 K 7071/94.A, UA. S. 8ff.).
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Auf seinen Asylfolgeantrag hat der Kläger Anspruch auf Anerkennung als
Asylberechtigter, Art. 16a Abs. 1 GG. Er ist politisch verfolgt im Sinne dieser Vorschrift,
denn auf Grund seiner exilpolitischen Tätigkeit für die Zeitschrift "Atilim" droht ihm zum
Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 2 AsylVfG) bei einer Rückkehr in die
Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.
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Eine Verfolgung ist dann eine politische, wenn sie dem einzelnen in Anknüpfung an
seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn
unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen zufügt,
die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen
Einheit ausgrenzen.
25
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315 (333
ff.).
26
Beruht allerdings die Gefahr politischer Verfolgung auf Umständen, die der
Asylsuchende nach Verlassen seines Herkunftslandes aus eigenem Entschluss
geschaffen hat, so kann er nur dann als Asylberechtigter anerkannt werden, wenn dieser
Entschluss einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung
entspricht (§ 28 Satz 1 AsylVfG).
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Dabei ist es Sache des Asylbewerbers, die Gründe für seine Furcht vor politischer
Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten
einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung
ergibt, dass bei verständiger Würdigung politische Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass
der Asylbewerber zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu
seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den
behaupteten Asylanspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des
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Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des
Asylbewerbers berücksichtigen werden.
Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 21. Juli 1989 - 9 B 239.89 -, InfAuslR 1989, 349; vom 26.
Oktober 1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38 (39); vom 3. August 1990 - 9 B 45.90 -,
InfAuslR 1990, 344.
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Diese Anforderungen sind im vorliegenden Fall erfüllt.
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Aufgrund des Akteninhalts und nach eingehender Anhörung des Klägers und des
Zeugen L. in der mündlichen Verhandlung steht zur Überzeugung des Gerichts
zumindest folgender Sachverhalt fest:
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Der Kläger arbeitet jedenfalls seit 1995 ständig als freier Mitarbeiter für die Zeitschrift
"Atilim" (seit 1996 "Özgür Atilim"), eine der TKP/ML zuzuordnende legale, aber als
regierungsfeindlich angesehene Wochenzeitung. Er hat in dieser Zeitung in jüngerer
Zeit mehrere namentlich von ihm gezeichnete Artikel veröffentlicht sowie im Jahre 1995
eine Reihe von Artikeln, in denen er als Verfasser nicht genannt ist. Im Rahmen von in
der Türkei anhängigen Strafverfahren hat er eidesstattliche Versicherungen vorlegen
lassen, in denen er als Verfasser beanstandeter Artikel bezeichnet wird, so dass er den
türkischen Behörden namentlich bekannt geworden ist. Inhaltlich gehen seine Artikel
über Kundgebungen niedrigen Profils ohne Breitenwirkung hinaus. Sie beziehen
besondere Authentizität aus dem Umstand, dass sie zumindest teilweise auf eigenem
Erleben beruhen und sollen die öffentliche Meinung in Deutschland und in der Türkei im
Sinne einer Meinungsführerschaft beeinflussen. Diese Funktion wird dadurch
unterstützt, dass sich die publizistische Tätigkeit des Klägers nicht auf einen Artikel
beschränkt, sondern eine Reihe von - inzwischen auch namentlich gekennzeichneten -
Beiträgen umfasst und auf Grund dieser Kontinuität politisches Gewicht beanspruchen
kann; im übrigen wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf den Bescheid des
Bundesamtes vom 30. Januar 1997 verwiesen, der auf den vom Kläger vorgelegten
Unterlagen beruht. Diese exilpolitischen Tätigkeiten gehen auf den eigenen Entschluss
des Klägers zurück. Sie sind aber nicht als bloße Verfolgungsprovokation vom sicheren
Ort aus einzustufen, sondern gehen auf eine feste, bereits in der Türkei erkennbar
betätigte politische Überzeugung zurück. Der Kläger, der keine Schule besucht hat, hat
während und nach seiner Militärdienstzeit nachträglich Lesen und Schreiben gelernt,
zunächst in einer so genannten "B. -Schule" zur Alphabetisierung für Militärangehörige
und später im Dorf durch den Besuch einer Abendschule. Vor und nach dem
Militärputsch von 1980 hat er sich in der Türkei - jedenfalls in seiner engeren dörflichen
Umgebung - in vielfacher Weise politisch betätigt, etwa durch Hilfstätigkeit bei der
Aufführung politischer Theaterstücke, durch Verteilen von Publikationen und dadurch,
dass er für die jüngeren Kurden in politischer Hinsicht eine Vorbildrolle übernommen
und sie im Sinne seiner politischen Ausrichtung beeinflusst hat.
