Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 21.05.2002

OVG NRW: grundstück, wohnhaus, nachbar, selbsthilfe, gebäude, halle, upr, interessenabwägung, defizit, industriebetrieb

Oberverwaltungsgericht NRW, 7 A 895/02
Datum:
21.05.2002
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
7. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
7 A 895/02
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Minden, 1 K 1062/00
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich
der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen als Gesamtschuldner.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 10.000,-- EUR
festgesetzt.
G r ü n d e :
1
Der zulässige Antrag ist unbegründet.
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Aus den von den Klägern mit dem Zulassungsantrag dargelegten Gründen ergeben sich
die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung nicht.
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Die Kläger behaupten ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils
(Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Das Vorhaben der Beigeladenen
sei mit dem von § 34 Abs. 1 BauGB umfassten Gebot der Rücksichtnahme zu ihren
Lasten nicht vereinbar. Der Betrieb der Beigeladenen sei bei typisierender
Betrachtungsweise ein Industriebetrieb, der wegen seines hohen Störungsgrades mit
der angrenzenden Wohnnutzung nicht vereinbar sei. Den Klägern ist einzuräumen, dass
es für die Frage, ob sich ein Bauvorhaben hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung in
die nähere Umgebung einfügt, grundsätzlich auf eine typisierende Betrachtung
ankommt.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 3. April 1987
5
- 4 C 41.87 -, BRS 47 Nr. 63.
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Fügt sich ein Vorhaben bei typisierender Betrachtung nicht in die Eigenart der näheren
Umgebung ein, folgt daraus entgegen der Annahme der Kläger jedoch nicht zugleich
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zwingend eine Verletzung des von § 34 Abs. 1 BauGB umfassten Gebots der
Rücksichtnahme. Eine schutzwürdige Abwehrposition, die bei der vom Gebot der
Rücksichtnahme geforderten Abwägung der beiderseitigen Interessen
ausschlaggebend sein könnte, erlangt der Nachbar nicht allein dadurch, dass die auf
seinem Grundstück verwirklichte Nutzung baurechtlich zulässig, das auf dem anderen
Grundstück genehmigte Vorhaben dagegen unzulässig ist. Aus dem Grundsatz, dass
demjenigen, der sein Grundstück in einer an sich zulässigen Weise baulich nutzt,
insofern ein Vorrang zugestanden werden muss, als er berechtigte Interessen nicht
zurückzustellen braucht, um fremde Interessen zu schonen, folgt allein noch nicht das
Recht, ein objektiv-rechtlich unzulässiges anderes Vorhaben, das tatsächliche
Nachteile für den Nachbarn zur Folge haben kann, abzuwehren. Ist der Nachbar, der
sich gegen ein Vorhaben zur Wehr setzt, nicht in der Lage, eine der Rücksichtnahme
bedürftige Position aufzuzeigen, so kann er dieses Defizit nicht dadurch ausgleichen,
dass er die zur objektiv-rechtlichen Unzulässigkeit des Vorhabens führende
Beeinträchtigung eines öffentlichen Interesses, aus der allein ihm kein Abwehrrecht
erwächst, ins Feld führt und mit sonstigen für ihn nachteiligen Folgen des Vorhabens zu
einer subjektiven Rechtsverletzung gleichsam aufwertet.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Oktober 1993
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- 4 C 5.93 -, BRS 55 Nr. 168.
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Die nach Maßgabe der Anforderungen des Gebots der Rücksichtnahme erforderliche
Abwägung einerseits der für das Vorhaben der Beigeladenen sprechenden Interessen
mit den konkret betroffenen Interessen der Kläger hat das Verwaltungsgericht
vorgenommen. Die Richtigkeit seiner Abwägung wird durch den Vortrag der Kläger nicht
ernstlich in Frage gestellt. Insbesondere besteht kein Anhalt für die Annahme, das
Verwaltungsgericht habe das Gewicht der Interessen der Kläger verkannt. Die Kläger
weisen auf die ihnen vor vielen Jahren für das Wohnhaus erteilte Baugenehmigung hin.