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Auf Grund dieser exilpolitischen Tätigkeit muss der Kläger mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit befürchten, bei einer Rückkehr in die Türkei in asylerheblicher
Weise befragt und misshandelt zu werden. Eine derartige Behandlung würde politische
Verfolgung darstellen, weil sie die politischen Meinungsäußerungen des Klägers zum
Anlass nähme und mithin an seine politische Überzeugung anknüpfen würde.
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Nach den dem Senat zur Verfügung stehenden und in die mündliche Verhandlung
eingeführten Erkenntnissen droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische
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Verfolgung wegen exilpolitischer Tätigkeit nur dann, wenn sich der Betreffende politisch
exponiert hat, wenn sich also seine Betätigung deutlich von derjenigen der breiten
Masse abhebt.
Hierzu und zum folgenden OVG NRW, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, A IV 2
c (S. 62ff.), jeweils m.w.N.
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Nur wer politische Ideen und Strategien entwickelt oder zu deren Umsetzung mit Worten
oder Taten von Deutschland aus maßgeblichen Einfluss auf die türkische Innenpolitik
und insbesondere auf seine in Deutschland lebenden Landsleute zu nehmen versucht,
ist aus der maßgeblichen Sicht des türkischen Staates ein ernst zu nehmender
politischer Gegner, den es zu bekämpfen gilt. Das ist beispielsweise bei denjenigen
exilpolitisch tätigen Asylsuchenden anzunehmen, die in der exilpolitischen Arbeit eine
auf Breitenwirkung zielende Meinungsführerschaft übernehmen. Dem türkischen Staat
kommt es weniger darauf an, jeder einzelnen Person habhaft zu werden, die
Äußerungen abgibt oder Aktivitäten zeigt, die nach türkischem Verständnis zu
missbilligen sind, sondern es sollen diejenigen beobachtet und bestraft werden, die zu
solchen Äußerungen und entsprechenden Aktivitäten anstiften und sie
öffentlichkeitswirksam organisieren.
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Die exilpolitische Betätigung durch Zeitschriftenpublikationen ist nach denselben
Maßstäben zu beurteilen. Als exponiert ist sie nur einzustufen, wenn sie als
Unterstützung illegaler Organisationen gewertet werden kann oder wenn sie erkennbar
auf breitenwirksame Meinungsbildung zielt. Die Schwelle zu einer geistigen
Beeinflussung anderer Bevölkerungsteile, die Beweggrund für und
Abgrenzungskriterium bei der Überwachung und Verfolgung exilpolitischer Aktivitäten in
der Bundesrepublik ist, wird nur von demjenigen überschritten, der als Anstifter oder
Aufwiegler angesehen wird oder der in einer Zeitschrift häufiger Beiträge zu
verantworten hat, die aus Sicht der Sicherheitsbehörden gefährlich sind.
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Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 24. August 2001 an VG Sigmaringen; Auskünfte
vom 1. März 2001, 10. April und 21. September 2001 an VG Schleswig; Auskunft vom 4.
Juni 1999 an VG Bremen; Auskunft vom 15. Juli 1997 an VG Karlsruhe; Auskunft vom
12. September 1997 an VG Ansbach; Zentrum für Türkeistudien, Gutachten von
September 2001 und Auskunft vom 1. November 2001 an VG Schleswig; Oberdiek,
Gutachten vom 28. Mai 2001 an VG Sigmaringen; teilweise abweichend Kaya,
Gutachten vom 15. Juni 2001 an VG Sigmaringen; Gutachten vom 24. August 2001 an
VG Stade; Gutachten vom 19. Juni 1997 an VG Karlsruhe; Gutachten vom 8. August
1997 an VG München; Taylan, Auskunft vom 30. April 1997 an VG Karlsruhe;
Tellenbach, Auskunft vom 18. Juli 1997 an VG Aachen; Auskunft vom 19. September
1997 an VG Aachen; Auskunft vom 20. Oktober 1997 an VG Karlsruhe.