Das Verwaltungsgericht hat jedoch nicht nur auf die Rechtsposition abgehoben, die sich
aus einer einzelnen Baugenehmigung ergeben kann, sondern (insoweit zugunsten der
Kläger) angenommen, ihr Wohnhaus stünde in einem Bereich, der überwiegend oder
ausschließlich durch Wohnnutzung gekennzeichnet sei (Seite 8 Abs. 3 des
Urteilsabdrucks). Das Verwaltungsgericht hat ferner die vorhandenen Gebäude des
Betriebs der Beigeladenen in Übereinstimmung mit dem Vortrag der Kläger Seite 4 ihres
Schriftsatzes vom 5. April 2002 bereits im Tatbestand des angefochtenen Urteils
wiedergegeben (vgl. Seite 2 des Urteilsabdrucks). In die Interessenbewertung hatte das
Verwaltungsgericht ferner die baulichen Gegebenheiten auf dem Grundstück der Kläger
einzustellen, selbst wenn die Kläger - wie sie vortragen - Baumaßnahmen verwirklicht
haben sollten, um sich gegenüber dem Betrieb der Beigeladenen zu schützen. Es gibt
keinen Grundsatz, die architektonische Selbsthilfe eines Nachbarn dürfe bei der vom
Gebot der Rücksichtnahme geforderten Interessenabwägung nicht (im Ergebnis auch zu
Lasten des Nachbarn) eingestellt werden. Vielmehr können - je nach Lage des
Einzelfalls - zumutbare Maßnahmen architektonischer Selbsthilfe gefordert sein, bevor
ein Abwehranspruch aus dem in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltenen Gebot der
Rücksichtnahme in Betracht zu ziehen ist.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. September 1999
11
- 4 C 6.98 -, BRS 62 Nr. 86.
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Letztlich setzen die Kläger mit dem Zulassungsantrag ihre eigene Bewertung an die
Stelle des Verwaltungsgerichts; ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der
Interessenbewertung des Verwaltungsgerichts ergeben sich hieraus nicht.
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Die Kläger sehen die Rechtssache als tatsächlich besonders schwierig an
(Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO), da "eine Ortsbesichtigung nach
der mündlichen Verhandlung (ergeben habe), dass im nördlichen Bereich ... inzwischen
ein etwa 25 m hoher Spänebunker sowie eine neue Halle entstanden seien." Auch sei
die "Geräuschentwicklung ... mit der Errichtung dieser baulichen Anlagen erheblich
gestiegen." Weshalb es auf diese Umstände in dem gegen die Baugenehmigung vom
27. Mai 1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. Februar 2000
gerichteten Klageverfahren entscheidungserheblich ankommen sollte, geht aus dem
Zulassungsantrag nicht hervor.
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Die Kläger behaupten die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache
(Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) im Hinblick auf folgende Fragen:
"Wo liegen die Grenzen des Gebotes der gegenseitigen Rücksichtnahme? Welche
Bedeutung hat im vorliegenden Fall der Trennungsgrundsatz? Sind die Grundsätze der
typisierenden Betrachtungsweise verletzt? Erreicht die geplante Baumaßnahme unter
Berücksichtigung der bereits vorhandenen Hallenbauten für die Kläger den Umfang
einer erdrückenden Wirkung?" Aus diesen aufgeworfenen Fragen ergibt sich die
grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht, denn sie führen über den
streitgegenständlichen Einzelfall nicht hinaus.
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Das Urteil des Verwaltungsgerichts weicht schließlich nicht von den Entscheidungen
des Oberverwaltungsgerichts vom 25. September 1995 - 11 B 2195/95 -, BauR 1996,
222 = BRS 57 Nr. 94 und vom 22. November 1991 - 11 B 2890/91 -, UPR 1992, 274 ab.
Zum einen kommt es auf die von den Klägern mit der erstgenannten Entscheidung
erneut angesprochene typisierende Betrachtungsweise hier - wie dargelegt - im
Ergebnis nicht an, zum anderen ist der von den Klägern mit der zweitgenannten
Entscheidung angesprochene Fall der erdrückenden Wirkung einer baulichen Anlage
mit dem hier zu beurteilenden Sachverhalt nach den maßgebenden Umständen des
Einzelfalls nicht vergleichbar.
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Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2, 159 Satz 2, 162 Abs. 3 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung stützt sich auf § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.
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Mit der Ablehnung des Antrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig
(vgl. § 124 a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
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