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Nach diesen Maßstäben ist die Tätigkeit des Klägers als exponiert einzustufen. Dass
die von ihm verantworteten Artikel über die Schwelle niedrig profilierter Betätigung
hinausreichen, ergibt sich schon aus dem Umstand, dass sie Anlass für Strafverfahren
in der Türkei geworden sind. Dies ist - nach den vom Kläger in der mündlichen
Verhandlung vor dem Berichterstatter glaubhaft abgegebenen Schilderung wesentlicher
Inhalte der Publikationen - auch plausibel. Der Kläger geht von eigenen Erlebnissen
aus, die er zur Grundlage von allgemeinen Angriffen auf die Sicherheitskräfte macht und
in verallgemeinernder Form dazu nutzt, Aktions- bzw. Reaktionsmöglichkeiten
aufzuzeigen. Diese Inhalte und Darstellungsformen - publiziert in einer der TKP/ML
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zugeordneten Zeitschrift - können von den türkischen Sicherheitskräften als Anstiftung
zu einer linksextremen staatsfeindlichen Haltung und Aufwieglung zu einem dieser
Haltung entsprechenden Verhalten gedeutet werden. Die faktischen Umstände, die zu
dieser Einschätzung führen, bestehen zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77
Abs. 2 AsylVfG) fort; Anzeichen dafür, dass sich dies nach den Parlamentswahlen im
November 2002 geändert haben könnte, liegen dem Senat bisher nicht vor.
Zweifel an der Glaubhaftigkeit der vom Kläger abgegebenen Schilderung bestehen
nicht. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger durch den Inhalt seiner Aussage,
aber auch durch sein Aussageverhalten überzeugend deutlich gemacht, dass er sich in
unabweisbar zwingender Weise verpflichtet sieht, über seine Erlebnisse und
Einschätzungen des Schicksals der Kurden zu berichten und die Öffentlichkeit auch für
seine Vorstellungen über die Zukunft der "kurdischen Sache" zu suchen. Besonders
eindrucksvoll hat er über seine Versuche berichtet, erst als junger Erwachsener ohne
jede Schulbildung schreiben und lesen zu lernen, um dem von ihm als moralische
Verpflichtung empfundenen Auftrag nachkommen zu können, die Öffentlichkeit auf
möglichst effektive Weise zu informieren und zu beeinflussen. Die von ihm in diesem
Zusammenhang geschilderten Einzelheiten, aber auch die - offenbar unbewusst -
geäußerten Gefühle sind starke Indizien dafür, dass der Kläger eigene Erlebnisse
geschildert hat und sich auch tatsächlich in der von ihm dargestellten Weise als
Verfasser kritischer Artikel in "Atilim" betätigt hat. Dafür spricht neben den bereits
genannten Umständen auch die - mit seinem zurückhaltenden Auftreten während
anderer Teile der mündlichen Verhandlung stark kontrastierende - Lebhaftigkeit, mit der
der Kläger über den Inhalt der von ihm verfassten Artikel, aber auch über die Reaktion
von Familienmitgliedern auf seine politische Tätigkeit in der Türkei berichtete. Auch die
Schilderungen über Erniedrigungen, die der Dorfbevölkerung - und ihm selbst - von
Soldaten zugefügt worden sind, waren detailliert und von atmosphärischer Dichte.
Dasselbe gilt für den Bericht des Klägers über seine Aktivitäten im Rahmen der
Aufführung politischer Theaterstücke unmittelbar vor dem Militärputsch im Jahre 1979.
Schließlich hat der Kläger dem Gericht auch den Eindruck vermittelt, seine
Grundeinstellungen unbedingt auch an seine Kinder zu vermitteln; auch dies unterstützt
den Eindruck eines Menschen, der ein gewisses politisches Sendungsbewusstsein hat
und dies mit den Mitteln der geistigen Auseinandersetzung möglichst wirksam umsetzen
möchte.
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Bestätigt wird diese Einschätzung durch die - glaubhafte - Aussage des Zeugen, der
den um über zehn Jahre älteren Kläger als vorbildhaften "älteren Bruder" geschildert
hat, der den jüngeren moralische Maßstäbe gerade für die politische Betätigung
vermittelt habe und den er nach dessen Militärzeit immer mit einem "Stift in der Hand"
gesehen habe. Der Umstand, dass der Zeuge offen angegeben hat, welche Ereignisse
er aus eigener Anschauung wiedergeben konnte und über welche er nur aus
Schilderungen Dritter berichtete, spricht ebenfalls dafür, dass seine Aussage glaubhaft
ist.
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Der Umstand, dass die Schilderungen des Klägers zu einer von ihm geltend gemachten
Vorverfolgung in seinen Asylverfahren mehrfach als unglaubhaft eingestuft worden ist,
stellt die Annahme, dass er in der Türkei eine feste politische Einstellung hatte und
diese auch erkennbar betätigt hat, nicht in Frage. Zwar ist nicht zu verkennen, dass der
Vortrag des Klägers zu seinem Vorfluchtschicksal von einzelnen Widersprüchen und
insgesamt von einer gewissen Detailarmut gekennzeichnet ist; so hat er die
fluchtauslösende Verhaftung von 16 Freunden zeitlich widersprüchlich (September,
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November, Januar) eingeordnet und Einzelheiten zu seinen Aktivitäten in J. nur in
geringem Ausmaß geschildert. Deshalb ist die Behauptung des Klägers, er sei vor
seiner Ausreise aus der Türkei in asylbegründender Weise von den Sicherheitskräften
behandelt worden, zweifelhaft. Seine Anhörung in der mündlichen Verhandlung vor dem
Berichterstatter des Senats hat jedoch zur Überzeugung des Gerichts ergeben, dass der
Kläger jedenfalls in seiner engeren dörflichen Umgebung als politisches Vorbild für die
jüngeren Kurden angesehen wurde und sich in gewissem Umfang - durch
Hilfestellungen bei politischen Theateraufführungen und Propagandatätigkeiten - auch
politisch betätigt hat. Dass diese Betätigung nicht das hervorgehobene Gewicht erreicht
haben mag, das der Kläger im Zusammenhang mit einer behaupteten Vorverfolgung für
sich in Anspruch genommen hat, macht die diesbezüglichen Angaben des Klägers und
des Zeugen jedoch nicht unglaubhaft. Die Unglaubhaftigkeit der Angaben des Klägers
zu Ereignissen in J. , zu Verhaftung und Folter rechtfertigt angesichts der
überzeugenden und detailreichen Schilderung seiner politischen Betätigung "im
Kleinen" nicht die Einschätzung, dass alle seine Angaben zu seinen Lebensumständen
und Aktivitäten in der Türkei unterschiedslos unglaubhaft seien.
Der Behauptung des Klägers, die Türkei vorverfolgt verlassen und schon aus diesem
Grund einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter zu haben, muss nicht mehr
nachgegangen werden, da der Kläger, wie ausgeführt, diesen Anspruch bereits auf
seine exilpolitischen Tätigkeiten stützen kann.
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Die für den Kläger bestehende beachtliche Wahrscheinlichkeit, wegen seiner
exilpolitischen Aktivitäten in der Türkei nach einer Rückkehr dorthin politisch verfolgt zu
werden, bezieht sich auf die gesamte Türkei. Angesichts der landesweiten Verbreitung
der Zeitschrift "Atilim" wäre die Annahme, dem Kläger drohe Verfolgung nur innerhalb
seiner Heimatregion, nicht gerechtfertigt. Vielmehr besteht für den Kläger die ernst zu
nehmende Gefahr, dass er bei einer routinemäßigen Kontrolle auch in den Großstädten
der westlichen Türkei festgenommen und in asylrelevanter Weise
menschenrechtswidrig behandelt werden könnte.
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Art. 16a Abs. 2 GG, § 26 a AsylVfG stehen einer Anerkennung des Klägers als
Asylberechtigter nicht entgegen, da der Kläger schon im Jahre 1991 und damit vor
Inkrafttreten jener Vorschriften in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist.
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Der Kläger hat auch einen Anspruch auf Aufhebung von Ziffer 1. des Bescheides des
Bundesamtes vom 30. Januar 1997. Dies ergibt sich aus den vorstehenden
Ausführungen zum Asylanspruch des Klägers.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b Abs. 1 AsylVfG. Der
Ausspruch über ihre vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708
Nr. 10, 711 ZPO.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO
nicht gegeben sind.
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